Verheerende Armut in Polen

Die NGO Szlachetna Paczka (Nobles Paket), die armen Familien während der Weihnachtsfeiertage hilft, dokumentiert in einem Bericht vom Dezember 2016 die schlimme Armut in Polen. Der Bericht basiert auf der Arbeit und den Erfahrungen von Volontären der Organisation.

Seit der Gründung von Szlachetna Paczka im Jahr 2001 haben nach eigenen Angaben fast 112.000 Familien ihre Hilfe in Anspruch genommen. Allein im Jahr 2015 kamen 20.000 hinzu. Der Bericht wirft ein Schlaglicht auf die miserablen Lebensbedingungen breiter Schichten der Arbeiterklasse und der bäuerlichen Bevölkerung, denen ein Vierteljahrhundert nach der Einführung kapitalistischer Verhältnisse der Zugang zu Grundelementen des zivilisierten Lebens verwehrt bleibt.

Die Lebensbedingungen von Millionen erinnern eher an die Lage der Arbeiterklasse im England der Frühindustrialisierung im 19. Jahrhundert, als an das 20. oder das 21. Jahrhundert. Im Unterschied zu anderen Armutsberichten besteht dieser nicht nur aus Zahlen, sondern bietet anhand mehrerer Einzelbeispiele einen Einblick in die Entbehrungen im alltäglichen Leben.

Szlachetna Paczka hat die Situation von Bevölkerungsgruppen untersucht, die besonders von Armut betroffen sind: kranke Rentner, vielköpfige Familien (mit mehr als einem Kind) und Familien mit nur einem Elternteil, sowie Familien, in denen ein oder mehrere Mitglieder ernsthaft krank sind.

Die Ergebnisse zeichnen ein verheerendes Bild. Jeder dritte kranke Rentner in Polen kann am Tag maximal 7 Zloty ausgeben (etwa 1,60 Euro), um sich nicht zu verschulden. Jede zweite Familie mit mehr als einem Kind hat Probleme mit der Bezahlung von Rechnungen und Schulden. Jede fünfte Familie mit mehreren Kindern lebt zusammen in nur einem Zimmer. Jede sechste vielköpfige Familie hat kein eigenes Bad. 60 Prozent der vielköpfigen Familien müssen ein langfristiges Darlehen abzahlen. 15 Prozent der Familien mit einem ernsthaft kranken oder behinderten Mitglied bleiben am Tag nur 1,6 Zloty (etwa 36 Cent) pro Person. Damit kann man in Polen nicht einmal einen Laib Brot kaufen.

Die Befragten litten häufig unter der fehlenden Möglichkeit, sich zu entspannen und auszuruhen, und einem mangelnden Selbstwertgefühl. Insbesondere ältere und kranke Menschen leiden zudem an Vereinsamung.

Unter alten Menschen, die von der mageren staatlichen Rente leben müssen, nimmt das Elend besonders empörende Formen an.

Eine 83-jährige Dame, Pani Zofia, muss 300 Zloty im Monat für Medikamente ausgeben und hat so nur genug Geld, um für zwei Stunden Heizung am Tag zu zahlen. Ein älterer Herr, Pan Kazimierz, leidet an Kehlkopfkrebs und musste deswegen noch vor dem offiziellen Renteneintrittsalter seine Arbeit aufgeben. Deswegen lebt er nun von staatlicher Unterstützung in Höhe von gerade mal 600 Zloty im Monat (etwa 136 Euro). Auf dem Amt erklärte man ihm: „Die Rente kriegen Sie dann im Himmel.“

Eine ältere Dame, Pani Czesia, ist nach dem Selbstmord ihres Mannes mit über 5000 Zloty (ca. 1140 Euro) verschuldet. Der Sohn leidet an einer psychischen Krankheit und befindet sich in der Psychiatrie. Zum Frühstück nimmt sie eine Scheibe Brot und ein Glas Milch zu sich – beides bekommt sie von der Nachbarin.

Einem alleinstehenden Mann, der seit seinem 21. Lebensjahr körperlich schwer behindert ist, stehen im Monat weniger als 700 Zloty (etwa 175 Euro) zur Verfügung. Das reicht kaum für Grundnahrungsmittel, Rechnungen und Hilfeleistungen von Nachbarn.

Besonders von Armut betroffen sind vielköpfige Familien und Familien mit nur einem Elternteil. In Polen lebten im Jahr 2014 nach offiziellen Angaben 1,4 der 8,9 Millionen Kinder und jungen Menschen unter 24 in Armut. Damit hat mindestens jedes fünfte Kind keine warme Mahlzeit am Tag, keine Bücher, Spielzeuge, neue Kleidung oder Zugang zu Zahnärzten – von Urlaub ganz zu schweigen.

Der Bericht zitiert den Fall einer alleinerziehenden Mutter von drei Kindern, die in einem abgelegenen Dorf auf dem Land lebt. Der jüngste Sohn kann seit einem Stromschlag weder laufen noch sprechen. Um die Familie zu ernähren, muss die Mutter stricken und Pilze sammeln.

Einige Familien mit mehr als einem Kind wurden auch befragt, welchen Einfluss das Programm 500+ der Regierung auf ihre finanzielle Lage habe. Das Programm 500+ wurde von der derzeitigen Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) eingeführt, um den extremen sozialen Unmut zumindest teilweise zu dämpfen und die Arbeiterklasse und bäuerliche Bevölkerung angesichts der rasanten Kriegsvorbereitungen und des Aufbaus eines Polizeistaates zu neutralisieren.

Es sieht vor, dass Familien ab dem zweiten Kind ein Kindergeld von je 500 Zloty (etwa 113 Euro) im Monat erhalten. Der Bericht zeigt, dass selbst diese magere Aufstockung solchen Familien eine gewisse Erleichterung verschafft, der Alltag für sie jedoch ein täglicher Kampf um die Existenz bleibt.

In einer der angeführten Familien muss die Mutter nach dem Tod ihres Mannes fünf Kinder alleine großziehen. Eines davon ist schwer krank. Sie schlafen alle in einem Bett, „damit es warm ist“ – Heizung kann sich die Familie nicht leisten. Die zusätzlichen 500 Zloty ermöglichen es der Mutter, die Kinder auf Ausflüge der Schule zu schicken. Die Medikamente für ihr krankes Kind kann sie jedoch immer noch nur mit Mühe bezahlen.

Die Beispiele, die der Bericht von Szlachetna Paczka dokumentiert, reflektieren die soziale Wirklichkeit von Millionen arbeitenden Menschen in Polen, das immer noch eines der ärmsten Länder Europas ist. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag hier 2013 mit 13.349 Euro etwa drei Mal niedriger als im benachbarten Deutschland mit 45.000 Euro. Polen liegt damit noch hinter Ländern wie Russland, Kroatien, Griechenland oder Chile.

Die anhaltende Armut hat seit 1989 mehr als drei Millionen Polen in die Emigration getrieben. Die meisten von ihnen arbeiten ebenfalls zu geringen, aber immer noch besseren Löhnen in Deutschland oder Großbritannien. Dennoch beträgt die offizielle Arbeitslosigkeit in Polen knapp 8 Prozent.

Laut Angaben der offiziellen Statistikbehörde GUS lebten 2015 in Polen 7,4 Prozent der Menschen in extremer Armut mit einem Einkommen von weniger als 545 Zloty (125 Euro) im Monat. Darunter befanden sich 14,7 Prozent der Bauern, 9 Prozent der Familien mit drei Kindern und 18,1 Prozent der arbeitenden Familien mit vier oder mehr Kindern. Weitere 16,2 Prozent der Menschen lebten laut GUS in relativer Armut, was bei einer vierköpfigen Familie bedeutet, dass sie weniger als 2056 Zloty (468 Euro) im Monat zur Verfügung hat.

Zahlen des Instituts für Arbeit und Soziale Fragen (IPiSS), die von einem etwas höheren, aber immer noch niedrigen sozialen Existenzminimum von 1080 Zloty (etwa 245 Euro) pro Person und 2915 Zloty (663 Euro) für eine vierköpfige Familie im Monat ausgehen, ergänzen dieses Bild. Im Jahr 2015 lebten 42,7 Prozent der Polen unterhalb dieser sehr niedrigen Standards. Das entspricht etwa 16 Millionen Menschen. Diese umfassen laut dem IPiSS 64,9 Prozent der Bauern (in Polen leben immer noch rund 40 Prozent der Bevölkerung auf dem Land), 55,4 Prozent der invaliden Rentner und 41,9 Prozent der Arbeiter.

Auch die soziale Kluft zwischen Stadt und Land ist in Polen sehr tief. So leben in Großstädten wie Warschau, Danzig oder Krakau – den Zentren der kulturellen und politischen Elite und der Mittelschichten des Landes – nur knapp über ein Prozent der Bevölkerung nach offiziellen Angaben in extremer Armut, wohingegen es auf dem Land über 11 Prozent sind.

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