Die geopolitische Dimension des Umsturzes in der Ukraine

„Als die Sowjetunion Ende 1991 zusammenbrach, wollte Dick nicht nur die Zerlegung der Sowjetunion und des russischen Reichs erleben, sondern auch von Russland selbst, damit es die restliche Welt nie wieder bedrohen konnte“, berichtet der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates in seinen kürzlich erschienenen Memoiren. Mit Dick ist der damalige Verteidigungsminister und spätere Vizepräsident Dick Cheney gemeint.

Die Äußerung wirft ein Licht auf die geopolitischen Dimensionen des jüngsten Umsturzes in der Ukraine. Es geht nicht so sehr um innenpolitische Fragen oder gar um Korruptionsbekämpfung und Demokratie, sondern um einen internationalen Kampf um Macht und Einfluss, der sich seit einem Vierteljahrhundert hinzieht.

Auch die Financial Times stellt die Ereignisse in der Ukraine in diesen Zusammenhang. „Ein Vierteljahrhundert lang war das riesige, unsicher zwischen der EU und Russland steckende Territorium Gegenstand eines geopolitischen Wettkampfs zwischen dem Kreml und dem Westen“, heißt es in einem Editorial vom 23. Februar. 2008 sei ein plumper Versuch von Präsident George W. Bush gescheitert, die ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine und Georgien in die Nato hineinzuziehen. „Aber jetzt bietet die Maidan-Revolution allen Parteien eine zweite Chance, den Status der Ukraine an der Bruchlinie Europa neu zu überdenken.“

Die Auflösung der Sowjetunion durch den russischen Präsidenten Boris Jelzin im Dezember 1991 war ein unverhofftes Geschenk an die imperialistischen Mächte. Die Oktoberrevolution 1917 hatte einen beträchtlichen Teil der Erdoberfläche der kapitalistischen Ausbeutung entzogen. Das wurde von der internationalen Bourgeoisie auch dann noch als Bedrohung empfunden, als die stalinistische Bürokratie das Ziel der sozialistischen Weltrevolution längst verraten und eine ganze Generation marxistischer Revolutionäre ermordet hatte. Die wirtschaftliche und militärische Stärke der Sowjetunion stellte zudem ein Hindernis für die Weltherrschaft der USA dar.

Mit der Auflösung der Sowjetunion und der Einführung kapitalistischer Verhältnisse wurden der gesellschaftliche Reichtum, den Generationen von Arbeitern erarbeitet hatten, zur Plünderung durch eine Handvoll Oligarchen und das internationale Finanzkapital freigegeben. Die sozialen Errungenschaften auf dem Gebiet der Erziehung, der Gesundheitsversorgung, der Kultur und der Infrastruktur wurden zerschlagen und dem Verfall überlassen.

Doch den USA und den europäischen Großmächten reichte dies nicht. Sie wollten sicherstellen, dass Russland nie mehr ihre globale Vormachstellung gefährden kann, wie die eingangs zitierte Äußerung Dick Cheneys unterstreicht.

Bis 2009 nahm das US-dominierte Militärbündnis Nato fast alle Staaten Osteuropas, die einst zum Einflussbereich der Sowjetunion gehört hatten, sowie die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen als Mitglieder auf. Doch die Bemühungen, auch die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken in die Nato einzubeziehen, scheiterten am Widerstand Moskaus. Die Ukraine mit ihren 46 Millionen Einwohnern und ihrer strategischen Lage zwischen Russland, Europa, Schwarzem Meer und Kaukasus stand stets im Mittelpunkt dieser Bemühungen.

Der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski hatte schon 1997 geschrieben, ohne die Ukraine seien alle Bemühungen Russlands, seinen Einfluss auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion wieder auszubauen, zum Scheitern verurteilt. In seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ vertrat Brzezinski die These, die Zukunft der globalen Vormachstellung der USA hänge davon ab, das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht auf der eurasischen Landmasse zu verhindern. (Siehe: „Der Machtkampf in der Ukraine und Amerikas Strategie der Vorherrschaft“)

2004 unterstützten und finanzierten die USA und die europäischen Mächte die „Orangene Revolution“, die in der Ukraine eine prowestliche Regierung an die Macht brachte. Doch diese brach aufgrund innerer Konflikte bald wieder auseinander. Auch der Versuch, Georgien durch einen provozierten Krieg gegen Russland in die Nato einzubinden, scheiterte 2008.

Nun wollen die USA und ihre europäischen Verbündeten den Umsturz in der Ukraine für einen neuen Anlauf nutzen, auch andere ehemalige Sowjetrepubliken zu destabilisieren und in ihren Einflussbereich zu ziehen. Dabei nehmen sie auch die Gefahr eines bewaffneten Konflikts mit Russland in Kauf.

Der Informationsdienst Stratfor, der enge Beziehungen zu den US-Geheimdiensten unterhält, schreibt dazu unter der Überschrift: „Nach der Ukraine wendet sich der Westen der Peripherie Russlands zu“: „Der Westen will seinen Erfolg bei der Unterstützung von Protesten gegen die ukrainische Regierung in eine breitere, die ganze Region umfassende Kampagne ummünzen.“

Eine georgische Delegation besuche derzeit Washington und der Premierminister des Landes, Irakli Gharibaschwili, solle diese Woche US-Präsident Barack Obama, Vizepräsident Joe Biden und Außenminister John Kerry treffen, berichtet Stratfor. Auch der moldawische Premierminister Iurie Leanca plane am 3. März ein Treffen mit US-Vizepräsident Joe Biden im Weißen Haus. „Bei beiden Besuchen stehen die Aussichten der Länder für eine Integration in den Westen ganz oben auf der Tagesordnung – anders gesagt, wie sie näher an die Vereinigten Staaten und die Europäische Union heran und von Russland weg gebracht werden können.“

Auch Lilia Shetsova, Mitarbeiterin der US-Stiftung Carnegie Endowment for International Peace (sic!) in Moskau drängt darauf, den Umsturz in der Ukraine auf andere Länder und auf Russland selbst zu übertragen. „Die Ukraine ist zu dem schwächsten Glied in der postsowjetischen Kette geworden“, schreibt sie in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung. „Man müsste im Auge behalten, dass ähnliche Umwälzungen auch in anderen Ländern möglich sind.“

Shetsova hebt dabei vor allem ein Merkmal des ukrainischen Umsturzes hervor, das sie für besonders wichtig hält: Die militanten faschistischen Kräfte, die am Schluss auf dem Maidan dominierten.

„Janukowitschs Fall ist im Wesentlichen den ‚radikalen Elementen‘ auf dem Maidan geschuldet, unter anderem dem Rechten Sektor, die zu einer ernst zu nehmenden politischen Kraft geworden sind“, schreibt sie. „Die Zukunft der Ukraine wird davon abhängen, ob die Ukrainer den Maidan behalten können.“

Bei den „radikalen Elemente“, die Shetsova unbedingt behalten will, handelt es sich um bewaffnete faschistische Milizen, die sich auf die schlimmsten Traditionen der ukrainischen Geschichte stützen: Auf die Pogrome und Massenmorde an Juden und Kommunisten während des Zweiten Weltkriegs. Die zukünftige Rolle dieser faschistischen Milizen wird darin bestehen, die Arbeiterklasse zu terrorisieren und einzuschüchtern.

Es hat nur wenige Stunden gedauert, bis der reaktionäre soziale Inhalt des Umsturzes in der Ukraine sichtbar wurde. Die „europäischen Werte“, die er dem Land angeblich gebracht hat, bestehen in massiven Angriffen auf die ohnehin bettelarme Arbeiterklasse. Als Voraussetzung für Kredite, die das Land dringend braucht, um den sofortigen Bankrott zu verhindern, verlangen die EU und der IWF die Freigabe des Wechselkurses der Grywna, ein knallhartes Sparprogramm und eine Versechsfachung des Gaspreises für Privathaushalte.

Die Freigabe des Wechselkurses wird eine rasende Inflation, einen entsprechenden Anstieg der Lebenshaltungskosten und die Vernichtung aller noch vorhandenen Sparguthaben zur Folge haben. Das Sparprogramm wird sich vor allem gegen Renten und Sozialausgaben richten. Und die Erhöhung des Gaspreises wird dazu führen, dass viele Familien ihre Wohnungen nicht mehr heizen können.

Die Ukraine wird so zu einem Land, in dem gut ausgebildete Arbeiter und Akademiker zu Löhnen ausgebeutet werden können, die weit unter dem chinesischen Niveau liegen. Das ist vor allem für Deutschland interessant, das schon jetzt hinter Russland der zweitgrößte Handelspartner der Ukraine und mit einem Volumen von 7,4 Mrd. Dollar der zweitgrößte Investor in dem Land ist.

Während für die USA die Isolation Russlands im Vordergrund steht, ist es für Deutschland die wirtschaftliche Ausbeutung der Ukraine, die es bereits zweimal – 1918 und 1941 – militärisch besetzt hat. Es will die Ukraine als Billiglohnplattform benutzen und einsetzen, um die Löhne in Osteuropa und in Deutschland selbst weiter nach unten zu drücken.

Laut einer Statistik des Instituts für deutsche Wirtschaft liegen die Lohnkosten in der Ukraine schon jetzt am unteren Ende der internationalen Skala. Mit 2,50 Euro pro geleisteter Stunde liegen die durchschnittlichen Arbeitskosten (Bruttolöhne und Nebenkosten) für Arbeiter und Angestellte deutlich unter denen Chinas (3,17 Euro), Polens (6,46 Euro) und Spaniens (21,88 Euro). In Deutschland kostet eine Arbeitsstunde mit 35,66 Euro mehr als 14 Mal vierzehnmal so viel.

Das ukrainische Statistikamt gibt den monatlichen Durchschnittslohn mit 3.073 Grywna (220 Euro) an. Selbst Akademiker werden extrem schlecht bezahlt.

Der verjagte Präsident Janukowitsch vertrat selbst die Interessen ukrainischer Oligarchen. Er war vor dem Assoziierungsabkommen mit der EU nur abgerückt, weil er fürchtete, die sozialen Folgen politisch nicht zu überleben. Nun dient sein Sturz als Vorwand, ein Maß an Armut und Ausbeutung einzuführen, das mit Demokratie völlig unvereinbar ist und soziale Aufstände auslösen wird. Um sie zu unterdrücken, sollen die faschistischen Milizen beibehalten werden.

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