„Es wird lebensgefährlich“

Katastrophale Unterbringung und medizinische Versorgung von Flüchtlingen in Hamburg

Die Lage der Flüchtlinge in Hamburg hat sich in den letzten zwei Wochen massiv verschlechtert. Die Kälte und der beginnende Nachtfrost setzen ihrer ohnehin geschwächten Gesundheit schwer zu. Dabei hat der Herbst gerade erst begonnen und es wird ein kalter Winter vorhergesagt. Von den 35.000 Flüchtlingen, die in diesem Jahr in der Stadt eintrafen, leben 4.200 in Zelten, davon rund 3.000 in nicht beheizbaren und somit nicht winterfesten Unterkünften.

In den Zelten ist es nicht nur eiskalt, sondern auch nass und zugig. Die Kleidung der Menschen ist feucht und wird gar nicht mehr richtig trocken. Vorhandene und auch neu installierte Heizlüfter funktionieren nicht oder liefern nur kalte Luft und laufen dennoch die ganze Nacht, wie Flüchtlinge und Helfer berichten. Die Planen an den Eingängen schließen teils nicht richtig. Einige Flüchtlinge, besonders Kinder, übernachteten, soweit der Platz es hergab, in den Toiletten, da diese wenigstens minimal beheizt sind. Teilweise demontierten die Flüchtlinge dort Heizlüfter ab, um sie in den Zelten aufzustellen.

Heizgeräte wurden nicht in ausreichender Anzahl beschafft, da der Senat bisher immer angekündigt hatte, die Flüchtlinge im Winter in Containern oder Holzhäusern unterzubringen. Die Lieferzeit der bestellten Geräte beträgt nun sechs bis acht Wochen, so dass nicht einmal garantiert werden kann, dass alle Flüchtlinge in den 260 Zelten wenigstens etwas zusätzliche Wärme erhalten.

Der Boden der weder wind- noch wasserdichten Zelte ist nach dem jüngsten Dauerregen völlig aufgeweicht. Es fehlen Sandsäcke, um sie wenigstens notdürftig abzudichten, und die Wiesen sind schlammig. Dennoch bezeichnete der Senat die Lage als „beherrschbar“, wie das Hamburger Abendblatt am 16. Oktober berichtete, um im nächsten Atemzug das Gegenteil zu vermelden: „Aus Angst vor Übergriffen wurde laut einem Lagebericht auch ein Vorrat an Decken nicht an die frierenden Bewohner verteilt.“

Im Jenfelder Moorpark deckte die Feuerwehr 56 undichte Zelte mit Folie ab, da es hineinregnete. Ob diese Abdeckung dem nächsten Unwetter standhalten wird, ist ungewiss. Am Hauptbahnhof wurden Zelte für die Ankunft und die provisorische medizinische Erstversorgung der Flüchtlinge mit Sandsäcken gesichert, da sie keinen Boden haben und der Regen hineinläuft.

Die Flüchtlinge berichten, sie schlafen mit Schal, Pullover, Hose und dicken Socken im Schlafsack, unter Decken und, sofern vorhanden, unter Handtüchern. In den Feld- oder Etagenbetten auf erkaltetem Wiesenboden ist allerdings kaum Schlaf möglich. Viele überstehen die Nacht nur, indem sie ständig in Bewegung bleiben. Im Lager an der Schnackenburgallee im Hamburger Stadtteil Bahrenfeld fehlen sogar Hunderte Betten.

Sehr viele Lagerbewohner sind mittlerweile erkältet, schwer krank, haben Fieber, Bronchitis, Mandel- und Mittelohrentzündungen. Auch Fälle mit Verdacht auf Lungenentzündungen wurden gemeldet. Laut den Aussagen von Ärzten sind in vielen Unterkünften fast alle Kinder erkrankt.

Der blanke Horror im Zeltlager

Besonders chaotisch und dramatisch ist die Lage der weit über tausend Flüchtlinge in einem Zeltlager an der Schnackenburgallee, direkt neben der lärmenden Autobahn A7.

„Auch schwer erkrankte Bewohner schlafen auf Holzpaletten“, berichtet ein Mitarbeiter. „Die Belegschaft trat in dieser Woche für mehrere Stunden in einen Streik, um gegen die Bedingungen zu protestieren“, berichtet das Hamburger Abendblatt weiter. „Weder in der medizinischen Ambulanz, noch im Großteil der Zelte gibt es bislang Strom. Mehr als 100 Menschen sind ‚schwer oder schwerst’ erkrankt, 15 Zelte mussten wegen Schimmelbefall geschlossen werden.“

„Der Großteil der Kinder ist krank, hinzu kommen Krätze und andere Infektionen bei Älteren“, berichtet ein Mitarbeiter. „Die Ärzte geben alles, aber unter diesen Umständen sind die Genesungschancen gleich null.“ Auch Schwangere sind betroffen.

Die Augen der Kinder sind tiefrote Höhlen und die Körper zucken durch den Husten. Kleinkinder sind „bläulich angelaufen“, berichten freiwillige Helfer. Eine schwangere Frau brachte ein Kind mithilfe des Wachpersonals zur Welt.

„Mittags war der Vorrat an Fiebersenkern vorerst alle“ und „wir haben einige zusätzliche Pullover organisiert und viele Kinder zurück in die Zelte geschickt. Es war grausam“, so ein Kenner der Erstaufnahmeunterkunft an der Schnackenburgallee.

Die derzeitige Unterbringung wird von Medizinern, unter denen die Hilfebereitschaft sehr groß ist, als hochproblematisch angesehen. „Flüchtlinge mit Infektionskrankheiten, die nicht ausheilen, dürfen bei diesen Witterungsbedingungen nicht mehr in Zelten ohne Boden untergebracht sein, schon gar nicht Kinder“, sagte Prof. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer.

In den vergangen drei Monaten bestand in bereits 370 Fällen der Verdacht auf meldepflichtige Krankheiten (u.a. Hepatitis und Malaria). „Wir haben drei Isolierräume, die praktisch ständig belegt sind“, berichten Sozialarbeiter. „Wir können glücklich sein, wenn wir die gefährlichsten Fälle rechtzeitig erfassen.“

Die engagierten Mediziner in den Flüchtlingseinrichtungen sind nicht ausreichend, vor allem nicht für Kinder und Frauen. Dass der Hamburger Senat in der Gesundheitsversorgung seine Verantwortung nicht wahrgenommen hat, muss bei der beispielhaften Auflistung nicht betont werden. Da verwundert es nicht, dass die Behörden es bei der Hygiene auch nicht so genau nehmen. So fand in der Schnackenburgallee die letzte Hygieneuntersuchung im Mai statt.

Die Stimmung unter den Flüchtlingen ist den Umständen entsprechend von Konflikten geprägt: Sie sind aufgebracht, aggressiv, wütend, verzweifelt. Einige Flüchtlinge attackierten die Leitung der Unterkunft und versuchten die Verwaltungsräume der Anlage zu stürmen. Die Polizei beschreibt die Lage als „kurz vor dem Kippen“ und „hochgradig explosiv“.

Nach wochenlangem Schweigen bequemte sich Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) am 14. Oktober, sich zur Situation der Flüchtlinge zu äußern. „Es ist beeindruckend zu sehen, mit welcher Weltoffenheit die Bürger dieser Stadt sich dieser Aufgabe zuwenden“, sagte er in einer Regierungserklärung. Er pries die „intakte und prosperierende Stadt, die über alle Ressourcen verfügt, um mit dieser Aufgabe fertig zu werden“. Es kann ihm allerdings nicht vorgeworfen werden, dass er diese Ressourcen tatsächlich einsetzt.

Zudem machte Scholz deutlich, dass die Flüchtlinge auch im Winter in Zelten leben müssen: „Unser oberstes Ziel ist derzeit die Vermeidung von Obdachlosigkeit.“ Vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen kann die Ankündigung des Ersten Bürgermeisters, „damit fertig zu werden“, nur als Drohung aufgefasst werden.

Die unerträglichen Zustände schaffen einen fruchtbaren Boden für Angriffe von rechts. Es gab bereits mehrere Attacken nicht nur auf Flüchtlinge, sondern auch auf Helfer. So wurden z. B. bei Mitarbeitern der Zentralen Erstaufnahme in Hamburg-Wilhelmsburg an den Autoreifen die Radbolzen entfernt. Ein Mitarbeiter wäre auf dem Heimweg fast verunglückt.

„Bitte helft uns!“

Am Rande einer Demonstration gegen die Verschlechterung des Asylrechts am 15. Oktober sprach der Autor dieses Artikels mit Flüchtlingshelfern und Teilnehmern.

Eine Gruppe von Jugendlichen, die sich zufällig eingefunden hatten, berichtete von Zeltstädten in ihren Stadtteilen. Sie waren empört über die unmenschliche Behandlung der Flüchtlinge, vor allem von kleinen Kindern und Babys. Darauf angesprochen, dass Flüchtlinge auch den Winter über in den Zelten verbringen sollen, waren sie zutiefst schockiert: „Das kann doch nicht sein, bekommen die denn nicht mit, wie schlecht es den Flüchtlingen jetzt schon geht?“ Eine Demonstrantin brachte das allgemeine Entsetzen auf den Punkt: „Wie kann man überhaupt auf den Gedanken kommen, Menschen im Winter in Zelten zu halten?“

Eine freiwillige Helferin, die Flüchtlingen am Hauptbahnhof zur Seite steht, fragte fassungslos: „Wie kann so etwas in Deutschland, in Hamburg passieren, dass Menschen wie der letzte Dreck behandelt werden? Es interessiert die Behörden überhaupt nicht, ob die Menschen krank werden oder auch vom Tod bedroht sind. Es war jetzt drei Tage kalt, wohin soll das noch führen? Das wird lebensgefährlich. Es sind genug Räume vorhanden und es ist auch genug Geld da für Unterkünfte, Helfer und Hilfsorganisation. Aber da ist sich die Stadt zu schade für, da wird nichts getan. Ich verstehe das nicht.“

Die Böswilligkeit der Hamburger Behörden und Politik drückte sich auch in der Ankündigung des Sprechers der Innenbehörde, Frank Reschreiter aus, dass „Zelte, die nicht winterfest gemacht werden können, schnellstmöglichst durch Holzpavillons oder Container ersetzt“ werden. Mit anderen Worten: Die Unterbringung in Zelten bleibt bestehen, und wann sich etwas ändert, wenn überhaupt, ist nicht bekannt.

In den letzten Tagen kam es zu mehreren spontanen Protestaktionen. Vor dem Rathaus und am Jungfernstieg protestierten 100 Flüchtlinge mit Schildern, auf denen stand: „Uns ist kalt“, „Baut die Zelte ab bitte“ und „Bitte helft uns“.

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