Seit Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Anfang des Jahres in sorgfältig abgestimmten Reden das „Ende der militärischen Zurückhaltung Deutschlands“ verkündet haben, laufen die Medien Sturm gegen die tief verwurzelte Kriegsfeindschaft breiter Bevölkerungsschichten. Die jüngste Ausgabe des Spiegel setzt dieser Kampagne die vorläufige Krone auf.
Schon das Titelbild, das an jedem Zeitungskiosk prangt, zielt auf Einschüchterung. Es zeigt einen Schützen mit Tarnmaske, der auf den Betrachter zielt und anscheinend einen pro-russischen Milizionär in der Ukraine darstellen soll. Darunter prangt die Überschrift: „Krieg in Europa?“
Die Titelgeschichte selbst besteht dann aus einer Mischung von Lügen, Unterstellungen und Halbwahrheiten. Sie fasst alle Argumente zusammen, mit denen die Schreiberlinge in den Redaktionsstuben seit Wochen gegen die weit verbreitete Ablehnung ihrer eigenen Kriegspropaganda wüten.
Der Spiegel-Artikel wurde sorgfältig diskutiert und ausgearbeitet: Obwohl nur knapp drei Seiten lang, haben ihn neun Autoren unterzeichnet. Er wird durch ein Interview mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier ergänzt.
Er dreht sich um zwei Lügen, die im Mittelpunkt der offiziellen Kriegspropaganda stehen. Die erste lautet, der Konflikt in der Ukraine sei den Westmächten aufgezwungen worden, Russland sei der Aggressor, niemand habe, so Steinmeier, „vorhersehen können, wie schnell wir in die schwerste Krise seit dem Ende des Kalten Kriegs geschlittert sind“. Die zweite Lüge lautet, die „Kriegsangst“ der deutschen Bevölkerung sei zwar „verständlich“, aber hoffnungslos naiv und gefährlich.
Gleich zu Beginn entwirft der Spiegel ein, wie er es nennt, „furchteinflößendes Szenario“: „Die Diplomatie hat bislang versagt, und Putin scheint keine Angst vor wirtschaftlichen Einbußen zu haben? Was dann? Krieg? Es wäre Wahnsinn, aber undenkbar ist es seit der vergangenen Woche nicht mehr.“
Allein dieser Absatz enthält derart viele Verdrehungen, dass man kaum weiß, mit welcher man anfangen soll.
Beginnen wir mit der „Diplomatie“, die laut Spiegel „versagt“ hat. Meinen die Autoren damit das kurze Treffen, zu dem sich die Außenminister Russlands, der Ukraine und der USA sowie die außenpolitische Vertreterin der EU am 17. April in Genf trafen? Mittlerweile ist klar, dass die dort getroffene Vereinbarung, alle bewaffneten Milizen in der Ukraine zu entwaffnen, lediglich dazu diente, den Druck und die Provokationen gegen Russland zu verschärfen.
Das Regime in Kiew dachte nicht im Traum daran, die faschistischen Milizen, denen es seine Macht verdankt, zu entwaffnen. Es hat sie zum Teil in die offiziellen Sicherheitskräfte eingegliedert, zum Teil operieren sie unter dem Schutz von Armee und Geheimdienst weiterhin selbständig und terrorisieren die ostukrainische Bevölkerung. Die russische Regierung wird dagegen für sämtliche Aktivitäten von Gruppen verantwortlich gemacht, die sich dem Regime in Kiew widersetzen, obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass sie diese tatsächlich beeinflusst oder steuert.
Doch selbst wenn man diese Tatsachen weglässt: Will der Spiegel seinen Lesern wirklich weismachen, ein abendliches Treffen zwischen vier Außenministern erschöpfe die Möglichkeiten der Diplomatie? Wenn „ein großer Krieg in Europa“ tatsächlich „wieder eine Möglichkeit“ ist, wie die Spiegel-Autoren schreiben, müssten dann die diplomatischen Bemühungen nicht Tag und Nacht auf Hochtouren laufen, um eine solche Katastrophe zu verhindern? Dass nichts dergleichen geschieht, bestätigt, dass Washington und Berlin die Krise in der Ukraine bewusst provoziert haben.
Außenminister Steinmeiers Behauptung, niemand habe vorhersehen können, „wie schnell wir in die schwerste Krise seit dem Ende des Kalten Kriegs geschlittert sind“, ist in diesem Zusammenhang entlarvend. Der Begriff stammt vom britischen Premier David Lloyd George, der 1920 behauptet hatte, keiner der führenden Männer der Zeit habe den Ersten Weltkrieg gewollt, sie seien gewissermaßen „hineingeschlittert“. Das wurde damals in Deutschland begeistert aufgegriffen und als Absolution von jeder Kriegsschuld interpretiert. Der Historiker Christopher Clark hat dieses Motiv, leicht abgewandelt in „Die Schlafwandler“, zum Titel seines kürzlich erschienen Buches über die Ursachen des Ersten Weltkriegs gemacht. Er wurde deshalb von der deutschen Presse begeistert gefeiert.
Noch Ende Januar hatte sich Steinmeier ganz anders angehört. Vor dem Bundestag hatte er erklärt, Deutschland sei „zu groß und zu wichtig“, als dass es sich noch länger aus den Krisengebieten und Brennpunkten der Weltpolitik heraushalten könne. „So richtig die Politik der militärischen Zurückhaltung ist, sie darf nicht missverstanden werden als eine Kultur des Heraushaltens“, sagte er.
In der Ukraine wird diese neue, aggressive außenpolitische Linie praktisch erprobt. Schon Steinmeiers Vorgänger Guido Westerwelle hatte sich in Kiew unter die Demonstranten gemischt, die den Rücktritt des gewählten Präsidenten forderten, Regierungsgebäude besetzten und mit bewaffneten faschistischen Milizen zusammenarbeiteten. Steinmeier selbst traf sich dann wiederholt mit den Oppositionsführern, darunter Faschistenführer Oleh Tjagnibok, und handelte in der Nacht zum 22. Februar das Abkommen aus, das den Startschuss zum Putsch gegen Präsident Janukowitsch gab.
Dass ein Putschregime, in dem die Faschisten von Swoboda Schlüsselministerien besetzen und auch die Vaterlandspartei von Regierungschef Arsenij Jazeniuk den Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher Stepan Bandera verehrt, in der Ukraine auf Widerstand stoßen würde, war offensichtlich. Schließlich sind mit Ausnahme von Polen nirgendwo sonst so viele Menschen dem Vernichtungskrieg der Nazis und dem Holocaust zum Opfer gefallen, wie in der Ukraine.
Steinmeiers Behauptung, niemand habe dies voraussehen können, ist eine unverschämte Lüge. Tatsächlich war die Provokation gewollt und beabsichtigt. Die stellvertretende amerikanische Außenministerin Victoria Nuland, mit der Steinmeier eng zusammenarbeitet, hat öffentlich zugegeben, dass allein die USA in den letzten zwanzig Jahren fünf Milliarden Dollar in die ukrainische Opposition investiert haben, um einen Regimewechsel herbeizuführen. Entsprechende Zahlen für die Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU, die Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen und die Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD, die in der Ukraine ebenfalls höchst aktiv sind, liegen nicht vor.
Mit ihrem provokativen Vorgehen versuchen Deutschland, die EU und die USA nicht nur die Rohstoffe, fruchtbaren Agrarflächen und billigen Arbeitskräfte der Ukraine unter ihre Kontrolle bringen, sie wollen vor allem Russland zurückdrängen und schwächen, dass sie als Hindernis für ihre Vorherrschaft über die eurasische Landmasse und im Nahen Osten betrachten.
Die Bundesregierung spitzt den Konflikt mit Russland auch deshalb zu, weil sie durch eine Art Kriegsschock den Widerstand gegen den Militarismus brechen will. Sie nutzt die Ukrainekrise in ähnlicher Weise, wie die US-Regierung die Anschläge vom 11. September 2001: als Vorwand für das Schüren einer ständigen Kriegshysterie und für innere und äußere Aufrüstung. Dabei spielt sie ein äußerst riskantes Spiel und nimmt die Gefahr eines dritten, nuklearen Weltkriegs in Kauf.
Dieses Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch den Spiegel-Artikel. Immer wieder wird der „Pazifismus“, die „Friedensliebe“ und die „Kriegsangst“ der Deutschen kritisiert.
Deutschland sei „eine Nation, die seit 1945 in besonderer Weise von Kriegsängsten heimgesucht wird“, heißt es an einer Stelle: „Lieber nachgiebig sein, als einen bewaffneten Konflikt riskieren – das ist eine Grundstimmung in der Bevölkerung.“ Und: „Drei Viertel der Deutschen sind gegen ein militärisches Eingreifen der Nato. Ein Drittel zeigt Verständnis für Putins Annexion der Krim. Auch in diese Zahlen fließt die Angst vor dem Krieg hinein.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die Spiegel-Autoren bezeichnen diese Haltung nicht nur als falsch, sondern auch als moralisch bedenklich. „Die Ukraine rutscht in einen Bürgerkrieg, den Russland befeuert. Der Westen wird mit Wirtschaftssanktionen antworten, mehr nicht“, schreiben sie. „Das ist für die Westeuropäer nicht so schlimm wie ein Krieg, den sie am eigenen Leib erfahren müssen. Es sterben dann die anderen. Aber es ist auch eine unerträgliche Situation, dem Töten auf dem eigenen Kontinent zuzusehen. Moralisch steht man nicht besser da, als wenn man zu den Waffen griffe.“
An anderer Stelle berufen sie sich auf den Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der zwischen „heroischen“ und „postheroischen“ Gesellschaften unterscheidet. Der „Postheroismus“, fasst der Spiegel Münklers Standpunkt zusammen, sei „auch ein Ausdruck von Wohlstand“: „Wer viel hat, möchte das nicht aufs Spiel setzen. In ärmeren Gesellschaften würden Männer ihren Stolz dagegen auch aus heroischen Idealen beziehen und wären daher leichter für einen Krieg zu begeistern.“ Mit den „heroischen“ Gesellschaften kann nur eines gemeint sein: die Glorifizierung des Heldentods durch die Nazis.
Die Forderung, die Deutschen müssten endlich ihren „Pazifismus“ überwinden und wieder Krieg führen, findet sich auch in zahlreichen anderen Leitartikeln und Kommentaren deutscher Medien. So veröffentlichte die Welt am 24. April einen Kommentar der US-Historikerin Anne Applebaum mit dem Titel: „Deutsche, ihr müsst wieder Abschreckung lernen!“
Darin schreibt Applebaum, selbst wenn deutsche Politiker die Diplomatie der nuklearen Abschreckung vorzögen, sei die Wahrheit anders: „Auch wenn Deutschland der Gewalt abgeschworen hat, heißt das nicht, dass Russland selbiges getan hätte. Und nur weil die Deutschen sich an das Völkerrecht halten, muss der Russe dies nicht tun. Russland ist nicht nur am internationalen Recht nicht interessiert, Russland will es zerstören.“
Deshalb könne Diplomatie „auf diese massiven Angriffe nicht die Antwort sein“. Weitaus wichtiger sei, „dass Europa die Nato wiedererstarken lässt, damit diese ihre Truppen an die östlichen Grenzen stellt“. Um seinen „außergewöhnlichen Wohlstand“ zu verteidigen, brauche Deutschland „mehr als nur Diplomatie“.
Anne Applebaum ist übrigens seit 22 Jahren mit dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski verheiratet, mit dem Steinmeier in der Ukraine aufs engste zusammengearbeitet hat. Einem Bericht der polnischen Wochenzeitung Nie (Nein) zufolge, hatte Sikorski bereits im letzten Jahr 86 Mitglieder der ukrainischen faschistischen Miliz „Rechter Sektor“ in einem polnischen Polizeiausbildungszentrum trainieren lassen.
Der Stanford-Historiker Ian Morris geht noch einen Schritt weiter. Er kann der Schlächterei des Ersten und Zweiten Weltkriegs Positives abgewinnen. In der Washington Post veröffentlichte er am 25. April einen Artikel mit dem Titel „Langfristig bringen uns Kriege mehr Sicherheit und Reichtum“.
Darin rechnet er vor, dass im Steinzeitalter 10 bis 20 Prozent aller Menschen durch andere Leute umgebracht wurden. Die 100 bis 200 Millionen Opfer der beiden Weltkriege machten dagegen nur ein bis zwei Prozent der 10 Milliarden Menschen aus, die im Laufe des Jahrhunderts auf der Erde lebten. „Es kann gut sein, dass Krieg der schlechteste Weg ist, den man sich vorstellen kann, um größere, friedlichere Gesellschaften zu schaffen, aber die deprimierende Tatsache ist, dass er so ziemlich der einzige Weg ist“, folgert er.
Geht man nach dem jüngsten Spiegel, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis Herr Morris seinen faschistischen Müll, der ganz im Sinne Hitlers Massenmord als Mittel zur Veredelung der menschlichen Rasse betrachtet, auch in deutschen Kommentarspalten auskippen darf.