Ende September schloss der Versandhandel Neckermann endgültig die Pforten seines Stammsitzes an der Hanauer Landstraße in Frankfurt. Auch die Zweigbetriebe in Sachsen-Anhalt sowie in Belgien, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz werden mit Ausnahme eines kleinen Online-Handels geschlossen. Für Neckermann arbeiteten zuletzt europaweit 4.000 Beschäftigte, davon 2.400 in Deutschland.
Viele Betroffene haben ihr ganzes Arbeitsleben bei Neckermann verbracht und keine Chance auf einen Neuanfang. Neben Arbeiterinnen und Arbeitern aus Hessen und der ehemaligen DDR befinden sich unter ihnen auch Immigranten aus Osteuropa, der Türkei, Asien und Afrika. Überdurchschnittlich viele haben keine Berufsausbildung. Viele hatten seit Jahrzehnten im Betrieb gearbeitet, mehrere seit dreißig oder vierzig Jahren. Das Durchschnittsalter der Belegschaft lag zuletzt bei 49 Jahren. Wer kurz vor dem Rentenalter steht, wird es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer haben.
Den Beschäftigten hatte man bis zum Mittwoch, den 26. September, immer wieder versichert, man stehe in Verhandlungen mit möglichen neuen Investoren. Besonders die Verdi-Gewerkschafter hielten die Mär von neuen Investoren aufrecht, um die Belegschaft ruhig zu halten.
Am letzten Donnerstag, als dann die Beschäftigten aus heiterem Himmel mit der unmittelbar bevorstehenden Schließung konfrontiert wurden, sagte Betriebsratschef Thomas Schmidt in gekränktem Ton zur Presse, das sei „das Härteste und Brutalste“, das er jemals erlebt habe. Sun Capital, der letzte Besitzer, habe sich niemals auch nur um einen Zentimeter bewegt. „Die deutsche Unternehmenskultur sieht stets den Kompromiss vor, das gab es hier nicht“, klagte Schmidt. (Frankfurter Rundschau, 28. September 2012)
„Selten zuvor“ habe sich „ein Arbeitgeber so hartnäckig geweigert, den Beschäftigten in ihrer dramatischen Lage finanziell durch Abfindungen entgegenzukommen“, klagte Verdi-Sekretär Wolfgang Thurner, der im Aufsichtsrat von Neckermann sitzt, in einem Gastbeitrag für die Financial Times Deutschland (30.09.2012). Sun habe den „gesunden Menschenverstand, die Suche nach einem sozialverträglichen Kompromiss zwischen Kontrahenten (…) schlicht negiert“.
Die Tatsache, dass die Gewerkschaftsführer im Fall von Neckermann bis zuletzt auf einen, wenn auch noch so faulen „sozialverträglichen Kompromiss“ hofften – oder dies wider besseres Wissen behaupteten –, ist ein typisches Beispiel gewerkschaftlicher Verantwortungslosigkeit, deren Kosten die Beschäftigten tragen müssen. Verdi hatte bei Neckermann fünf Vertreter im Aufsichtsrat. Die Gewerkschaft wusste also frühzeitig über alle Pläne und Entscheidungen Bescheid und trug sie im Wesentlichen mit.
Die Geschichte des Neckermann-Konzern und seiner wechselnden Besitzer zeigt beispielhaft, dass „die deutsche Unternehmenskultur“ mit ihren „sozialverträglichen Kompromissen“ nie mehr als eine Propagandafloskel war, mit der die Gewerkschaften ihre Unterordnung unter die Kapitalinteressen rechtfertigen.
Als Josef Neckermann im Jahr der Währungsreform 1948 seinen Versandhandel gründete, konnte er fast nahtlos an seine Unternehmen im Dritten Reich anknüpfen, die er sich durch die „Arisierung“ jüdischer Kaufhäuser angeeignet hatte. 1935 hatte Neckermann das Warenhaus Merkur und ein Textilkaufhaus von Siegmund Ruschkewitz in Würzburg übernommen. Später kamen weitere, ebenfalls „arisierte“ Unternehmen hinzu: das Kaufhaus Vetter in Würzburg und vor allem die Wäschemanufaktur Karl Joel in Nürnberg und Berlin. Die jüdischen Besitzer hatten sich aufgrund der Nürnberger Gesetze gezwungen gesehen, ihre Unternehmen weit unter Wert zu „verkaufen“.
Durch staatliche Aufträge der Nazis im Wirtschafts- und Kriegsministerium profitierte das NSDAP-, SS- und SA-Mitglied Neckermann vom Krieg und vom Terrorregime des Dritten Reichs. Neckermann lieferte Wolldecken und Arbeitskleidung für Zwangsarbeiter sowie Winteruniformen für die Wehrmacht. Trotz alledem wurde er im „Entnazifizierungsprozess“ nur als „Mitläufer“ des NS-Regimes eingestuft.
In den 1950er und -60er Jahren wurde der Slogan „Neckermann macht’s möglich“ zum Symbol für das deutsche Wirtschaftswunder. Der Neckermann-Versand lieferte, wie auch der Otto- und der Quelle-Versand, alles von Kleidern, Wäsche und Geschirr über Radios, Kühlschränke und TV-Geräte bis hin zu Urlaubsreisen, Versicherungen und Fertighäusern. In der Mitte der 1970er Jahre beschäftigte Neckermann fast zwanzigtausend Menschen und verschickte mehrere Millionen Kataloge in die Haushalte Europas.
1976, in der ersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit, war Neckermann gezwungen, den Versandhandel an Karstadt (später KarstadtQuelle/Arcandor) zu verkaufen. Josef Neckermann ging in Rente und widmet sich nur noch dem Dressurreiten, während beide Söhne in die USA auswanderten.
Unter Karstadt gab das Neckermann-Unternehmen seine Warenhäuser auf und wurde zum reinen Versandhandel. Ende der 1990er Jahre nahm es den Handel im Internet auf, der 2012 achtzig Prozent des Umsatzes ausmachte. Den Vorsprung von Amazon und anderen Internetspezialisten konnte Neckermann allerdings nie aufholen.
2004 übernahm Thomas Middelhoff den Vorstandsvorsitz der Neckermann-Mutter KarstadtQuelle. Middelhoff (der davor Vorsitzender von Bertelsmann war und im Aufsichtsrat von AOL und RTL-Group saß), verkörpert den Typus des Unternehmers als Finanzspekulant: Er verlor jedes Interesse an der produktiven oder gewerblichen Seite der Unternehmen und sah nur noch den kurzfristigen Profit.
Heute führt Middelhoff (gemeinsam mit Roland Berger und Florian Lahnstein, dem Sohn des ehemaligen SPD-Ministers Manfred Lahnstein) die Private-Equity Gesellschaft BLM Partners in London, in deren Aufsichtsrat Manfred Lahnstein und Wolfgang Clement, ein weiterer ehemaliger SPD-Politiker, sitzen.
2007/2008 besiegelte Middelhoff als Arcandor-Chef das Schicksal von Neckermann, als er den Versandhandel dem amerikanischen Finanzinvestor Sun Capital buchstäblich zum Geschenk machte. 51 Prozent von Neckermann gingen für den symbolischen Preis von einem Euro an die Private Equity Company in Florida. Einzige Gegenleistung: die Hoffnung auf einen erfolgreichen späteren Börsengang, der Arcandor dann entschädigen sollte. „In zwölf bis 18 Monaten verdient Neckermann Geld“, soll Arcandor-Versandchef Marc Sommer damals versprochen haben. (Süddeutsche Zeitung, 12.12.2007)
Sun Capital, der neue Mehrheitseigner, ist eine klassische „Heuschrecke“, spezialisiert auf die Übernahme angeschlagener Firmen, deren Vermögen sie plündert und mit exorbitanten Honorarforderungen überzieht. Sun kauft marode Unternehmen auf, filetiert sie, verkauft die besten Teile an den Meistbietenden oder legt sie ganz still. In jedem Fall tragen die Beschäftigten die vollen Kosten, da ihre Arbeitsplätze und sozialen Rechte geopfert werden.
Die Firma Sun Capital gehört dem Multimillionär und Börsenspekulanten Marc Leder. Leder richtete im Mai dieses Jahres in seiner Villa in Boca Raton, Florida, das Galadinner aus, auf dem Mitt Romney, der Präsidentschaftskandidat der US-Republikaner, seine verächtlichen Äußerungen über die 47 unteren Prozent der Amerikaner von sich gab. (siehe: „Romneys Äußerungen“)
Laut Presseberichten gibt Sun Capital von ihr übernommenen Firmen vier Jahre Zeit, um wieder profitabel zu werden. Schon bei der Übernahme von Neckermann wurden 800 Mitarbeiter entlassen. Die Belegschaft demonstrierte damals unter einem Transparent mit der Aufschrift: „Der Preis für die Zukunft Neckermanns darf nicht unsere Armut sein.“
Vor kurzem berichtete eine Mitarbeiterin der WSWS: „2008 wurden hier mehrere hundert Leute entlassen. Damals war ich maßlos enttäuscht von der Gewerkschaft, weil sie das alles gleich geschluckt hat.“
Zwei Jahre später, 2010, war Arcandor selbst pleite. Jetzt übernahm Sun Capital auch die restlichen 49 Prozent von Neckermann und kündigte an, das Unternehmen bis 2012 wieder profitabel zu machen oder zu schließen. Die Neckermann-Belegschaft, die Ende 2007 noch fünftausend Beschäftigte zählte, wurde mehr als halbiert.
Ende April 2012 kündigte Neckermann an, bis zum Jahresende 2012 das Zentrallager und die Logistik in Frankfurt zu schließen, den Eigenhandel mit Textilien komplett einzustellen und den Neckermann-Katalog abzuschaffen. 1.380 Stellen sollen bis Ende 2012 vernichtet werden.
Im Juli 2012 beantragte Neckermann schließlich beim Amtsgericht Frankfurt die Insolvenz. Jetzt blieben noch drei Monate, von Juli bis September Zeit, in denen die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der Insolvenz die Löhne und Gehälter übernahm.
In diesen Monaten forderte die Gewerkschaft Verdi nacheinander eine Transfergesellschaft, einen Sozialtarifvertrag, einen Sozialplan mit Abfindung, mit halber Abfindung, fast ohne Abfindung aber mit Sozialauswahl, etc. Die Gewerkschaft erklärte sich bereit, die geltenden Abfindungssummen auf ein Viertel zu reduzieren. Dieses Geld wäre, so Verdi, aus dem laufenden Geschäft heraus finanzierbar gewesen, hätte Sun also keinen Cent gekostet.
Verdi machte ein Zugeständnis nach dem andern und unterbreitete eigene Vorschläge, die fast ebenso viele Arbeitsplätze gekostet hätten wie die des Eigentümers. Dies alles diente nur dazu, die Arbeiter hinzuhalten. Der Forderung nach Kampfmaßnahmen traten die Gewerkschaftsfunktionäre offen feindlich entgegen. „Wir wollen das Unternehmen ja nicht kaputt streiken“, erklärte Verdi-Sekretär Thurner.
Bis zuletzt hielten die Gewerkschafter die Illusion aufrecht, im Zuge der Insolvenz werde ein neuer Investor gefunden. Derweil verloren die Arbeiter durch die Insolvenz sämtliche vertraglichen Ansprüche, wie die Abfindung oder die Kündigungsfrist, die bei den langen Beschäftigungsdauer der meisten Belegschaftsmitglieder erheblich wären.
Seit einer Woche ist klar, dass nicht 1.380, sondern praktisch die gesamte Belegschaft gehen muss. Im Werk an der Hanauer Landstraße erledigen jetzt noch hundert Beschäftigte die Aufräumarbeiten, während sich die Entlassenen beim Arbeitsamt in die Schlange einreihen.
Der Grund für die Schließung ist nicht allein die Gier der Finanzspekulanten, die bedenkenlos eine moderne Versandanlage mit Internetbestellung, ausgedehntem Warennetz, zahlreichen erprobten Lieferanten, Hochregallager und routinierter Verteilung zu Schanden reiten und Tausende von Arbeitsplätzen zerstören, sondern genauso die Politik der Gewerkschaft, die die Arbeiter systematisch daran gehindert hat, den Kampf zur Verteidigung der Arbeitsplätze aufzunehmen.
Bei Neckermann, genau wie bei den Handelskonzernen Karstadt, Metro und Schlecker, arbeitet die Gewerkschaft seit Jahrzehnten Hand in Hand mit den Eigentümern und der Unternehmensleitung und präsentiert ihnen die Arbeitsplätze und Löhne auf dem Silbertablett. Sie weigert sich, alle Beschäftigten im Einzelhandel zusammen zu schließen und die Arbeitsplätze prinzipiell zu verteidigen.
Während Banken und Investmentgesellschaften wie Sun Capital Rekordprofite einfahren, bezahlt die arbeitende Bevölkerung mit ihrer Existenzgrundlage, ihren Arbeitsplätzen und Löhnen dafür. Verdi hat bei Neckermann erneut gezeigt, dass die Gewerkschaft in diesem „Klassenkampf von oben“ auf der Seite der Unternehmen und Banken steht.