Ein Bericht des Expertengremiums European Leadership Network (ELN) kommt zum Schluss, dass die diesjährigen Militärübungen sowohl der Nato als auch Russlands die Gefahr eines Kriegs zwischen beiden Seiten vergrößern. Das ELN ist ein Thinktank aus prominenten früheren Mitgliedern europäischer Regierungen und der North Atlantic Treaty Organization (Nato).
Das Dokument trägt die Überschrift “Preparing for the Worst” ("Auf das Schlimmste gefasst sein"). Es warnt davor, dass die rasche Aufeinanderfolge und das wachsende Ausmaß der Militärübungen im Grenzgebiet zwischen Russland und den Nato-Mitgliedstaaten längst nicht mehr bloß „Abschreckung signalisiert“, sondern zu einem eigenständigen Faktor wird, der selbst die Gefahr eines militärischen Flächenbrandes vergrößert.
“Russland bereitet sich auf einen Konflikt mit der Nato vor, und die Nato bereitet sich auf eine mögliche Konfrontation mit Russland vor”, heißt es in dem Bericht. "Wir behaupten nicht, dass die Führung einer Seite entschieden hätte, in den Krieg zu ziehen, oder dass ein militärischer Konflikt unausweichlich sei – aber es ist eine Tatsache, dass sich das Profil der Übungen verändert hat und dass dies das aktuell angespannte Klima in Europa weiter aufheizt.“
Der Bericht stützt sich auf eine Analyse der zwei größten Militärübungen, die Russland und die Nato jeweils dieses Jahr durchgeführt haben: Im März haben 80.000 Soldaten an einer russischen „Blitzübung“ teilgenommen, die im Norden Russlands begann und sich nach Süden ausdehnte. Die Nato führte im Juni ihre Übung „Allied Shield“ mit 15.000 Soldaten durch, verteilt auf Kriegsschiffe im Baltischen Meer, Bodentruppen in Litauen, Lettland, Estland und Polen und Kampfflugzeuge über der gesamten Region.
Beide Seiten haben in Wirklichkeit nicht das gleiche Gewicht. Das ELN setzt die russischen Militärübungen, die nur auf russischem Territorium stattfanden, mit Militärübungen gleich, die amerikanische, kanadische und andere Truppen einbezogen. Der Einsatz dieser Soldaten fand Tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt statt (und nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt). Gar nicht beachtet wurden die ständigen massiven Militärübungen in den Vereinigten Staaten selbst. Außerdem berücksichtigt die ELN nicht die weltweiten Operationen des Pentagon, die diejenigen anderer Länder, einschließlich Russlands, bei weitem in den Schatten stellen.
Was die ELN-Studie nicht berücksichtigt, ist die Tatsache, dass bei der russischen Manövern auch Soldaten teilnehmen, die ihre einjährige Wehrpflicht absolvierten und relativ einfache Tätigkeiten durchführten. Zählt man nur die hoch spezialisierten Kräfte, die Marinesoldaten und die Fallschirmjäger, so war ihre von der Nato und Russland eingesetzte Anzahl ungefähr gleich groß.
Die Studie verweist auf die Eskalation der US-Nato-Manöver. So wurden 2014 mit 162 Übungen doppelt so viele Übungen wie ursprünglich geplant durchgeführt. Hinzu kamen noch vierzig Übungen, die einzelne Nato-Mitglieder in Europa abhielten. Angeführt wird die besonders provokative Nato-Aktion in Narva an der estnisch-russischen Grenze am 24. Februar, als bei einer "Militärparade anlässlich des Unabhängigkeitstags von Estland Panzerfahrzeuge des amerikanischen Zweiten Kavallerieregiments teilnahmen, ebenso wie britische, holländische, litauische und lettische Truppen."
Die ELN, ein imperialistischer Thinktank, lastet die wachsenden Spannungen zwischen Nato und Russland der „gefährlich waghalsigen Politik“ Moskaus an. Sie drückt jedoch ihre Sorge aus, dass das Ausmaß der Militäroperationen auf beiden Seiten unbeabsichtigte Folgen haben könnte. „Die Geschichte ist voller Beispiele führender Politiker, die dachten, sie könnten die Ereignisse kontrollieren. Aber die Ereignisse haben die Gewohnheit, eine Eigendynamik anzunehmen“, wie es der ELN-Chef Ian Kearns ausdrückte.
Ein Bericht derselben Institution vom vergangenen November verweist auf die große Zahl von Beinahe-Zusammenstößen, an denen Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe der Nato und Russlands beteiligt waren. Jeder dieser Beinahekonflikt hätte einen größeren internationalen Zwischenfall oder sogar einen Krieg auslösen können.
Nato-Sprecherin Carmen Romero wies jede Andeutung, die imperialistische Allianz solle ihre Aktivitäten an der russischen Grenze zurückschrauben, brüsk zurück. „Die Nato-Militärübungen machen die Kriegsgefahr in Europa nicht wahrscheinlicher, wie der Bericht nahelegt“, sagte sie. „Sie dienen einem genau entgegengesetzten Zweck: Sie sollen die Sicherheit und Stabilität Europas gegen die wachsende russische Aggression zu erhöhen.“
Der ELN-Bericht bekräftigt die Warnungen der World Socialist Web Site seit Beginn der Ukraine-Krise, die mit der Unterstützung der USA für den Putsch in Kiew im Februar 2014 begann. Damals wurde der pro-russische Präsident Viktor Janukowitsch aus dem Amt getrieben und ein rechtes, ultranationalistisches Regime etabliert, das von der Washingtoner Regierung und der Europäischen Union ausgehalten wird. Die objektive Logik dieser Krise führt unvermeidlich zu einer militärischen Konfrontation zwischen den zwei großen Nuklearmächten, den Vereinigten Staaten und Russland, mit katastrophalen Folgen für die ganze Menschheit.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Der amerikanische Imperialismus spielt in dieser Krise eine besonders aggressive und verantwortungslose Rolle. So zogen die Vereinigten Staaten, vertreten durch die neokonservative US-Diplomatin Victoria Nuland, die Fäden in der Kampagne zum Sturz von Janukowitsch, an deren Spitze Faschisten standen. An Janukowitschs Stelle traten Marionetten, die Washington ausgesucht hatte, wie Ministerpräsident Arseni Jazenjuk (von Nuland „Yats“ genannt) und Präsident Petro Poroschenko, Schokoladenmillionär und langjähriger Oligarch.
Seither ist offen geworden, dass die USA und die EU die Ukraine-Krise manipuliert haben, um Bedingungen zu schaffen, unter denen sie Russland zerschlagen und seine Bevölkerung, sein Staatsgebiet und seine Ressourcen unter den imperialistischen Mächten aufteilen können. Das ist das strategische Langzeitziel der imperialistischen Kampagne von Wirtschaftssanktionen und diplomatischen Provokationen, denen das Militär Nachdruck verleiht.
Der Feldzug gegen Russland ist nur eine Komponente der zunehmend militaristischen Perspektive des US-Imperialismus. Wie Präsident Obama letzte Woche selbst zugegeben hat, gibt es in Washington eine einflussreiche Fraktion, die lautstark einen Krieg gegen den Iran fordert. Obama hat mit ihnen nur taktische Differenzen. Er möchte lieber austesten, ob das iranische Regime im kommenden globalen Konflikt mit Russland und China auf die Seite der USA gezogen werden könnte.
Dies bestätigt, was das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) im vergangenen Jahr in seinem Dokument „Sozialismus und der Kampf gegen imperialistischen Krieg“ erklärte: „Die Gefahr eines neuen Weltkriegs ergibt sich aus dem grundlegenden Widerspruch des kapitalistischen Systems, dem Widerspruch zwischen der Globalisierung der Wirtschaft und ihrer Aufspaltung in antagonistische Nationalstaaten, die die Grundlage für das Privateigentum an den Produktionsmitteln bilden. Besonders deutlich zeigt sich dies im Bestreben des US-Imperialismus, die eurasische Landmasse zu beherrschen, insbesondere jene Gebiete, die seinem Einfluss nach der russischen und der chinesischen Revolution jahrzehntelang entzogen waren.“
Wie das IKVI erklärte, zeigen die historischen und geopolitischen Wurzeln des amerikanischen Kriegskurses, dass ein imperialistischer Weltkrieg unausweichlich droht, wenn nicht die internationale Arbeiterklasse eingreift, das kapitalistische System durch eine Revolution beseitigt und ein sozialistische Gesellschaft errichtet. Die gleichen Widersprüche, die die Gefahr des Kriegs hervorrufen, erzeugen objektiv den Impuls für die sozialistische Revolution. Deshalb besteht die entscheidende politische Aufgabe darin, die Vierte Internationale als revolutionäre Führung der Weltarbeiterklasse aufzubauen.