In einem Brief an die Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz, datiert vom 30. Juli 2011, haben sich 14 namhafte Historiker, Politikwissenschaftler und Publizisten aus Deutschland und Österreich gegen die Veröffentlichung der Trotzki-Biographie von Robert Service in dem von ihr geleiteten Suhrkamp Verlag gewandt. Wir dokumentieren den Brief auf dieser Seite.
Autoren und Erstunterzeichner des Briefes sind Dr. Dr. h.c. Hermann Weber, Professor em. für Politikwissenschaften und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim, sowie Dr. Helmut Dahmer, Professor em. für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt.
Die Wissenschaftler schließen sich der Kritik an der Biographie von Robert Service an, die David North in dem Buch Verteidigung Leo Trotzkis (erschienen im Mehring Verlag, Essen, 2010) veröffentlicht hat. Bereits im Juni diesen Jahres ist diese von dem amerikanischen Historiker Bertrand Patenaude in einer Besprechung im renommierten American Historical Review (AHR) bestätigt worden: Das Buch von Service ist eine zusammengeschusterte Schmähschrift, welche die grundlegenden Standards und Regeln wissenschaftlicher Arbeit verletzt und bei der die verantwortlichen Verlagshäuser in keiner Weise den Anforderungen verlegerischer Sorgfalt und Integrität gerecht werden. Weder der Autor Robert Service noch sein Verlag haben diese Kritik bisher beantwortet oder widerlegt.
Wörtlich heißt es in dem Brief: „North wie Patenaude haben Service eine Fülle von sachlichen Fehlern nachgewiesen … Service’ Belege sind unzuverlässig. Gerade schwer zugängliche und für die meisten Leser kaum überprüfbare Quellen haben oft mit dem Behaupteten nichts zu tun oder belegen eher das Gegenteil. Service setzt sich auch nicht, wie es in der Suhrkamp-Verlagsankündigung heißt, ‚unparteiisch und unverfälscht‘ mit Trotzki und Stalin auseinander. Das Ziel seiner Arbeit ist vielmehr die Diskreditierung Trotzkis, und er greift dabei bedauerlicherweise vielfach auf Formeln zurück, die aus der stalinistischen Propaganda bekannt sind.“
Besonderes Augenmerk lenken die Autoren und Unterzeichner des Briefes auf die zahlreichen Passagen, in denen Service die Saiten antisemitischer Vorurteile zum Schwingen bringt, und führen dazu eine Reihe von wörtlichen Zitaten an. Ihr Urteil am Ende des Schreibens an die Verlegerin: „Wir denken, dass das Buch von Service in Ihrem hoch angesehenen Verlag fehlplatziert ist!“
Die Biographie des Oxforder Professors Service war unter großem Beifall vieler Presseorgane, rechter Professoren und ex-radikaler Intellektueller 2009 bei Harvard University in den USA und bei Macmillan in Großbritannien erschienen, 2010 bei Ediciones B für Spanien und Lateinamerika, vor wenigen Wochen bei Perrin auf Französisch. Eine deutsche Ausgabe ist von Suhrkamp schon seit Längerem angekündigt.
Professor Hermann Weber, 83 Jahre alt, gilt in Europa als Nestor der Forschung zur kommunistischen Bewegung und zum Stalinismus des vorigen Jahrhunderts. Von 1975 bis 1993 hatte er den Lehrstuhl für Politische Wissenschaften und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim inne und veröffentlichte zahlreiche Standardwerke zur Geschichte der KPD, der SED, der Komintern und zum stalinistischen Terror. Sein Buch Geschichte der DDR ist heute noch ein Bestseller. In seiner Funktion als Leiter des Forschungsprojektes „Komintern“ der deutschrussischen Historiker-Kommission am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung und als Mitherausgeber des Jahrbuchs für historische Kommunismusforschung nimmt er auch heute noch aktiv an den Debatten von Wissenschaft und Forschung teil.
Professor Helmut Dahmer ist als herausragender Kenner der Werke Leo Trotzkis bekannt und leitet seit über 20 Jahren deren Herausgabe in einer auf zehn Bände angelegten wissenschaftlich-kritischen Ausgabe.
Einer der ersten Mitunterzeichner des Briefes war Dr. Hartmut Mehringer. Leider ist dieser anerkannte Experte für den sozialistischen Widerstand im Dritten Reich völlig überraschend am 17. Oktober dieses Jahres nach einer Krankheit verstorben. Mehringer hatte zum Thema der Entwicklung der Theorie der permanenten Revolution in den Jahren 1848–1907 promoviert, in den 70er Jahren Werke von Leo Trotzki herausgegeben und später eine führende Position am Institut für Zeitgeschichte in München und Berlin inne.
Weitere Unterzeichner sind:
- Bernhard Bayerlein, Dozent an der Universität Köln und Forscher am Zentrum für zeitgeschichtliche Forschung Potsdam, Autor zahlreicher Publikationen zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland und zum Stalinismus.
- Heiko Haumann, Professor em. für Osteuropäische und Allgemeine Neuere Geschichte an der Universität Basel.
- Wladislaw Hedeler, Historiker und Publizist in Berlin, Experte für die Geschichte der Sowjetunion.
- Andrea Hurton, Historikerin und Publizistin in Wien.
- Professor Mario Kessler, Dozent und Forscher am Zentrum für zeithistorische Forschung, Potsdam. Mario Kessler hatte seine akademische Laufbahn in der DDR begonnen und sich nach der Wiedervereinigung zum zweiten Mal habilitiert. Ein Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit und Veröffentlichungen war stets das Thema „Arbeiterbewegung und die jüdische Frage“.
- Oskar Negt, Professor em. für Soziologie an der Universität Hannover. Als Mitglied des SDS seit 1956 einer der Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition in den 60er Jahren.
- Professor Oliver Rathkolb, Professor für Zeitgeschichte und Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Er hat sich mit seinen Forschungen zur NS-Zeit und zur politischen Geschichte Österreichs und Europas international einen Namen gemacht.
- Hans Schafranek, Historiker in Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte mit zahlreichen Buchpublikationen liegen bei den Themen Stalinismus, Trotzkismus und Spanischer Bürgerkrieg.
- Peter Steinbach, lehrt als Professor an der Universität Mannheim Zeitgeschichte und ist wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.
- Reiner Tossdorf, Dozent für osteuropäische Geschichte an der Universität Mainz.
- Rolf Wörsdörfer, Spezialist für die Geschichte Osteuropas und Jugoslawiens, Dozent an der Technischen Universität Darmstadt.
Die Liste zeigt: Autoren und Unterzeichner vertreten sehr unterschiedliche politische Anschauungen und wissenschaftliche Richtungen, doch eines haben sie gemeinsam: sie fühlen sich der historischen Wahrheit und der Verteidigung wissenschaftlicher Standards in der Geschichtsschreibung verpflichtet.
Der Brief hat im Hause Suhrkamp insofern bereits Wirkung gezeigt, als nach seinem Eintreffen die Drucklegung des Buches nochmals verschoben worden ist. Man nehme die Vorwürfe sehr ernst und habe noch ein weiteres Gutachten angefordert, schrieb Dr. Sparr, Vertreter von Frau Unseld-Berkéwicz in der Geschäftsführung des Verlages, an Prof. Helmut Dahmer.
Doch zu einer Entscheidung, auf die Veröffentlichung vollständig zu verzichten, konnte sich die Verlagsleitung bis heute nicht durchringen. Die Tatsache, dass sie noch keine ausführliche Stellungnahme gegenüber den Historikern zu ihrem sachlichen Brief abgegeben hat, während gleichzeitig von Buchhandlungen und Versandketten bereits die Auslieferung des Buches für Januar 2012 angekündigt wird, deutet darauf hin, dass Suhrkamp die Veröffentlichung durchzieht.
Selbst wenn Suhrkamp das Buch herausbringen sollte, ist der Brief ein schwerer Schlag gegen Robert Service und seinen Versuch, Trotzki mit Geschichtsfälschungen und Verleumdungen als Person der Weltgeschichte und auch als Mensch „zu erledigen“ und so mit dem Buch „einen zweiten Mord an Trotzki“ zu verüben, wie es in der britischen Presse bejubelt worden ist.
Es gibt wohl keine andere historische Figur des zwanzigsten Jahrhunderts, die derart gejagt und verleumdet wurde wie Leo Trotzki. Der stalinistische Apparat verfolgte ihn mit Geschichtsfälschungen und Hetzkampagnen, ermordete Zehntausende seiner Anhänger und schließlich ihn selbst. Auch die Antikommunisten im Westen verleumdeten ihn wütend, erkannten sie in ihm doch zu Recht den prinzipientreuen, nicht korrumpierbaren Marxisten und Sozialisten.
Dass Trotzki auch im 21. Jahrhundert zum Gegenstand heftiger Angriffe und Verleumdungen wird, spricht für seine Aktualität. Angesichts der tiefsten Krise des Weltkapitalismus seit den 1930er Jahren befürchten herrschende Kreise eine Neubelebung sozialistischer Ideen. Dass sich nun zahlreiche Historiker und Publizisten diesen Verleumdungen entgegenstellen und die geschichtliche Wahrheit verteidigen, ist zu begrüßen. Die World Socialist Web Site setzt sich dafür ein, das wiedererwachte Interesse an der Person und den Ideen Leo Trotzkis zu vertiefen. Es wird den Brief der Historiker einer möglichst breiten Öffentlichkeit bekannt machen und zur Diskussion stellen.