Die rechte Regierung von Premierminister Victor Orban hat in Ungarn vergangene Woche ein Gesetz beschlossen, das Obdachlosen das Übernachten auf öffentlichen Straßen und Plätzen verbietet. Wer dagegen verstößt, dem drohen Geld- oder Haftstrafen. Mit dem Gesetz greift die rechte Fidesz-Partei die Schwächsten der Gesellschaft an, um von der katastrophalen sozialen Lage abzulenken, die durch den Sparkurs der Orban-Regierung entstanden ist.
Nach dem neuen Gesetz dürfen sich Obdachlose nicht an Orten aufhalten, die zum ungarischen Weltkulturerbe gehören. Darüber hinaus dürfen die Kommunen nach eigenem Ermessen Zonen bestimmen, in denen Obdachlosen der Aufenthalt verboten ist.
Noch vor einem Jahr war das Gesetz vom ungarischen Verfassungsgericht als grundgesetzwidrig erklärt und verworfen worden. Um das Verfassungsgericht faktisch auszuschalten, baute die Regierung im Frühjahr dieses Jahres im Rahmen einer Grundgesetzänderung einen Passus in die Verfassung ein, der das Oberste Gericht weitgehend entmachtet und der Regierung nun auch im Falle des Obdachlosengesetzes freie Hand gibt.
Laut UN-Angaben leben etwa 30.000 bis 35.000 Menschen in Ungarn auf der Straße. Allein in der Hauptstadt Budapest sind es nach Schätzungen von Hilfsorganisationen rund 10.000 Menschen. Für diese gibt es weniger als 6.000 Plätze in Unterkünften.
Schätzungen zufolge kommen rund 80 Prozent der Obdachlosen in Budapest aus anderen Landesteilen Ungarns, vor allem aus dem bettelarmen Ostungarn. Dort hatten bis Anfang der 1990er Jahre Zehntausende Menschen in der Schwerindustrie gearbeitet. Der Zusammenbruch der Industrie infolge der Restauration des Kapitalismus führte zu immens hoher Arbeitslosigkeit. Zahlreiche Obdachlose kommen von dort in die Hauptstadt, in der Hoffnung Gelegenheitsjobs zu ergattern, die ihr Überleben sichern.
In den letzten Jahren sind Obdachlose immer mehr das Ziel von Angriffen und Gängeleien der Behörden geworden. Seit Januar dieses Jahres gilt in Ungarn ein neues Müllgesetz. Wer unbefugt Sperrmüll mitnimmt, begeht ein Eigentumsdelikt und muss mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe rechnen. Auch dieses Gesetz richtete sich in erster Linie gegen Obdachlose, da sich diese oftmals mit dem Sammeln von Sperrmüll über Wasser halten.
Auf vielen öffentlichen Brachflächen, auch in entlegenen Außenbezirken von Budapest, räumt die Polizei schon seit längerem Hütten und provisorische Lager. „Bevor das Verfassungsgericht letztes Jahr das Gesetz gegen Obdachlose für grundgesetzwidrig erklärte, war es acht Monate gültig“, sagt Tessza Udvarhelyi von der Obdachlosen-Initiative „Die Stadt gehört allen!“. „Und in diesen acht Monaten wurden gegen 2.000 Obdachlose in Budapest insgesamt umgerechnet 130.000 Euro Geldstrafen verhängt. Das war durchaus eine neue Qualität in der Obdachlosenpolitik.“
Die Verabschiedung des Gesetzes hat Wut und Entrüstung ausgelöst. Vor dem Parlament demonstrierten Hunderte Menschen dagegen. Sie folgten einem Aufruf der Obdachloseninitiative „Die Stadt gehört allen!“. „Mit dem neuen Gesetz wird Obdachlosigkeit an sich praktisch unter Strafe gestellt. Dabei wissen viele nicht, wohin. Die Regierung hat versprochen, dass alle Obdachlosen Unterkünfte in Heimen erhalten, doch diese Heimplätze gibt es nicht“, erklärte Udvarhelyi.
Gegenüber Spiegel Online sagte sie, die Obdachlosenpolitik der Orban-Regierung sei Teil ihrer allgemeinen Feindschaft gegen Arme. „Sie brauchen Sündenböcke, um von der schlechten sozialen Lage im Land abzulenken, und dafür benutzen sie die Ärmsten der Armen, Obdachlose, Roma und Flüchtlinge.“ Zwar seien auch frühere Regierungen, wie beispielsweise die der Sozialisten, gegen Obdachlose vorgegangen, allerdings nicht so systematisch.
Die Regierung Orban hat wie die sozialistische Vorgängerregierung drastische Sparmaßnahmen ergriffen, die immer mehr Menschen in Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit werfen. Die Staatsverschuldung steigt trotzdem weiter an. Allein im ersten Quartal 2013 wuchs sie erneut um 3,2 Prozent auf über 82 Prozent des BIP.
Regierungsvertreter erklärten daraufhin, man werde den „Krieg gegen die Schulden“ fortführen. Dies bedeutet weitere Kürzungen. Zuletzt senkte die Regierung Löhne und Renten, um die Kredite des Internationalen Währungsfond zu bedienen.
Die Sparmaßnahmen haben dramatische soziale Auswirkungen. Seit 2008 wurden 40.000 Haushalte zwangsgeräumt, weitere 170.000 sind davon bedroht. Viele Familien stehen vor dem Ruin, weil sie Fremdwährungskredite aufgenommen haben, die sie wegen der Abwertung des Forint nicht mehr zurückzahlen können. Wegen der Kürzungen bei Sozialleistungen fallen viele nun durch das soziale Netz.
Die Kürzungsmaßnahmen gingen Hand in Hand mit dem Ausbau eines halbdiktatorischen Staatsapparates. Neben der Ausschaltung des Verfassungsgerichtes und dem Mediengesetz, das die Pressefreiheit praktisch aufgehoben hat, hat die Regierung zahlreiche andere Maßnahmen ergriffen, die jede Opposition gegen die brutale Kürzungspolitik im Keim ersticken sollen.
Die Oppositionsparteien äußerten nur sehr leise und oberflächliche Kritik an dem neuen Gesetz. Die Sozialistische Partei (MSZP) kritisierte das Gesetz als „unmenschlich“ und rief Staatspräsident Janos Ader auf, sein Veto dagegen einzulegen. Ader ist bekannt dafür, mehr oder weniger als Marionette Orbans zu agieren und dessen rechten Ansichten zu teilen.
Die „linken” Oppositionsparteien sind heillos zerstritten und politisch bankrott. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Plattform „Gemeinsam 2014” unterscheidet sich nicht wesentlich von derjenigen der Regierung. „Gemeinsam 2014” wird von Gordon Bajnai geführt. Er war Finanzminister und später Ministerpräsident der diskreditierten sozialdemokratischen Regierung, die das Land dem Diktat der EU und des IWF unterordnete und für den Wahlerfolg Orbans verantwortlich war.
Auch die Gewerkschaften protestieren nicht gegen die rechte Politik. Während die großen Gewerkschaftsverbände Orban mittlerweile mehr oder minder offen unterstützen, ist die Organisation Szólidaritas Teil von Bajnais Wahlbündnis.
Szólidaritas besteht aus abgehalfterten Gewerkschaftsbürokraten, die eine Zusammenarbeit mit dem Fidesz ablehnen, weil dieser auch die Rechte der Gewerkschaften massiv beschnitten und ihre Posten in den großen Gewerkschaften gefährdet hat. Ende September, einen Tag nach dem Parteitag des Fidesz, organisierte Szólidaritas eine Demonstration gegen die Orban-Regierung. Nur rund 1.000 Demonstranten versammelten sich dazu in Budapest, die große Mehrheit Gewerkschafter und Mitglieder der Partei Bajnais oder der Sozialisten. Dies zeigt sehr anschaulich, dass die Wut und Empörung über die rechte Politik Orbans in den politischen Organisationen Ungarns keinen Ausdruck findet.