Liest man die internationalen Kommentare zum britischen Referendum über einen Austritt aus der EU, gewinnt man den Eindruck einer herrschenden Klasse, die völlig den Kopf verloren hat. Es hat lange gedauert, bis die internationalen Medien überhaupt realisiert haben, dass am 23. Juni im Vereinigten Königreich eine Abstimmung stattfindet, die weitreichende Auswirkungen für ganz Europa hat. Doch jetzt herrscht eine Stimmung der Panik.
„Hinter den Kulissen geht das große Zittern vor dem ‚Undenkbaren‘ um“, schreibt Der Standard (Österreich). Die Neue Zürcher Zeitung (Schweiz) warnt: „Wenn Europa am Morgen des 24. Juni aufwacht, wird es sich auf einer politischen Landkarte wiederfinden, die sich über Nacht so radikal verändert hat wie nie seit dem Berliner Mauerfall von 1989“. Und Äripäev (Estland) fürchtet, die Entscheidung für einen Brexit könnte ähnliche Folgen haben wie die Lehman-Pleite, die 2008 die internationale Finanzkrise auslöste.
Jyllands-Posten (Dänemark) bezeichnet die Entscheidung des britischen Premiers David Cameron, die Briten über den Verbleib in der EU abstimmen zu lassen, als „massiven strategischen Fehler, ein politisches Spiel mit unverantwortlichem Einsatz“. Auch die Süddeutsche Zeitung (Deutschland) schreibt von einem „leichtsinnigen Spiel mit dem Brexit“. Il Sole 24 Ore (Italien) klagt: „Ein Brexit würde die Büchse der Pandora öffnen, und eine Flut von Beschuldigungen und möglichen neuen Austrittsbestrebungen auslösen… Wie auch immer der Entscheid am 23. Juni ausfällt, wir haben bereits alle verloren.“
Es gibt allerdings auch Stimmen, die abwiegeln. So erhofft sich Rzeczpospolita (Polen) von einem Brexit eine bedeutendere Rolle Polens innerhalb der EU: „Lasst uns einen Brexit deshalb nicht als Katastrophe auffassen, sondern als Chance, unsere eigenen Vorstellungen bei diesem Umbau einzubringen.“ De Standaard (Belgien) beruhigt: „Doch am Ende wird sich die Frage stellen, ob der Brexit all die Hysterie wert war. Es wird komplizierte Regelungen mit der Union geben, voller Klauseln und Protokolle. Es wird sicher kostbare politische Energie vergeudet werden. Aber die Chance ist groß, dass Großbritannien in der EU bleibt, auch wenn es austritt.“
Bisher scheint niemand ernsthaft darüber nachgedacht zu haben, welche Folgen der Austritt der zweitgrößten Volkswirtschaft der Europäischen Union auf das restliche Europa hätte. Die Vorstellungen in den europäischen Hauptstädten werden, wie die im britischen Abstimmungskampf selbst, von pragmatischen Überlegungen und kurzsichtigen Interessen bestimmt.
Das gilt nicht nur für die unmittelbaren ökonomischen Risiken, die inzwischen vom britischen Verbleib-Lager als Argument gegen einen Austritt angeführt werden – die Gefahr eines Zusammenbruchs der britischen Währung, der Finanzmärkte und der Börsen; der mögliche Abzug von Arbeitsplätzen durch internationale Konzerne; die Unwägbarkeiten der Neuverhandlung der Beziehungen zur EU, die in der vorgesehen Frist von zwei Jahren kaum zu schaffen ist; usw. Es gilt vor allem für die langfristigen politischen Folgen.
Was wären die Auswirkungen eines britischen Austritts auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich, die zwischen 1871 und 1945 drei Mal gegeneinander Krieg führten und dabei die ganze Welt mit in den Abgrund zogen? Großbritannien hat bisher eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Rivalität zwischen den früheren Erzfeinden innerhalb der EU auszubalancieren.
Einige Kommentare gehen zwar davon aus, dass Berlin und Paris nach einem Austritt Großbritanniens enger zusammenrücken würden. Doch angesichts der massiven wirtschaftlichen Überlegenheit Deutschlands ist das eher unwahrscheinlich. So meint La Tribune (Frankreich): „Eines ist sicher: Eine auf 27 Staaten geschrumpfte EU könnte sich in widersprüchlichen Haltungen verfangen. Und das deutsch-französische Tandem könnte Kollateralopfer eines eventuellen Brexit werden.“
Was ist, wenn ein Ja zum Brexit eine europaweite Kettenreaktion auslöst und rechten nationalistischen Bewegungen weiteren Auftrieb verleiht? Flammt in Irland erneut der Bürgerkrieg auf, wenn nach einem Austritt Großbritanniens die EU-Außengrenze zwischen Nordirland und dem Süden der Insel verläuft? Und was passiert, wenn Schottland erneut ein Referendum über die Abspaltung vom Vereinigten Königreich ansetzt?
All diese Fragen werden nicht nur von den Brexit-Befürwortern ignoriert oder heruntergespielt, auch die Befürworter eines Verbleibs in der EU haben keine Antwort darauf. Im Gegenteil, ihre Perspektive ist ebenso reaktionär wie die der Gegenseite. Das Referendum wird – ganz gleich wie es ausgeht – all jene Entwicklungen beschleunigen, die die Europäische Union zur meistgehassten Institution des Kontinents gemacht haben.
Und das nicht nur, weil die Europa-Frage bei einem knappen Ja zur EU „wie ein Untoter weiter durch die Gesellschaft geistern“ wird, wie die Neue Zürcher Zeitung schreibt, sondern weil die Befürworter der EU dabei sind, sie in einen Polizeistaat und in eine militärische Festung zu verwandeln.
Die wenigen Erleichterungen, die die EU mit sich brachte – die Abschaffung der Grenzkontrollen, die Möglichkeit, im Land seiner Wahl zu arbeiten und zu studieren, die Garantie bestimmter demokratischer Grundrechte – werden im Rahmen der Terrorbekämpfung und der Flüchtlingsabwehr abgeschafft. Gleichzeitig entsteht ein orwellscher Polizei- und Überwachungsapparat.
Die Zeit (Deutschland) berichtete kürzlich über die Optionen, die derzeit in Brüssel hinter verschlossenen Türen diskutiert werden, um die 27 Mitgliedstaaten der EU im Falle eines Brexits zusammenzuhalten. Die erste Option konzentriert sich dabei auf eine verstärkte polizeiliche Zusammenarbeit oder, wie es Die Zeit formuliert, „die Erhöhung der Sicherheit durch vermehrte Zusammenarbeit beim Austausch nachrichtendienstlicher Erkenntnisse und bei Maßnahmen gegen hybride Kriegsführung“.
Auch die Verlagerung des Schwergewichts der EU von einem Wirtschafts- zu einem Militärbündnis wird derzeit diskutiert. Dahinter steckt der Gedanke, dass die europäischen Großmächte, deren relatives ökonomisches Gewicht im Weltmaßstab stark abgenommen hat, nur gemeinsam „Großmächten wie Amerika und China etwas entgegensetzen“ können, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt. Angesichts der wachsenden nationalen Spannungen in Europa, die gerade auch im Brexit-Referendum zum Ausdruck kommen, ist das Zustandekommen eines solchen Militärblocks allerdings eher unwahrscheinlich.
Auch ihre Rolle als Motor des Sozialabbaus und der Deregulierung wird die EU im Falle einer Ablehnung des Brexit beibehalten und verstärken.
Le Monde (Frankreich) ruft schon jetzt dazu auf, sich für den Fall eines Verbleibs Großbritanniens in der EU gegen eine deutsch-britische Dominanz zu wappnen: „Ein siegreicher David Cameron wird Europa seine politische Agenda aufzwingen wollen… Ein ‚Brexin‘ [Verbleib] könnte die ökonomische Konvergenz zwischen Deutschland und Großbritannien, den beiden größten Wirtschaften Europas, verstärken. … Um nicht ins Abseits gedrängt zu werden, muss Frankreich einen echten Plan B für die Eurozone und die EU-28 vorbereiten. Bleiben die Briten in der Gemeinschaft, müssen die Franzosen als Erste vorpreschen.“
Der Leichtsinn, die politische Kurzsichtigkeit und die Brutalität, mit der Befürworter und Gegner des Brexit die Abschottung, den Zerfall und die Militarisierung Europas vorantreiben, ist kein individuelles, sondern ein Klassenphänomen. Es ist charakteristisch für eine herrschende Klasse, deren Gesellschaftssystem sich historisch überlebt hat. Sie ist unfähig, in die Zukunft zu blicken, und jagt nur noch den unmittelbarsten Privilegien und Interessen nach.
Das Brexit-Referendum zeigt, dass kein Flügel der herrschenden Eliten eine Antwort auf die ausweglose Krise der kapitalistischen Gesellschaft hat außer Militarismus und Diktatur. Die weit verbreitete Opposition gegen Sozialabbau, Fremdenfeindlichkeit, Krieg und Staatsaufrüstung muss zu einer bewussten politischen Bewegung entwickelt werden, die gegen die EU und für die Vereinigung Europas auf sozialistischer Grundlage, für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa, kämpft. Die britische Socialist Equality Party hat dafür mit ihrer Kampagne für einen aktiven Boykott des Brexit-Referendums einen wichtigen Schritt gemacht.