Präsident François Hollande reagiert auf die Terroranschläge in Paris mit einem beispiellosen Angriff auf demokratische Grundrechte.
Die Regierung der Sozialistischen Partei (PS) hat den Ausnahmezustand erklärt und mehr als hunderttausend Sicherheitskräfte im ganzen Land mobilisiert, darunter reguläre Polizei, Gendarmerie, paramilitärische Bereitschaftspolizei und Militär. Man kann in keiner größeren französischen Stadt über die Straße gehen, ohne auf Personen in Tarnanzügen oder schwarzen Uniformen zu stoßen, die automatische Gewehre mit sich führen. Diese paramilitärischen Kräfte haben die Vollmacht, jede Wohnung zu durchsuchen und jede Person festzunehmen oder zu töten, die als Bedrohung bezeichnet wird.
Kein Politiker oder Journalist hat dagegen irgendwelche Einwände erhoben.
Hollande schlägt jetzt vor, die Verfassung zu ändern, damit der Präsident den Ausnahmezustand verhängen, auf unbestimmte Zeit verlängern und die Vollmachten von Armee und Polizei enorm ausweiten kann. Der Plan, der im Internet veröffentlicht wurde, liefert die juristische Grundlage, um Frankreich in eine Präsidialdiktatur zu verwandeln.
Das geltende Notstandsrecht von 1955 gewährt dem Präsidenten und den Sicherheitskräften in einem Ausnahmezustand weitreichende Vollmachten. Sie können Hausdurchsuchungen und Festnahmen ohne richterlichen Beschluss vornehmen, Ausgangssperren verhängen, öffentliche Versammlungen verbieten, jede Person festnehmen und unter Hausarrest stellen, „deren Taten die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden“, und jede Organisation auflösen, die zu Personen in Verbindung steht, die unter Hausarrest stehen und an Störungen der öffentlichen Ordnung „teilnehmen, sie befördern und anstacheln“.
Die Veränderungen, die die Sozialistische Partei an der Verfassung vornehmen will, machen dieses Gesetz noch bedrohlicher. Präsident Hollande hat erklärt, dass die Änderungen an dem Gesetz solange wirksam bleiben sollen, wie Frankreich von Terrorgruppen wie dem IS bedroht sei, also unbeschränkt.
Eine genauere Untersuchung der Verfassungsergänzung macht klar, dass es dabei nicht um den Kampf gegen den IS geht. Der IS ist letztlich das Produkt der Nato-Mächte, die islamistische Milizen als Stellvertreterkräfte rekrutiert haben, um den Krieg für einen Regimewechsel in Syrien zu führen. Die schrecklichen Anschläge von Paris dienen lediglich als Vorwand, um diktatorische Maßnahmen durchzusetzen, die nicht rational mit einer Bedrohung durch den IS erklärt werden können.
Unter dem Deckmantel des Kampfs gegen den IS verleiht sich der französische Staat absolute Vollmachten gegen jeden, den er als Bedrohung der „Sicherheit und der öffentlichen Ordnung“ bezeichnet. Diese vage, allumfassende Kategorie wird schon seit längerem benutzt, um gegen das verfassungsmäßig verbriefte Streik- und Demonstrationsrecht vorzugehen. So verbot die Sozialistische Regierung letztes Jahr Proteste gegen den Krieg des israelischen Staates in Gaza.
Die juristischen Änderungen, die die PS in ihrem Dokument ankündigt, machen praktisch jeden Protest zu einem potentiellen Grund für eine Verhaftung. Während das gültige Gesetz der Polizei erlaubt, jeden festzunehmen, dessen Aktivitäten die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedrohen, wird das geänderte Gesetz ihr erlauben, jeden festzunehmen, „der den Anschein erweckt, als könnte sein Verhalten zu einer Störung der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung führen“. Die PS begründet es damit, dass dies der Polizei ermögliche, sich „Leute vorzuknöpfen, die die Aufmerksamkeit der Polizei und der Geheimdienste durch ihr Verhalten, ihren Umgang, ihre Äußerungen oder Absichten erregen“.
Die Implikationen dieser Vorschläge sind weitreichend. Um jemanden festzunehmen, muss die Polizei künftig nur noch erklären, sie gehe davon aus, dass diese Person unter Umständen die öffentliche Ordnung in Zukunft stören könnte. Als Bewertungsgrundlage reichen dafür bestimmte Äußerungen der betreffenden Person in der Öffentlichkeit oder in den sozialen Medien, oder auch der Umgang mit bestimmten Personen.
Ein hinreichender Grund für Festnahme oder Hausarrest kann demnach schon eine Sympathiebekundung für einen Streikaufruf sein, der sich gegen Lohnkürzungen oder eine Betriebsschließung richtet, oder für einen Protest gegen Krieg oder andere, keineswegs illegale Aktivitäten.
Muss man wirklich daran erinnern, dass das Gesetz, das die PS jetzt erweitern will, 1955 als gesetzlicher Rahmen für Folter und Unterdrückung im Algerienkrieg diente? Dieser Krieg, der von 1954 bis 1962 dauerte, richtete sich gegen den Unabhängigkeitskampf des algerischen Volkes, das sich gegen die französische Kolonialherrschaft erhoben hatte. Eine Viertelmillion bis 400.000 Algerier bezahlten dafür mit dem Leben. Der Krieg verschärfte die tiefen sozialen Spannungen, die sich in Frankreich aufstauten und schließlich in dem Generalstreik vom Mai-Juni 1968 zum Ausbruch kamen.
Auch heute geht der Abbau demokratischer Rechte auf eine ähnliche Krise der Klassenherrschaft zurück. Erstens versucht die PS-Regierung verzweifelt, den Widerstand gegen die militaristische Politik des französischen Imperialismus zu unterdrücken. Das hat schon der letztlich vergebliche Versuch gezeigt, die Gaza-Proteste im letzten Jahr zu verbieten. Unmittelbar nach den Anschlägen von Paris hat Hollande die französischen Bombardierungen in Syrien ausgeweitet. Damit will die herrschende Klasse Frankreichs ihre Interessen auf Weltebene geltend machen.
Zweitens ist die bürgerliche Demokratie nicht mehr in der Lage, die scharfen sozialen Spannungen zu händeln. Wie in allen entwickelten kapitalistischen Ländern wird der Staat auch in Frankreich von einer schmalen, superreichen Elite kontrolliert, die die zunehmende Unzufriedenheit der arbeitenden Bevölkerung hasst und fürchtet.
Die Hollande-Regierung verkörpert die Herrschaft der Finanzaristokratie in vollendeter Form. An die Macht gewählt wurde sie mit dem Versprechen: „Austerität ist nicht unser Schicksal.“ An der Spitze einer „Null-Wachstums“-Ökonomie mit schnell steigender Arbeitslosigkeit erwies sich Hollande jedoch als Austeritätspolitiker erster Güte.
Konfrontiert mit sozialer Opposition, entschloss sich die PS, mit Militarismus und Krieg von der reaktionären Innenpolitik abzulenken. Als Hollande 2013 in den Krieg in Mali zog, erklärte ein Regierungsbeamter der Zeitung Le Point, die PS hoffe, dass dieser Krieg ihre Version des Falkland-Kriegs von Margaret Thatcher werde. Die britische Regierungschefin hatte 1983 darauf spekuliert, mit diesem „militärischen Abenteuer ihre Wiederwahl zu sichern“. Doch haben die Kriege im ehemaligen Kolonialreich die sozialen Spannungen in Frankreich nur verstärkt.
Die gleiche politische Dynamik ist in jedem großen kapitalistischen Land zu erkennen. Seit dem Beginn des „Kriegs gegen den Terror“ 2001 versuchen Regierungen in aller Welt, allen voran die Vereinigten Staaten, demokratische Grundrechte zu unterhöhlen und abzubauen. Sie führen „außerordentliche Überstellungen“ zum Zweck des Folterns durch und praktizieren ungesetzliche Massenüberwachung und außergerichtliche Drohnenmorde. Der Einsatz schwerbewaffneter Soldaten im Inland ist inzwischen normal.
2011 unterdrückte die Polizei Jugendunruhen in London und letztes Jahr wurden die Proteste gegen den Polizeimord an Michael Brown in Ferguson, Missouri mit militärischem Gerät bekämpft. Solche Maßnahmen richten sich immer offener gegen den Klassenkampf.
Nahezu kein bürgerlicher Politiker oder Journalist verteidigt heute noch die demokratischen Grundrechte. Diese Aufgabe fällt der Arbeiterklasse zu. In ihr sind die demokratischen Prinzipien nach wie vor tief verankert. Es bleibt ihr jedoch kein Raum für Selbstzufriedenheit: Die herrschende Klasse setzt ihre diktatorischen Maßnahmen sehr rasch um, weil sie für ihre Krise keine andere Lösung hat.
Um die demokratischen Grundrechte zu verteidigen und einen Polizeistaat zu verhindern, muss die Arbeiterklasse unabhängig mobilisiert werden. Der Kampf muss sich gegen imperialistischen Krieg und soziale Ungleichheit richten, d.h. gegen das kapitalistische Profitsystem, das ihnen zugrunde liegt.