Die Regierung in Warschau fördert eine Revision der Geschichte, die die polnische Beteiligung an antisemitischen Verbrechen herunterspielt. Im Zentrum der Kampagne der rechtskonservativen Regierung steht das Pogrom von Jedwabne, einem Dorf im Nordosten Polens. Dort brachten im Sommer 1941 polnische Antisemiten mit Zustimmung der deutschen Besatzer über 350 Juden um.
Bildungsministerin Anna Zalewska behauptete in einem Fernsehinterview, ihr sei nicht klar, wer für das Pogrom in Jedwabne sowie für das Pogrom in Kielce im Sommer 1946 verantwortlich sei. Kurz zuvor hatte auch Jarosław Szarek, der neue Direktor des Instituts für Nationale Erinnerung, das der Regierung untersteht, die Verantwortung polnischer Nationalisten für das Pogrom in Jedwabne geleugnet.
Wenig später kündigte die rechte Lubliner Historikerin Ewa Kurek an, im Sommer Unterschriften für eine Exhumierung der Opfer des Pogroms von Jedwabne zu sammeln. Der Bürgermeister von Jedwabne, Michael Chajewski, unterstützt die Exhumierung. Der Gazeta Wyborcza sagte er: „Ja, ich werde das machen. Es muss klar gestellt werden, wie viele ermordet wurden und von wem, um die Zweifel zu zerschlagen.“
Die Exhumierung der Opfer des Pogroms war bereits 2001 unter dem damaligen Präsidenten Lech Kaczynski gesetzlich verordnet worden. Sie wurde jedoch nie umgesetzt, vor allem wegen des weltweiten Protests. Die jüdische Religion verbietet Exhumierungen, die als Totenschändung gelten. Vertreter jüdischer Organisationen und Gemeinden in Polen und weltweit sprachen sich wiederholt gegen die Exhumierung aus.
Vor dem Krieg war die jüdische Gemeinde in Polen mit 3,5 Millionen Menschen die größte in Europa. In praktisch allen Städten Polens machte die jüdische Bevölkerung zwischen 30 und 50 Prozent aus, in manchen sogar noch mehr. Im gesamten Land, das immer noch vorwiegend von der Agrarwirtschaft geprägt war, betrug der Anteil von Juden an der Gesamtbevölkerung etwa 10 Prozent.
Im Zweiten Weltkrieg machten die Nationalsozialisten das besetzte Polen zum Hauptschauplatz der Vernichtung der europäischen Juden. Auf dem Territorium des heutigen Polens befanden sich alle sechs Vernichtungslager (Auschwitz, Treblinka, Chełmno, Sobibór, Majdanek und Bełżec). Nur etwa 350.000 polnische Juden überlebten den Krieg, die meisten von ihnen in der Sowjetunion. Mindestens 1,5 Millionen Juden wurden aus anderen Ländern Europas in Lager in Polen transportiert und dort umgebracht.
Sowohl vor als auch während und nach dem Krieg verübten auch polnische Antisemiten Pogrome an der jüdischen Bevölkerung. Das Pogrom von Jedwabne, das sich kurz nach dem Nazi-Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ereignete, ist das bekannteste unter ihnen. Im Jahr 2000 veröffentlichte der amerikanisch-polnische Soziologe Jan Tomasz Gross unter dem Titel „Nachbarn“ ein Buch über das Pogrom, das in Polen die wohl heftigste geschichtspolitische Debatte nach 1989 auslöste.
Gross hatte in den Studentenprotesten vom März 1968 in Polen eine wichtige Rolle gespielt und war dann mit seiner Familie 1969 im Zuge der antisemitischen Kampagne der stalinistischen Bürokratie aus Polen emigriert. In seinem Buch greift er auf Generalisierungen und eine ahistorische Methode zurück, die an die von Daniel Goldhagen im Buch „Hitler‘s willige Vollstrecker“ erinnert. Wie Goldhagen lehnt Gross, dessen Schreiben von Antikommunismus geprägt ist, jede Klassenanalyse des Faschismus und des Antisemitismus ab. Stattdessen arbeitet er mit nationalen Abstraktionen und erklärt „die Polen als Nation“ zu „Tätern“.
Über die Geschichte der Arbeiterbewegung in Polen, die insbesondere in den 1930er Jahren den Kampf gegen den Antisemitismus der Regierung und der Ultrarechten anführte, verliert er hingegen kein Wort. Ebenso wenig beachtet Gross die Verbrechen des Stalinismus, der den Sieg Hitlers in Deutschland ermöglichte, mit den Säuberungen der 1930er Jahre die sozialistische Arbeiterbewegung enthauptete und schließlich mit dem Hitler-Stalin-Pakt den Weg für den Zweiten Weltkrieg ebnete.
Entgegen den Behauptungen der polnischen Regierung gibt es jedoch keine historischen Zweifel daran, dass polnische Antisemiten für die Pogrome in Jedwabne und Kielce verantwortlich waren. Eine umfangreiche Untersuchung des Instituts für Nationale Erinnerung (IPN), die nach dem Erscheinen von Gross‘ Buch von der damaligen Regierung in Auftrag gegeben worden war, gelangte zum Schluss, dass im Sommer 1941 mindestens 340 Juden ermordet wurden und die Angaben von Gross zum Pogrom weitgehend stimmen.
Viele Opfer wurden bei lebendigem Leibe in der Dorfkirche verbrannt. Forschungen der Historikerin Anna Bykont bestätigten die Ergebnisse des IPN und von Gross. Laut Bykont wurde das Pogrom von nationalistischen Eliten des Dorfes verübt.
Das Kielce-Pogrom vom Juni 1946 war mit über 40 Todesopfern der schlimmste von zahlreichen Angriffen und Bombenanschlägen, denen in den Jahren 1945 bis 1948 über 200 Holocaust-Überlebende zum Opfer fielen. Das Pogrom wurde sowohl von der Katholischen Kirche wie von den polnischen Nationalisten der Armija Krajowa (Heimatarmee) abgedeckt, die zu diesem Zeitpunkt einen Guerilla-Krieg gegen die stalinistische Regierung und ihre Truppen führten und dabei gezielt das Feindbild der „Żydokomuna“ (der „Juden-Kommune“) schürten.
Bis 1948 verließen angesichts der antisemitischen Gewalt 150.000 von 250.000 der Holocaustüberlebenden, die nach 1945 nach Polen zurückgekehrt waren, wieder das Land. In den 1950er Jahren und insbesondere als Reaktion auf die Studentenunruhen 1968 führte die stalinistische Bürokratie antisemitische Kampagnen durch, die weitere zehntausende in die Emigration trieben. Heute leben in Polen nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 5000 und 25.000 Juden. (Manche Schätzungen, die Nachfahren von gänzlich assimilierten Juden mit einbeziehen, setzen die Zahl auf 100.000 an.)
Als Reaktion auf die Äußerungen der Bildungsministerin haben mehrere polnische Lehrer einen offenen Brief an das polnische Bildungsministerium verfasst, den inzwischen über 1300 Lehrer unterzeichnet haben. Sie verwahren sich darin gegen „die Manipulation der jüngsten Geschichte Polens“. In polnischen Schulen sind weder der Holocaust noch die Geschichte des polnischen Antisemitismus Pflichtgegenstand, aber immer mehr Lehrer besuchen zumeist auf eigene Kosten Kurse und Fortbildungen, um das Thema unterrichten zu können.
Wenig später veröffentlichten auch Dutzende renommierte Forscher polnisch-jüdischer Beziehungen von Universitäten in den USA, Israel und Frankreich einen Brief, der sich gegen die Aussagen der polnischen Erziehungsministerin wendet.
Die Regierung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) appelliert mit ihrem Vorgehen bewusst an die radikale Rechte. Das Leugnen der Verantwortung polnischer Nationalisten für antisemitische Pogrome ist seit Jahrzehnten ein Kernstück rechtsradikaler Ideologie. Seit Monaten läuft in Polen eine massive Hetze gegen Gross, die deutliche antisemitische Untertöne trägt.
Die polnische Staatsanwaltschaft erhob bereits im Herbst letzten Jahres Klage gegen Gross wegen „Beleidigung der Ehre des polnischen Volkes“. Die rechtsextreme Gazeta Warszawska, Zakazana Historia veröffentlichte eine antisemitische Karikatur und einen üblen Hetzartikel gegen Gross. Die rechtsradikale „Festung für den guten Ruf Polens – Polnische Antidiffamierungsliga“ unterstützte die Kampagne mit Petitionen gegen Gross.
Die Kampagne verfolgt das Ziel, jede historische Forschung zu unterdrücken, die der nationalistischen Geschichtsfälschung zuwiderläuft. Damit im Einklang steht das antikommunistische Gesetz vom Frühjahr dieses Jahres, das die „Propaganda von Kommunismus“ unter Strafe stellt und die Entfernung aller Symbole, die mit der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Polnischen Volksrepublik (PRL) assoziiert werden, aus dem öffentlichen Raum vorschreibt.
Wie die polnische nationalistische Rechte im 20. Jahrhundert verbindet die PiS-Regierung Antikommunismus mit Antisemitismus. Seit den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 war in Polen das antisemitische Feindbild der żydokomuna („Juden-Kommune“) zentraler Bestandteil der Ideologie der Nationalisten und eines Großteils der Bourgeoisie.
So förderte die polnische Regierung in den 1930er Jahren angesichts der Wirtschaftskrise ultra-rechte Tendenzen, die Pogrome an Juden verübten, Wirtschaftsboykotte jüdischer Geschäfte veranstalteten und die Juden von den Universitäten vertrieben. Ab 1936 war die Verdrängung der Juden aus dem wirtschaftlichen Leben Polens und die „Polonisierung“ der Städte offizielle Politik der Regierung, die eng mit faschistischen Gruppen zusammenarbeitete und sich an der Unterdrückung der Juden im benachbarten Hitler-Deutschland orientierte.
Im Jahr 1937 reiste der polnische Justizminister Witold Grabowski nach Deutschland, um mit ranghohen Nazis die Übernahme der Nürnberger Rassengesetze in Polen zu diskutieren. Das wurde nicht konsequent umgesetzt, aber in den Jahren 1935 bis 1939 erließ die polnische Regierung zahlreiche anti-jüdische Gesetze, die die wirtschaftliche und politische Situation der polnischen Juden dramatisch verschlechterten.
Mehrere Berufsverbände, allen voran Mediziner, Juristen und Händler, führten Quoten oder Berufsverbote ein, um Juden aus ihren Berufszweigen zu vertreiben. An den Universitäten wurden de facto Ghetto-Bänke und ein Numerus Clausus für jüdische Studenten eingeführt. In den Jahren 1936-38 fanden fast tägliche Ausschreitungen rechter Studenten gegen jüdische Studenten und Sozialisten statt. In einigen Städten, insbesondere in Lwów (heute Lviv und Teil der Ukraine), wurden sogar mehrere jüdische Studenten auf dem Campus ermordet.
In vielen Orten und Städten kam es in den letzten Jahren vor dem Nazi-Überfall auf Polen im September 1939 zu blutigen Straßenschlachten zwischen faschistischen Schlägerbanden und bewaffneten Selbstverteidigungseinheiten der jüdischen und polnischen Arbeiterparteien. Dabei ließ die Regierung den rechten Banden der Endecja von Roman Dmowski freien Lauf, die mehrere Pogrome verübten.
Obwohl die Nazis die polnische Rechte im Weltkrieg verfolgten und die Nationalisten in den Widerstand trieben, unterstützten Teile von ihnen die „Endlösung“ der „Judenfrage“ durch die Nazis. Die Pogrome während des Zweiten Weltkrieges durch polnische Nationalisten vor allem auf dem Land ereigneten sich vor diesem Hintergrund.
Erziehungsministerin Anna Zalewska ist nicht die einzige Regierungsvertreterin, die die Verantwortung polnischer Nationalisten für die Pogrome von Jedwabne und Kielce bestreitet. Der amtierende Verteidigungsminister Antoni Macierewicz gab in den 1990er Jahren die rechtsradikale Zeitung Głos (Die Stimme) heraus, in der er selbst mehrere antisemitische Artikel veröffentlichte und die Pogrome von Jedwabne und Kielce leugnete. Anfang der 2000er Jahre erklärte Macierewicz in einem Interview, dass die „Protokolle der Weisen von Zion“, ein antisemitisches Pamphlet, im Wesentlichen richtig seien.
Das Ermutigen antisemitischer Tendenzen ist Bestandteil der Kriegsvorbereitungen gegen Russland und der Militarisierung der Gesellschaft, in deren Rahmen systematisch Ultrarechte mobilisiert und in den Staat integriert werden. Macierewicz personifiziert diese Politik. Als berüchtigter Antikommunist und Antisemit zählt er gleichzeitig zu den schärfsten Agitatoren gegen Russland. Beim jüngsten NATO-Gipfel schüttelte er die Hände von US-Präsident Barack Obama und anderen westlichen Regierungschefs, die den Forderungen der PiS-Regierung nach der Stationierung von Nato-Truppen in Ostpolen nachkamen.