Spiegel Online veröffentlichte am Sonntagabend zum Ende der Münchner Sicherheitskonferenz einen Artikel unter der Überschrift „Nato-Russland-Krise: Das nukleare Gespenst kehrt zurück“. Er bestätigt die Warnungen der World Socialist Web Site vor der Gefahr eines Atomkriegs zwischen den Großmächten, die mit der Ukraine-Krise und der Aggression der imperialistischen Staaten gegen Russland stetig wächst.
Der Artikel beschreibt zu Beginn einen wenig bekannten Zwischenfall vom 25. Januar 1995, der beinahe einen Atomkrieg zwischen den USA und Russland ausgelöst hatte. Damals schossen norwegische und amerikanische Forscher eine Rakete von der norwegischen Insel Andøya ab, was die russischen Streitkräfte in die höchste Alarmstufe versetzte und den damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin veranlasste, die Schlüssel für die Atomwaffen zu aktivieren.
Was war passiert? Die Rakete, die den Wissenschaftlern zur Erforschung der Nordlichter diente, bewegte sich auf der gleichen Flugbahn, den auch eine nuklear bestückte amerikanische Interkontinental-Rakete auf ihrem Weg nach Moskau genommen hätte. Zudem glich die vierstufige Forschungsrakete auf dem russischen Radar einer von einem amerikanischen U-Boot abgefeuerten Trident-Rakete. Alles ging extrem schnell. In einer russischen Radarzentrale schrillten die Alarmsirenen, Techniker griffen zum Telefon und meldeten einen amerikanischen Raketenangriff. Jelzin schaltete per Telefon Generäle und Militärberater zu, gab aber schließlich Entwarnung, da keine zweite Rakete folgte.
Spiegel Online bemerkt, dass Jelzin die russischen Nuklearraketen damals wohl auch deshalb in den Silos ließ, „weil die Beziehungen zwischen Russland und den USA 1995 relativ vertrauensvoll waren“. Heute sei die Situation jedoch eine völlig andere. Das Magazin zitiert hochrangige Politiker, Militärexperten und Wissenschaftler, die einen Eindruck davon vermitteln, wie gefährlich die Lage ist.
„Fünf oder sechs Minuten Entscheidungszeit können reichen, wenn man sich vertraut, wenn Kommunikationskanäle existieren und man diese Maschinerie schnell anwerfen kann“, erklärte der ehemalige russische Außenminister Igor Iwanow am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz, die ganz im Zeichen der Kriegseskalation der imperialistischen Mächte gegen Russland stand. „Dummerweise läuft diese Maschinerie derzeit sehr schlecht,“ fügte Iwanow hinzu.
Auf die Frage, was heute geschähe, wenn sich der Zwischenfall von 1995 wiederholte, erklärte er: „Ich bin nicht sicher, ob dann noch die richtige Entscheidung getroffen würde.“
Iwanow hat in der vergangenen Woche zusammen mit dem früheren britischen Verteidigungsminister und Chef des European Leadership Network (ELN) Des Browne und dem ehemaligen US-Senator Sam Nunn eine Analyse veröffentlicht, die davor warnt, dass „die Institutionen, die zur konstruktiven Interaktion zwischen Russland und dem Westen geschaffen wurden, schwer beschädigt und nicht in der Lage sind, mit den derzeitigen politischen, ökonomischen und sicherheitsrelevanten Fragen umzugehen“.
Die Autoren schreiben, dass es „seit Jahren keine engen persönlichen Beziehungen zwischen Führungspersönlichkeiten und keine klare und zeitnahe Kommunikation gibt, die für das Krisenmanagement notwendig sind“. So sei der Nato-Russland Rat aufgelöst worden und auch andere Vereinbarungen, die zur gegenseitigen Vertrauensbildung dienen, wie der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) oder der Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vetrtrag) seien bereits suspendiert worden oder würden in Frage gestellt.
Bereits im November hatte der in London ansässige Thinktank ELN einen alarmierenden Bericht über die wachsende Kriegsgefahr in Europa veröffentlicht. Seit dem von der Nato unterstützten rechten Putsch in Kiew im vergangenen Februar habe es fast vierzig „Beinahezusammenstöße“ zwischen russischem Militär und den nach Osteuropa entsandten Nato-Streitkräften gegeben, die einen militärischen Konflikt hätten auslösen können.
Nunn zeichnete gegenüber Spiegel Online eine düsteres Bild von der Lage: „Das Vertrauen zwischen der Nato und Russland ist nahezu zerstört. Mitten in Europa findet ein Krieg statt, internationale Verträge sind zusammengebrochen oder stark belastet, wir haben taktische Atomwaffen überall in Europa. Die Situation ist äußerst gefährlich.“
Iwanow vergleicht die heutige Situation mit der Zeit des Kalten Kriegs. Damals habe es zahlreiche Sicherheitsmechanismen gegeben, „eine riesige Menge an Verträgen und Dokumenten, die sichergestellt haben, dass es zu keiner militärischen Konfrontation zwischen der Sowjetunion und der Nato kommt“. Heute sei „die Kriegsgefahr größer“.
Ein Gradmesser für die atomare Bedrohung ist die sogenannte „Doomsday Clock“ des Bulletin of the Atomic Scientists (BAS). Am 19. Januar stellte das seit 1945 existierende BAS die Uhr auf „drei Minuten vor zwölf“. Dort habe sie zuletzt und das einzige Mal 1984 gestanden, als die USA das atomare Wettrüsten gegen die Sowjetunion verschärften und in der Folge „alle Kommunikationskanäle eingeschränkt oder gekappt wurden“.
Die aktuelle Entscheidung begründet das BAS wie folgt. Die „politischen Führer“ hätten es versäumt, „die Bürger vor einer möglichen Katastrophe zu schützen“, und gefährdeten damit „jede Person auf der Erde“. Im Jahr 2014 hätten die Nuklearmächte die „verrückte und gefährliche Entscheidung getroffen, ihre atomaren Arsenale zu modernisieren“. Sie hätten „vernünftige Bemühungen zur Abrüstung“ aufgegeben und erlaubt, dass der „wirtschaftliche Konflikt zwischen der Ukraine und Russland sich zu einer Ost-West-Konfrontation entwickelt“.
Bezeichnenderweise nennen weder das Bulletin of the Atomic Scientists noch Spiegel Online die Verantwortlichen für die wachsende Gefahr eines nuklearen Kriegs beim Namen. Es sind die imperialistischen Mächte, die zunächst mithilfe faschistischer Kräfte einen Putsch in der Ukraine organisiert haben, seitdem die Aggression gegen Russland vorantreiben und nun Waffenlieferungen an das pro-westliche Regime in Kiew vorbereiten.
Das Schweigen der Wissenschaftler und Journalisten ist wenig überraschend. Während das Bulletin Illusionen in die verlogenen Versprechen der Obama-Regierung in eine angeblich atomwaffenfreie Welt schürt, gehört der Spiegel zu den deutschen Medien, die im vergangenen Jahr am aggressivsten für Krieg hetzten und eine schärferes Vorgehen gegen Russland forderten.
Nun scheinen einige Mitarbeiter in der Redaktion zu realisieren, welch extrem gefährliche Situation sie herbeigeschrieben haben. So bemerkt der Autor des Artikels, dass auch in Deutschland taktische Atomwaffen auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel lagern, „die derzeit zu hohen Kosten modernisiert werden“. Sie stünden zwar unter US-Kommando, würden „im Kriegsfall“ jedoch „von deutschen ‚Tornado‘-Kampfjets abgeworfen“.