August 1914: Das Märchen von der allgemeinen Kriegsbegeisterung

Wer kennt nicht die fähnchenschwenkenden Menschenmengen und jubelnden Soldaten auf Fotos, die die allgemeine Kriegsbegeisterung der Bevölkerung in den ersten Augusttagen 1914 belegen sollen! Es ist ein Propagandamärchen, wie neuere wissenschaftliche Veröffentlichungen und Studien belegen.

Nicht anders als heute, wo die Medien versuchen, mit Hilfe von Fernsehaufnahmen die Stimmung für Kriegseinsätze im Nahen Osten, Afghanistan oder in der Ukraine zu manipulieren, setzte die Presse damals gezielt die noch nicht so alte Fotografie ein, um die angeblich große Unterstützung für die Kriegspolitik des Kaisers und der Reichsregierung zu belegen. Der Berliner Historiker Oliver Janz schreibt dazu in seinem Ende letzten Jahres veröffentlichten Buch „14 – Der große Krieg“: „Die These von der allgemeinen Kriegsbegeisterung im August 1914 ist einer der großen Geschichtsmythen des 20. Jahrhunderts.“

Das gelte vor allem für Deutschland, wo rechte Kreise bis hin zu den Nationalsozialisten immer wieder das „Augusterlebnis“ beschworen haben. Die Behauptung der allgemeinen Kriegsbegeisterung sei jedoch „Ergebnis selektiver Wahrnehmung durch die Meinungsführer in Presse, Publizistik und Politik“, um den Kriegseintritt Deutschlands zu legitimieren.

Oliver Janz, dessen Buch begleitend zur achtteiligen Fernsehserie „14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs“ erschien, trifft zwei grundlegende Feststellungen, die er auf neuere Studien stützt (u.a. von Wolfgang Kruse, Eine Welt von Feinden, 1997; Jeffrey Verhey, Der ‘Geist von 1914’ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, 2000; Jean-Jacques Becker, Entrées en guerre, Paris 2004; Lawrence Sondhaus, World War One, 2011).

Erstens: Bis unmittelbar vor Ausbruch des Kriegs und auch noch in den ersten Tagen herrschte in Deutschland eine massive Ablehnung des Kriegs vor allem unter Arbeitern. Auch die ländliche Bevölkerung stand der Mobilmachung weitgehend ablehnend gegenüber, vor allem, weil sie um die gerade begonnene Ernte fürchtete. Ähnlich war die Situation in Frankreich, Großbritannien, Österreich-Ungarn, Italien und Russland.

In allen kriegführenden Ländern waren es hauptsächlich bürgerliche und kleinbürgerliche Schichten und Intellektuelle, die Patriotismus und Kriegsbegeisterung an den Tag legten. Auch unter den Kriegsfreiwilligen, die immer wieder als Beweis für den allgemeinen Kriegstaumel angeführt werden, überwogen Gymnasiasten und Studenten aus dem Bürgertum, die den Krieg als Abenteuer und Befreiung von Zwängen begrüßten. Ihre Zahl lag im August jedoch nicht bei bis zu zwei Millionen, wie bisher behauptet, sondern nach neueren Schätzungen bei etwa 185.000.

Zweitens: Ohne die Zustimmung und die aktive Mitwirkung der Parteien der Zweiten Internationale, insbesondere der deutschen Sozialdemokratie, und der Gewerkschaften hätten die imperialistischen Regierungen ihre Mobilmachung nicht so schnell durchführen können.

Die allseits bekannten Jubel-Fotos sind in den letzten Tagen vor Kriegsausbruch entstanden, als sich Studentenverbände und Anhänger nationaler Bürgervereine auf zentralen Plätzen vor allem in Universitätsstädten versammelten, patriotische Lieder sangen, durch die Cafés zogen und improvisierte Propagandareden für den Krieg hielten. Wäre man in die Nebenstraßen gegangen, wo die armen Arbeiterfamilien lebten, hätte man ein anderes Bild gewonnen – einen Eindruck von Angst, Verzweiflung und Wut gegen die Kriegsvorbereitungen.

Über die Ereignisse vom 1. August, dem Tag der Generalmobilmachung, als sich rund 50.000 Kriegsbefürworter in Berlin versammelten und der Kaiser in einer Ansprache erklärte, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, berichteten die Zeitungen überschwänglich. Die Frankfurter Zeitung zeigte sich tief beeindruckt und schrieb über den „Jubel, wie er wohl noch niemals in Berlin erklungen ist“. In den folgenden Tagen bemühte sich die bürgerliche Presse, den Mythos der nationalen Einheit zu verbreiten.

Doch auch wenn die Kundgebung vom 1. August die bisher größte patriotische Versammlung in der Hauptstadt war, brachte sie nur einen Bruchteil der Leute auf die Beine, die vier Tage zuvor an einer Arbeiterversammlung der SPD gegen den Krieg teilgenommen hatten.

„In keinem Land sind im Juli 1914 mehr Menschen gegen den Krieg auf die Straße gegangen als in Deutschland“, schreibt Oliver Janz. Die SPD hatte in der letzten Juliwoche deutschlandweit Hunderte von Versammlungen und Demonstrationen gegen den Krieg organisiert, an denen sich etwa 750.000 Menschen beteiligten. Allein in Berlin kamen am 28. Juli, wenige Tage vor der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten, im Treptower Park zwischen 100.000 und 200.000 Menschen zusammen. Der Massenandrang bei diesen Demonstrationen war weit höher als bei früheren sozialdemokratischen Kundgebungen, obwohl sie meist an Werktagen stattfanden und keine längere Kampagne vorausging.

„In der deutschen Arbeiterschaft stieß der Krieg also auf breite Ablehnung“, konstatiert Oliver Janz und fügt hinzu: „...doch die größte sozialistische Partei der Welt hat dieses Potenzial nicht dazu genutzt, massiven Druck auf die Reichsleitung auszuüben. Vielmehr fügte sich die Führung der Partei in das Ende Juli verhängte landesweite Demonstrationsverbot. Somit konnten ihre Anhänger das öffentliche Bild nicht mehr in dem Maße bestimmen, wie es ihrer Stärke entsprochen hätte.“

Deutlich wird damit der Rechtfertigungstheorie vor allem von sozialdemokratischen Politikern und Historikern widersprochen, die SPD habe sich 1914 der allgemeinen patriotischen Stimmung der Bevölkerung angepasst. Oliver Janz wendet sich explizit gegen solche Darstellungen und schreibt: „Die Führer der sozialistischen Parteien sind ... keineswegs von ihrer Basis zur Unterstützung des Krieges und zum Burgfrieden gedrängt worden.“

Es war umgekehrt die vollständige Unterordnung der SPD-Führung unter den deutschen Imperialismus, die die Arbeiterklasse gelähmt und der Kriegspolitik ausgeliefert hat. Ihre Reichtagsfraktion stimmte am 4. August den Kriegskrediten zu, wie bereits am Tag zuvor die französischen Sozialisten, schloss einen „Burgfrieden“ mit der Reichsregierung und verzichtete auf grundsätzliche Kritik an der Regierungspolitik. Als die Reichswehr Belgien überfiel und grausame Verbrechen an der Zivilbevölkerung verübte, weigerte sich die SPD-Reichstagsfraktion mehrheitlich, die Verletzung der belgischen Neutralität zu verurteilen.

Unmittelbar nach dem 4. August schwenkte die SPD-Führung auf den chauvinistischen Kurs der Vaterlandsverteidigung ein und verband dies in ihren zahlreichen Zeitungen mit einer Hetzkampagne gegen Russland. Europa solle vom „Hort der Reaktion“, dem Zarismus befreit werden – doch nicht mehr mit den Mitteln der Massenstreiks und der Revolution wie im Jahr 1905, sondern mit den Waffen der kapitalistischen Regierung.

Dies sei zugleich ein Kampf gegen die „russische Unkultur, zum Schutze deutscher Kulturgüter, zum Schutze deutscher Frauen und Kinder“, schrieb der sozialdemokratische Abgeordnete Otto Braun am 5. August in sein Tagebuch. Oder solle man zusehen, fragte er, wie die „schnapsgefüllten russischen Kosakenhorden die deutschen Fluren zerstampfen, deutsche Frauen und Kinder martern, die deutsche Kultur zertreten?“

Eine Gruppe um die sozialdemokratischen Abgeordneten Paul Lensch und Heinrich Cunow entwickelte die Auffassung, den Kern des Konflikts bilde der deutsch-englische Gegensatz. Der deutsche Staat mit der straffen militärischen Tradition, der allgemeinen Schul- und Wehrpflicht, dem allgemeinen Wahlrecht und der Kriegswirtschaft entspreche einer „sozialisierten Gesellschaft“, während England für die ungebremste liberale Marktwirtschaft stehe. Ein Sieg des Reichs über England sei gleichbedeutend mit der Überwindung des „Weltbourgeois“ durch den „Weltproletarier“.

Besonders die sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer übernahmen diese Auffassung und versuchten, sich in den bürgerlichen Staat zu integrieren. Sie begrüßten die staatlich gelenkte Kriegswirtschaft als „Kriegssozialismus“ und wurden von den Behörden in die wirtschaftliche Verantwortung eingebunden. 1916 schrieb das Hilfsdienstgesetz die Einrichtung von Arbeiterausschüssen in den Betrieben fest, eine erste Form der späteren Mitbestimmungsgremien.

Eine besonders üble Rolle beim Trommeln für den Krieg spielten in den Tagen des August zahlreiche Akademiker, Philosophen, Literaten und Künstler, die sich teilweise vor 1914 als radikale Opposition gegen die bürgerliche Gesellschaft ausgegeben hatten. Dies traf ebenso auf Frankreich und besonders auf Italien zu, wo sich große Teile der intellektuellen „Avantgarde“ – von den Futuristen bis zu D’Annunzio, dem Star des modischen Ästhetizismus – für die Aufgabe der italienischen Neutralität und die Kriegsteilnahme aussprachen. Auch Benito Mussolini, der damalige linke Sozialist und spätere Faschistenführer, rechnete sich zu dieser Strömung und wurde von der italienischen Sozialistischen Partei wegen seiner Kriegsbefürwortung im November 1914 ausgeschlossen.

In Deutschland begrüßten zahlreiche Künstler und Literaten des Expressionismus den Krieg, beispielsweise Franz Marc, August Macke, Max Beckmann, Richard Dehmel oder Herwarth Walden, der Herausgeber der Avantgarde-Zeitschrift Sturm, der gleich einen Heeresmarsch komponierte. Viele meldeten sich freiwillig. Ab August setzte eine regelrechte geistige Mobilmachung ein, für die der Begriff "Ideen von 1914" geprägt wurde -- im Gegensatz zu den "Ideen von 1789" der französischen Revolution.

Der berüchtigte „Aufruf an die Kulturwelt“ vom September, den 93 führende Vertreter der deutschen Kultur und Wissenschaft unterschrieben, verteidigte den deutschen Einmarsch in Belgien. Das Manifest leugnete die Gräueltaten der deutschen Militärs an belgischen Zivilisten und verteidigte die Zerstörung von Teilen der alten Universitätsstadt Löwen, wo die Bibliothek mit unersetzlichen mittelalterlichen Büchern und Handschriften in Flammen aufging.

In dem international verbreiteten Text stehen Sätze wie: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt“, und: „Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins“. Zu den Unterzeichnern des Manifests gehörten solche bekannten Künstler wie Gerhart Hauptmann, Max Liebermann, Max Reinhardt, Richard Dehmel, Max Halbe oder auch der Architekt und Vorläufer des Bauhauses Bruno Paul, ebenso berühmte Wissenschaftler wie Max Planck, Wilhelm Röntgen und Ernst Haeckel.

Dem „Aufruf an die Kulturwelt“ folgte am 16. Oktober eine „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“, die mit mehr als 4.000 Unterzeichnern fast den gesamten Lehrkörper der deutschen Hochschulen erfasste. Nur wenige widerstanden der Kriegspropaganda, darunter Albert Einstein oder auch der Medizinprofessor Georg Friedrich Nicolai, der einen Gegenaufruf, den „Aufruf an die Europäer“ schrieb, ihn aber nicht in Deutschland veröffentlichte, weil er zu wenig Unterstützung unter den Akademikern fand.

„Die kritiklose Haltung der deutschen Intellektuellen gegenüber der eigenen politischen und militärischen Führung hat dem Weltruf der deutschen Wissenschaft und Kultur schweren Schaden zugefügt“, klagt Oliver Janz. Er erklärt sich diese Haltung durch das „tiefe Krisenbewusstsein“ und den Kulturpessimismus, der die Intellektuellen vor 1914 erfasst habe. Dahinter, wie Janz richtigerweise bemerkt, „stand oft eine elitäre Ablehnung der Massen und ihrer Forderung nach Teilhabe, die auch die privilegierte Stellung der bürgerlichen Intelligenz bedrohte“.

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