Die EU-Kommission hat am Dienstag einen Vorschlag für den Ausbau der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex zu einer eigenständigen Grenzpolizei vorgelegt, die auch gegen den Willen eines Mitgliedsstaates an dessen Grenzen operieren kann.
„Wir müssen Frontex erheblich stärken. Frontex muss zu einem operativen europäischen Küsten- und Grenzschutz werden“, erklärte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Deutschlandfunk. In einer Mitteilung an das Europaparlament und den Europäischen Rat konkretisiert Juncker die Pläne zur Errichtung einer Europäischen Grenz- und Küstenschutzagentur (EBCG).
Bislang war Frontex auf Grenzpolizisten und Material der EU-Mitgliedsstaaten angewiesen. Die neue Grenzschutztruppe soll nun ein stehendes Korps von 1.500 Mann umfassen, die innerhalb von wenigen Tagen zum Einsatz kommen können und über eigene Schiffe und Hubschrauber verfügen. Sie wird in Anlehnung an die Kampfverbände der Nato als „schnelle Eingreiftruppe“ bezeichnet und soll Flüchtlinge und Migranten mit allen Mitteln an der Einreise in die EU hindern.
Auch die Zentrale in Warschau soll personell aufgestockt werden und zukünftig statt 400 rund 1.000 Mitarbeiter umfassen. Das Budget wird dazu auf 280 Millionen Euro nahezu verdoppelt. Als Frontex 2005 die Arbeit aufnahm, verfügte die Grenzschutzagentur über einen Etat von 19 Millionen Euro. In diesem Jahr waren es bereits 150 Millionen Euro.
Nach den Plänen der Kommission soll die EBCG ständig kontrollieren, ob Mitgliedsstaaten in der Lage sind, die EU-Außengrenzen gegen Flüchtlinge zu sichern. Kommt sie zum Schluss, dass dies nicht der Fall sei, wird die schnelle Eingreiftruppe an die betreffende Grenze verlegt. Die Entscheidung darüber obliegt der EU-Kommission, die die Grenzschutzagentur „mit der Aufgabe betraut, angemessene operative Maßnahmen zu ergreifen“, wie es in dem Vorschlag heißt. Dadurch werde „die Agentur in die Lage versetzt, durch die Stationierung von Europäischen Grenz- und Küstenschutztruppen sehr schnell in Krisensituationen zu intervenieren“.
Konnte Frontex bislang nur auf Bitten eines Mitgliedsstaates aktiv werden, soll die neue Agentur auch gegen den Willen der betreffenden Mitgliedsstaaten zum Einsatz kommen. „In dringlichen Situationen muss die Agentur in der Lage sein, einzugreifen, sogar wenn es keine Bitte des Mitgliedstaats um Unterstützung gibt oder wo der Mitgliedstaat eine solche Intervention nicht für notwendig erachtet“, heißt es in dem Entwurf.
Die Entscheidung trifft auf Vorschlag der EU-Kommission der zuständige Ministerrat mit „umgekehrter qualifizierter Mehrheit“. D.h. der Vorschlag der Kommission wird angenommen, wenn sich nicht dreiviertel der Mitgliedsstaaten explizit dagegen aussprechen.
Der Kommissionsvorschlag geht auf Druck der deutschen und französischen Regierung zurück. Zum Einsatz kommen wird die Grenztruppe dagegen vor allem in den Mittelmeeranrainerstaaten Italien, Malta, Griechenland und Spanien sowie den osteuropäischen Ländern Rumänien, Bulgarien, Polen und Ungarn.
Vor zehn Tagen hatten der deutsche Innenminister Thomas de Maizière und sein französischer Amtskollege Bernard Cazeneuve in einem Brief an die EU-Kommission den Ausbau von Frontex gefordert. Sie verlangten eine massive Ausweitung der Befugnisse der Grenzschutzagentur und erklärten explizit: „In Ausnahmefällen sollte Frontex auch die Initiative für den Einsatz von Soforteinsatzteams in eigener Verantwortung ergreifen können.“
De Maizière sagte dem Deutschlandfunk, wenn ein Nationalstaat seine Aufgaben beim Außengrenzen-Schutz nicht wirksam erfülle, solle dieser durch Frontex übernommen werden.
Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Volker Kauder forderte in der Zeit, die Nationalstaaten sollten angesichts der Flüchtlingsbewegung ihre Souveränitätsrechte ganz oder teilweise abtreten. So sei „Griechenland weder logistisch noch finanziell dazu in der Lage, seine Grenzen zu sichern“. Dieser Zustand müsse sich grundlegend ändern.
Das Kommissionspapier selbst erhebt schwere Vorwürfe gegen die Regierungen in Rom und Athen. So seien zwischen Januar und November 2015 mehr als 1,5 Millionen „illegale Grenzübertritte“ festgestellt worden. „Drittstaatenangehörige konnten die Außengrenzen der EU illegal überqueren und dann ihre Reise durch die EU fortsetzen, ohne zuerst identifiziert, registriert und einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen worden zu sein“. In Griechenland seien zuletzt nur ein Viertel aller Flüchtlinge ordnungsgemäß registriert worden, in Italien nur jeder Zweite.
In den potentiell betroffenen Staaten regt sich teilweise Widerstand gegen die Kommissionspläne. „Der italienische Innenminister ist sehr unglücklich bei der Vorstellung, ausländische Polizisten an den Grenzen zu haben“, sagte ein EU-Diplomat in Brüssel dem britischen Guardian, dadurch „würden zu viele sensible Souveränitätsbereiche berührt“.
Schärfer fiel der Protest in Warschau und Budapest aus. Der polnische Außenminister Witold Waszczykowski wies im Radiosender RMF die Kommissionspläne zurück, weil dadurch eine Organisation geschaffen würde, die ohne Mitspracherecht der Mitgliedsstaaten willkürlich über Maßnahmen entscheiden könne. Die Grenztruppe habe keine demokratische Legitimation. Ähnlich äußerte sich der ungarische Außenminister Peter Szijjarto, der ebenfalls darauf bestand, dass die Grenzkontrollen Bestandteil nationalstaatlicher Souveränität bleiben müssten.
Auch der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras sagte, seine Regierung werde die Stationierung von EU-Grenztruppen ohne Zustimmung aus Athen nicht akzeptieren, da der Grenzschutz eine nationale Angelegenheit sei. Gleichzeitig machte er aber deutlich, das er sich der EU fügen werde. „Wir müssen alle verstehen, dass unsere internationale Verpflichtung gegenüber dem Schengen-Abkommen darin besteht, einen effektiven Beitrag zum Kampf gegen Terrorismus beizusteuern“, sagte er.
Erst vor einer Woche hat Tsipras‘ Regierung ein Flüchtlingscamp bei Idomeni nahe der mazedonisch-griechischen Grenze geräumt und die Flüchtlinge nach Athen gekarrt. Dort sind jedoch alle Unterkünfte völlig überfüllt, selbst die Grundversorgung können die Behörden nicht gewährleisten. Viele Flüchtlinge sind gezwungen, im Freien zu schlafen. Zur Lösung dieser humanitären Krise will die griechische Regierung nun die Internierungslager wieder in Betrieb nehmen, die sie als eines ihrer zentralen Wahlversprechen erst im Frühjahr teilweise geschlossen hatte. Auf diese Weise sollen 5.500 Haftplätze für abgelehnte Asylbewerber entstehen, die dort bis zu ihrer Deportation interniert werden.
Die griechische Regierung agiert damit in vorauseilendem Gehorsam, denn die Kommissionspläne sehen auch eine eigene Abschiebestabsstelle vor, die verharmlosend als „Rückführungsbüro“ bezeichnet wird. Auch dazu werden eigene Interventionsteams der Agentur den Mitgliedsstaaten bei der Deportation von Flüchtlingen nicht nur helfend zur Seite stehen, sondern auch auf eigene Initiative tätig werden können.
Zur Beschleunigung der Abschiebeverfahren soll zudem ein einheitliches „Europäisches Reisedokument“ ausgestellt werden. Die EU will bei Verhandlungen mit Herkunftsstaaten über Rücknahmeabkommen darauf drängen, dass das Dokument anerkannt wird und die Asylsuchenden möglichst geräuschlos deportiert werden können.
Zudem soll der „Hotspot-Ansatz“ gestärkt und ausgebaut werden. Ziel ist es, alle Flüchtlinge in den „Aufnahmezentren“ an den EU-Außengrenzen zu registrieren und für Sicherheitsüberprüfungen so lange wie möglich zu internieren. „Alle Migranten, die in Italien und Griechenland ankommen, müssen durch diese Registrierungszentren gehen“, heißt es im Brief de Maizières und Cazeneuves an die EU-Kommission. „Das bedeutet, dass diese Zentren dafür ausgestattet sein müssen, eine große Zahl von Personen aufzunehmen und für die für die Überprüfung benötigte Zeit festzuhalten.“
In den Registrierungszentren wird bereits jetzt gezielt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen. Flüchtlinge werden alleine aufgrund ihrer Nationalität abgewiesen, wie ein Bericht des Deutschlandfunks belegt. So werden im Registrierungszentrum auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa Flüchtlinge aus Ägypten oder Marokko ohne Prüfung ihrer Fluchtgründe abgelehnt. Die eingesetzten Frontex-Beamten greifen bei der Befragung dazu sogar zu illegalen Mitteln und geben sich als Journalisten aus.
Auch die neue Grenzschutztruppe soll gegen internationales Recht verstoßen und das Verbot der Zurückweisung missachten, wonach jeder Asylsuchende das Recht auf Prüfung seiner Fluchtgründe hat und nicht an der Grenze abgewiesen werden darf. Schon jetzt wird Flüchtlingen, die nicht aus Syrien, Irak oder Afghanistan kommen, dieses Recht in Hotspots und auf der Balkanroute mit der pauschalen Begründung verweigert, es handle sich um Wirtschaftsmigranten.
Der deutsche Innenminister de Maizière sprach sich in einem Interview mit der Welt für illegale Push-back-Aktionen aus. Die EU-Grenzschutztruppe solle zukünftig ein Schiff dahin zurückschleppen, „wo es hergekommen ist – zum Beispiel in die Türkei“. Als Ziel schwebt de Maizière vor, Griechenland wieder in das Dublin-Abkommen zu integrieren. Athen wäre dann gezwungen, Flüchtlinge wieder zurückzunehmen. Zusammen mit den partiellen Grenzschließungen entlang der Balkanroute droht Griechenland damit zum Abstellgleis für in der EU unerwünschte Flüchtlinge zu werden.