Eine der beiden arktischen Ölbohrinseln des Shell-Konzerns ist am Montagabend mit ca. 530.000 Liter Diesel und 45.000 Liter Schmierflüssigkeit und Hydrauliköl an Bord vor der Insel Sitkalidak auf Grund gelaufen. Die Insel im Golf von Alaska liegt ungefähr 400 km südlich der Stadt Anchorage. Am Samstagabend war die achtzehnköpfige Crew erfolgreich evakuiert worden, nachdem die Plattform sich losgerissen hatte und vom Kurs abgekommen war. Bis jetzt ist noch kein Treibstoff ausgetreten.
Die Plattform mit Namen Kulluk hatte sich zwei Tage, bevor sie auf Grund lief, aus ihrer Verankerung gelöst. Die von Shell gecharterte Aiviq verlor zunächst das Abschleppseil zur Kulluk. Dann fielen sämtliche ihrer vier Maschinen aus, sodass nur noch der Schlepper Alert versuchen konnte, die Ölplattform auf Kurs zu halten. Stürmische Winde und hohe Wellen, die fast Hurrikanstärke erreichten, trieben den Schlepper mehr als sechzehn Kilometer vom Kurs ab. Die Alert war lediglich in der Lage, den Kurs der Kulluk so zu beeinflussen, dass sie in ein Gebiet trieb, wo mit dem geringsten ökologischen Schaden zu rechnen ist. Dann wurde die Entscheidung getroffen, auch das Schleppseil zur Alert zu kappen, um zu verhindern, dass der Schlepper von der Plattform weiter mitgezogen wurde.
Beide Schiffe hatten die Aufgabe, die Ölplattform für Wartungsarbeiten von Dutch Harbor nach Seattle zu schleppen. Andauernde Stürme mit bis zu 110 Stundenkilometer starken Winden und Wellen von bis zu dreizehn Meter Höhe vereitelten mindestens vier Versuche, die Kulluk wieder unter Kontrolle zu bringen, bevor sie auf Grund lief.
Die amerikanische Küstenwache berichtet, die Plattform sei „im Lot und stabil“. Ein fünfköpfiges Rettungsteam wurde am Mittwoch von einem Hubschrauber auf der Plattform abgesetzt, um herauszufinden, wie sie am besten zu bergen sei. Das Team bestätigte aufgrund seiner dreistündigen Untersuchung, dass kein Öl ausgetreten sei und hielt es für sehr unwahrscheinlich, dass die Öltanks aus Stahl infolge dieses Zwischenfalls leck schlagen würden.
Shell hat fast 300 Millionen Dollar in die Modernisierung der 29 Jahre alten Förderplattform investiert. Zu den Risiken, denen die Plattform ausgesetzt ist, gehören Schäden an der Struktur aufgrund ständiger Erschütterungen durch den Wellengang, sowie die Gefahr, dass die bis zu 17 Meter hohen Wellen das Deck überfluten und die Maschinen und andere Ausrüstungsgegenstände fluten. Auch Treibeis ist eine Gefahr, besonders in den Wintermonaten. Sollte es zu einem Auslaufen von Öl kommen, könnte der Dieseltreibstoff Lachsbestände, Seelöwen und Seeotter bedrohen.
Obwohl die Küstenwache die geplante drei- bis vierwöchige Überführung der Ölplattform auf der Grundlage einer zweiwöchigen Vorhersage von gutem Wetter abgesegnet hatte, wird die Entscheidung inzwischen in Frage gestellt. „Du hast im Golf zu dieser Jahreszeit regelmäßig heftige Stürme“, sagte Dan Magone, Präsident der Rettungsfirma Magone Marine. „Sie zu dieser Jahreszeit nach Seattle zu schleppen, war eine unkluge Entscheidung“, fügte er hinzu. Sie wussten nicht, worauf sie sich einließen, oder überschätzten ihre Fähigkeiten, mit so einer Lage umzugehen.“
Betrachtet man die Wetteraufzeichnungen der Vergangenheit, so muss man im Golf von Alaska zu dieser Jahreszeit mit Wetterbedingungen wie denen rechnen, die jetzt zur Havarie der Bohrinsel geführt haben.
Dieser Vorfall ist nur der jüngste einer ganzen Reihe von Unfällen, die den Konzern Shell zwangen, das Bohren in der Arktis zeitlich aufzuschieben. Die Entscheidung wird die Investitionen der Firma in Ölbohrungen in der Arktis weiter in die Höhe treiben. Die Summe von fünf Milliarden Dollar ist bereits überschritten, ohne dass Profite abzusehen wären. Bei einem anderen Unglück fing die zweite arktische Bohrplattform von Shell, die Noble Discoverer, im November letzten Jahres Feuer. Anfang letzten Jahres wurde Shells neu entwickeltes Bergungsboot, das speziell für arktische Bedingungen konzipiert war, bei Eignungstests beschädigt
Der jüngste Zwischenfall könnte die Bohrungen des Shell-Konzerns um ein weiteres Jahr zurückwerfen. Die Kulluk hat bereits die erste Hälfte von zwei Quellen gebohrt, die die ersten arktischen Bohrlöcher des Shell-Konzerns gewesen wären. Sollte die Kulluk aber zu sehr beschädigt sein oder nicht gerettet werden können, könnte Shell die Arbeiten nicht fortsetzen, obwohl der Konzern noch über eine zweite Bohrplattform verfügt. Der Vertrag des Shell-Konzerns mit der Bundesregierung verlangt, dass die Firma zu jeder Zeit zwei Plattformen in der Arktis in Betrieb hat, damit im Falle eines Lecks, das die eine Plattform nicht abdichten kann, die andere eine Entlastungsbohrung vornehmen kann.
Solche Bedingungen sind durch die Abgelegenheit der Beaufort-See bedingt, dem wichtigsten arktischen Ölfeld. Sie liegt nördlich von Alaska und der Weg dorthin erfordert die Durchquerung der Bering-Straße. Wenn in diesem Gebiet Öl austräte, wären die Reinigungsarbeiten äußerst schwierig, und das nicht nur wegen der Abgeschiedenheit der Gegend und des Wetters. Das ganze Gebiet der Verschmutzung könnte von der Außenwelt abgeschnitten werden, falls die Reinigungsmannschaften im Herbst oder Winter einträfen. Dann könnte sich das Öl tief in das ganze Ökosystem hineinfressen, nicht nur nördlich von Alaska, sondern in der gesamten Arktis.
Die Verzögerung der Bohrungen wird für Shell zusätzlich durch die kurze Bohrsaison in der Arktis verschärft, wo der Eispanzer auf dem Meer nur im Sommer aufbricht und den Förderplattformen das Bohren und Fördern von Öl ermöglicht. Allerdings hoffen die Ölkonzerne auf bessere Bedingungen durch das Voranschreiten des Abschmelzens des Eises auf Grund der globalen Erwärmung. Shell muss auch noch eine Bohrerlaubnis der US-Regierung erwerben, die es bisher noch nicht besitzt. Falls die Kulluk nicht zu retten sein sollte, wird Shell wohl kaum rechtzeitig einen Ersatz für die Sommerbohrsaison beschaffen können.
Mit den arktischen Ölförderplänen von Shell sind noch weitergehende Interessen verbunden. Shell ist gegenwärtig führend bei der Erforschung der arktischen Ölförderung. Es ist der erste Konzern, der hohe Investitionen in die Erforschung der Technik von Bohrungen in der Arktis steckt. Andere Konglomerate wie BP beobachten genau, ob es Shell gelingt, in der Arktis profitabel nach Öl zu bohren. Wenn Shell mit diesem Projekt Erfolg hat, wird der Konzern zweifellos gut daran verdienen, die Technik an andere Konzerne zu verkaufen.
Außerdem stimmen die Pläne von Shell mit der Energiepolitik der US-Regierung überein. Washington bemüht sich derzeit, die Erwartungen der Internationalen Energieagentur zu erfüllen, 2020 mehr Öl als Saudi-Arabien zu fördern. Voraussetzung ist, den Konzernen u.a. zu erlauben, vor den Küsten und in der Arktis nach Öl zu bohren. Dem Wall Street Journal zufolge wird der aktuelle Unfall keine Auswirkungen auf die Energiepolitik der USA haben, die nach dem Ende des Moratoriums für Offshore-Bohrungen wegen der Ölverschmutzung durch BP 2010 beschlossen wurde.
Arktische Ölbohrungen sind auch ein Streitpunkt zwischen den USA und Kanada, da die US-Regierung Firmen in umstrittenen grenznahen Gebieten Bohrkonzessionen erteilt hat.