Wenn sich die Umfragen nicht völlig getäuscht haben, dann leitet die italienische Parlamentswahl vom morgigen Sonntag ein weiteres Stadium der Krise und Instabilität der Europäischen Union ein.
Keine Partei und kein Wahlbündnis kann mit einer regierungsfähigen Mehrheit rechnen. Dafür wären nach dem erstmals angewandten Wahlrecht, das ein Drittel der Sitze an die Erstplatzierten in den Wahlkreisen und zwei Drittel an die Wahllisten vergibt, etwa 42 Prozent der Stimmen erforderlich.
Am nächsten kommt diesem Ziel mit 38 Prozent das rechte Wahlbündnis des dreifachen Ex-Premiers Silvio Berlusconi, dem neben seiner eigenen Forza Italia die rechtsextreme Lega und die faschistischen Fratelli d’Italia angehören. Diese Parteien sind aber selbst heftig zerstritten, so dass sie selbst mit einer Parlamentsmehrheit kaum eine stabile Regierung bilden könnten.
Stärkste Einzelpartei ist laut Umfragen mit knapp 30 Prozent die vom Komiker Beppe Grillo gegründete Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), die keine Bündnispartner hat. Die bisher regierenden Demokaten (PD) kommen nur noch auf 22 Prozent, eine Abspaltung von den Demokraten, die Freien und Gleichen (LeU), auf weitere 5 Prozent.
Am selben Tag, an dem in Deutschland das Ergebnis der Mitgliederbefragung der SPD bekannt gegeben wird, das eine seit fünfeinhalb Monaten dauernde Regierungskrise beenden könnte, droht damit Italien in eine noch tiefere Krise zu versinken. Mit 61 Millionen Einwohnern ist das Land nach dem Ausscheiden Großbritanniens die drittgrößte Volkswirtschaft der EU.
Angesichts der hohen Verschuldung – mit 130 Prozent des BIPs verfügt Italien über die höchsten Staatsschulden nach Griechenland und seine Banken sitzen auf dem höchsten Berg fauler Kredite in Europa – könnte eine längere Regierungskrise sehr rasch das gesamte europäische Finanzsystem destabilisieren. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte deshalb, man müsse sich „auf das schlimmste Szenario“ vorbereiten.
Eigentlicher Kern der Krise ist aber nicht die politische Zersplitterung des zukünftigen Parlaments, sondern die soziale Polarisierung des Landes, die im Parteiensystem nur einen höchst verzerrten und bösartigen Ausdruck findet.
Das Anwachsen von Armut und prekären Arbeitsverhältnissen, das alle europäischen Länder kennzeichnet und breite Teile der Arbeiterklasse und auch der Mittelschichten trifft, nimmt in Italien besonders krasse Formen an. Während das Bruttoinlandsprodukt in der gesamten EU in den letzten zehn Jahren nominell um 8,4 und in Deutschland um 12,3 Prozent zunahm, sank es in Italien um 5,4 Prozent. Der Mehrheit der Bevölkerung geht es heute deutlich schlechter als vor zehn Jahren. Die offizielle Arbeitslosenrate legt bei 11 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit über 30 Prozent.
Das ist der Grund für den Niedergang der Demokratischen Partei. Die PD, die ursprünglich aus der Kommunistischen Partei hervorging und einen Teil der ehemaligen Christdemokraten aufnahm, hat in enger Zusammenarbeit mit den Brüsseler EU-Behörden die Zerschlagung erkämpfter Rechte, die Senkung der Renten und die Kürzung der Sozialausgaben organisiert. Ihr Spitzenkandidat Matteo Renzi, der als selbsternannter „Verschrotter“ der alten Eliten einen kurzen Popularitätsaufschwung erlebt hatte, gehört heute zu den meistgehassten Politikern Italiens.
Die PD teilt das Schicksal anderer sozialdemokratischer Parteien – der griechischen Pasok, die innerhalb von sechs Jahren von 44 auf sechs Prozent der Stimmen abstürzte; der französischen Sozialisten, die in fünf Jahren von der stärksten Partei des Landes auf 7 Prozent absackten; der holländischen Partei der Arbeit, die letztes Jahr noch 6 Prozent der Stimmen erhielt; und der deutschen SPD, die im September letzten Jahres mit 20 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte erzielte.
Die sozialdemokratischen Parteien, die einst mittels sozialer Reformen und Zugeständnisse für die Stabilität der kapitalistischen Gesellschaft sorgten, haben sich unter den Bedingungen der Globalisierung, der Krise des internationalen Finanzsystems und wachsender imperialistischer Konflikte in die rabiatesten Verfechtern von Austerität, Staatsaufrüstung und Krieg verwandelt. Das ist der Grund für ihren Niedergang.
Weil die sozialen Interessen der Arbeiterklasse im bestehenden Parteiensystem keinen unabhängigen politischen Ausdruck finden, nimmt dieser Prozess äußerst rechte, widerliche und abstoßende Formen an. Das prägte den italienischen Wahlkampf.
Zentrales Thema war eine üble Hetze gegen Flüchtlinge. Während die Rechten offen ihre faschistische Gesinnung zur Schau stellten, die Deportation einer halben Million Flüchtlinge ankündigten und einen Faschisten verteidigten, der im Städtchen Macerata wahllos auf Migranten geschossen hatte, spielten sich die Demokraten als Partei auf, die die Grenzen am wirkungsvollsten abschotten und Flüchtlinge an der Einreise nach Europa hindern kann.
Hinter diesem widerlichen Spektakel bereiten sich heftige soziale Explosionen vor. Der Klassenkampf, der von der Sozialdemokratie, den Gewerkschaften und den mit ihnen verbündeten pseudolinken Gruppen lange Zeit erstickt wurde, bricht sich international wieder Bahn. Die Rebellion der Lehrer von West-Viriginia (USA), die seit Tagen gegen den Willen ihrer Gewerkschaftsführer streiken, ist ein Meilenstein in dieser Entwicklung.
Auch in Europa häufen sich Arbeitskämpfe gegen Lohn- und Arbeitsplatzabbau und unerträgliche Arbeitsbedingungen. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf Italien, das eine lange Tradition militanter Arbeitskämpfe hat. Schon vor zwei Jahren war es zu heftigen Streiks und Protesten gegen den Jobs Act der Regierung Renzi gekommen.
Angesichts dieser Entwicklung rücken alle Parteien enger zusammen. Die Fünf-Sterne-Bewegung, die aufgrund ihrer wütenden Tiraden gegen die Korruption der etablierten Parteien Unterstützung gewann und bisher jede Zusammenarbeit mit ihnen ablehnte, hat ihre Bereitschaft erklärt, eine Koalitionsregierung einzugehen und sich von ihrer Anti-EU-Rhetorik verabschiedet.
Ihr Spitzenkandidat, der 31-jährige Luigi de Maio, sprach vor Studenten in Harvard, Bankern in London und Unternehmern in Norditalien und versicherte ihnen, seine Partei werde die faulen Kredite der italienischen Banken rasch abbauen, auf das angekündigte Referendum über den Euro verzichten und mit den anderen Parteien zusammenarbeiten, damit Italien nicht „ins Chaos stürze“.
Auch Berlusconi und Renzi, die schon bei der Verabschiedung des neuen Wahlgesetzes eng zusammenarbeiteten und sich gegenseitig schätzen, haben die Möglichkeit einer gemeinsamen Regierung ins Spiel gebracht.
Berlin und Paris reagieren auf die Krise in Italien, indem sie die Verwandlung der Europäischen Union aus einem ökonomischen in ein Militärbündnis vorantreiben, das eine globale Großmachtpolitik verfolgt, eine eigene Armee aufbaut und den Polizei- und Überwachungsapparat aufrüstet, um den Klassenkampf zu unterdrücken. Das ist der Kern des Koalitionsvertrags der neuen deutschen Regierung, die in den nächsten Tagen die Amtsgeschäfte übernimmt, falls die SPD-Mitglieder ihn nicht ablehnen.
Für diese Politik, die auch die meisten italienischen Parteien befürworten, gibt es in der Bevölkerung kaum Unterstützung. Sie wird zu heftigen politischen Konflikten und Klassenkämpfen führen. Diese Kämpfe brauchen eine politische Perspektive. Sie können nur erfolgreich sein, wenn sie sich unabhängig von den Parteien der herrschenden Klasse und ihren Handlangern in den Gewerkschaften und pseudolinken Organisationen entwickeln.
Die Arbeiterklasse muss sich international zusammenschließen und für eine sozialistische Perspektive kämpfen, die den Widerstand gegen Krieg, Faschismus und Staatsaufrüstung mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verbindet. Dafür treten das Internationale Komitee der Vierten Internationale und seine Sektionen ein.