Die Europäische Union plant Luftangriffe auf Ziele in Libyen, um Flüchtlinge daran zu hindern, in kleinen Booten das Mittelmeer zu überqueren. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini informierte den UN-Sicherheitsrat am Montag über Pläne für eine Resolution nach Kapitel 7, mit der die UN den Militäreinsatz der EU absegnen würde.
Der Plan ist das Ergebnis von mehrwöchigen Spitzengesprächen zwischen den 28 Mitgliedsstaaten der EU, u.a. einer Außenministerkonferenz. Zuvor waren bei mehreren Bootsunglücken hunderte von Flüchtlingen ertrunken. Bei der schlimmsten dieser Tragödien ertranken am 19. April fast 900 Menschen, als ihr kleines Boot mit einem Frachter zusammenstieß und kenterte.
Das Wrack dieses nur fünfundzwanzig Meter langen Bootes wurde letzten Donnerstag, 190 Kilometer nordöstlich der libyschen Küste, in 375 Metern Tiefe von der italienischen Marine entdeckt. Giovanni Salvi, Staatsanwalt in der sizilianischen Stadt Catania, der die wenigen Überlebenden befragt, erklärte, in dem Wrack selbst und in der Nähe des Wracks seien zahlreiche Leichen zu sehen.
Der Plan, die Boote zu bombardieren, ist weniger von der hohen Zahl von Ertrunkenen motiviert, sondern von der noch höheren Zahl an Flüchtlingen, die es bis zu der italienischen Insel Lampedusa südlich von Sizilien geschafft haben oder von Handelsschiffen, der italienischen Küstenwache oder der Marine gerettet wurden.
Bei der jüngsten Tragödie am 3. Mai kamen 40 Flüchtlinge ums Leben; ihr Gummiboot hatte Luft verloren und war gesunken, bevor sie von einem vorbeifahrenden Handelsschiff gerettet werden konnten. Allerdings konnten dafür 160 andere Flüchtlinge gerettet werden. Am Wochenende wurden insgesamt 4.800 Flüchtlinge gerettet oder schafften es bis nach Lampedusa, weitere 2.000 wurden von der libyschen Küstenwache verhaftet, bevor ihre Boote die Küste verlassen konnten.
Das Ziel der EU-Militärintervention wäre es, zu verhindern, dass ein Großteil der Flüchtlinge, die die Überfahrt über das Mittelmeer riskieren wollen, überhaupt an Bord eines Schiffes kommt. Todesfälle durch Ertrinken ließen sich damit zwar nicht verhindern, allerdings wäre dafür gesorgt, dass sich künftige Katastrophen an der libyschen Küste oder den Küstengewässern des Landes abspielen und nicht mehr im Mittelmeer. Durch "Präzisionsbombardements" würden nicht nur leere Boote zerstört werden, sondern auch libysche Fischerboote oder sogar Boote voller Flüchtlinge.
Italien soll die Operation leiten, mindestens zehn EU-Staaten würden sich militärisch daran beteiligen, unter anderem Großbritannien, Frankreich und Spanien. Die Nato würde über die Militäraktionen auf dem Laufenden gehalten werden, aber anfangs nicht direkt beteiligt sein.
Schiffe, Flugzeuge und Kampfhubschrauber der EU würden in libysche Hoheitsgewässer eindringen, um Schiffe zu identifizieren und dabei zu helfen, sie zu "neutralisieren" - d.h. sie in Stücke zu sprengen. Berichten zufolge wäre daran u.a. der Helikopterträger HMS Bulwark beteiligt, das Flagschiff der britischen Royal Navy, das momentan auf Malta stationiert ist.
In Libyen bestehen zwei Regierungen, außerdem sind zahlreiche Milizen aktiv, viele davon wurden von der CIA, der Türkei, Saudi-Arabien, Katar oder anderen Ländern im großen Stil mit Waffen versorgt. Sollten Schiffe oder Flugzeuge der EU von einer dieser Konfliktparteien angegriffen werden, könnte es zu einem Nato-Einsatz kommen, an dem auch amerikanische Streitkräfte beteiligt wären.
Die Grundlage hierfür wäre Artikel 5 der Nato-Charta, der alle Mitglieder des Bündnisses zum Handeln verpflichtet, wenn ein Mitglied angegriffen wird. Auch Präsident Obama hatte sich bei seinem Besuch in den baltischen Staaten auf diesen Artikel berufen.
Der libysche UN-Botschafter Ibrahim Dabbashi erklärte gegenüber Associated Press, die EU habe sich nicht mit seiner Regierung abgesprochen, die aus der Hauptstadt Tripolis vertrieben wurde und sich in der ostlibyschen Stadt Tobruk niedergelassen hat. Weder das Parlament in Tobruk noch die Gegenregierung in Tripolis, die von Islamisten dominiert wird, hat der EU erlaubt, mit Truppen in den libyschen Luftraum, in Küstengewässer oder das Staatsgebiet einzudringen.
Es ist nicht klar, ob der UN-Sicherheitsrat eine EU-Militärmission in Libyen befürworten wird, wenn nicht mindestens eine libysche Instanz die Erlaubnis dazu gibt. Die Vetomächte Russland und China haben öffentlich angedeutet, sie bedauerten ihr Haltung vom März 2011. Damals hatten sie kein Veto gegen eine Resolution des Sicherheitsrats eingelegt, die als Grundlage für den Nato-Luftkrieg gegen Libyen benutzt wurde.
Die litauische Botschafterin und aktuelle Präsidentin des Sicherheitsrates, Raimonda Murmokaite, erklärte am 7. Mai, die Regierung in Tobruk würde die EU-Operation unterstützen und sie sogar fordern, doch Dabbashi dementierte diese Andeutung. "Sie haben uns nie um etwas gebeten. Warum sollten wir ihnen diesen Brief schicken?" fragte er und fügte hinzu: "Wir werden keine Truppen im Land akzeptieren."
Der libysche Botschafter schlug als Alternative zu EU-Truppen vor, der Sicherheitsrat solle sein Embargo gegen Waffenlieferungen an Libyen aufheben. Dann könnte die Regierung in Tobruk ihre Streitkräfte aufbauen, um Tripolis und den Westen des Landes zurückerobern, von wo aus die meisten Flüchtlingsboote nach Europa auslaufen.
Die Regierung in Tobruk hat General Khalifa Haftar zum Oberbefehlshaber der libyschen Armee ernannt. Haftar war unter Gaddafi Stabschef, hatte jedoch in den 1980ern mit ihm gebrochen. Danach lebte er ein Vierteljahrhundert auf der Gehaltsliste der CIA in der Nähe von Langley, Virginia, bevor er während des Nato-Krieges 2011 nach Libyen zurückkehrte.
Vertreter der EU behaupteten, der Plan, kleine Fischerboote zu bombardieren, richte sich nicht gegen die Flüchtlinge selbst, sondern gegen "Schleuser". Großbritannien hat einen Entwurf für eine Resolution ausgearbeitet, in der vom "Einsatz aller Mittel" zur "Zerstörung der Geschäftsgrundlage dieser Menschenhändler" die Rede ist.
Die Konflikte um die Frage, was mit den relativ wenigen Flüchtlingen geschehen soll, die es bis nach Europa geschafft haben - ein paar hunderttausend auf einem Kontinent mit 740 Millionen Menschen - zeigt jedoch, was die EU-Führer wirklich von den Flüchtlingen halten.
Alle 28 EU-Mitglieder unterstützen die Militärintervention, aber es bestehen erbitterte Streitigkeiten über die Absicht der Europäischen Kommission, Quoten für die Zahl der Flüchtlinge festzulegen, die jedes Land aufnehmen muss. Deutschland ist der wichtigste Befürworter einer Quotenregelung. Großbritannien und viele osteuropäische Länder, in denen rechte Parteien rassistische Stimmungsmache gegen Flüchtlinge betreiben, lehnen sie ab.
Deutschland und Schweden haben fast die Hälfte der derzeitigen Flüchtlingswelle aufgenommen und wollen möglichst viele davon in andere EU-Mitgliedsstaaten weiterleiten.