Vor wenigen Wochen wurde auf dem Eurogipfel ein neuer Hilfskredit für Griechenland beschlossen. Ob „Hilfskredit“ oder „Rettungspaket“, für die Menschen in Griechenland bedeuten diese Gelder weder Hilfe noch Rettung. Sie kündigen im Gegenteil eine neue drastische Kürzungsrunde an, die die bisherigen Sparmaßnahmen in den Schatten stellen wird.
Das Spardiktat, das vor gut einem Jahr an den ersten Hilfskredit von über 110 Milliarden Euro geknüpft worden war, hat bereits zu einer extremen Verarmung in Griechenland geführt. Experten warnen, dass der Lebensstandard von Arbeitern und Rentnern bis 2015 im Vergleich zu 2008 um 40 Prozent sinken wird. (SpiegelOnline, 16. Juli 2011)
Die deutschen Medien beschuldigen die „korrupten“ und „faulen“ Griechen für die Misere des Landes. Die griechische Presse hingegen klagt über die Brutalität der EU, während die machthabenden Politiker und die Wirtschaftselite Griechenlands ihre Hände in Unschuld waschen. In beiden Ländern wird der Bevölkerung ein Bär aufgebunden: Politik und Wirtschaft lenken mit nationalistischer Propaganda von den wahren Ursachen der Krise ab, die im Bankrott des kapitalistischen Systems wurzelt.
Ein Blick auf die soziale Lage in dem kleinen Land an der Ägäis entblößt den menschenverachtenden Charakter der Sparmaßnahmen. Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen und Freiwillige bei städtischen Armenküchen erleben hautnah den alltäglichen Wahnsinn des Sparkurses.
„Ich habe nicht geglaubt, dass wir in Griechenland solch eine Situation erleben würden. Leider kehren wir um 40 Jahre zurück“, sagt Nikitas Kanakis, Vorsitzender der Hilfsorganisation Ärzte der Welt, in einem Artikel der Tageszeitung Eleftherotypia vom 24. Juli. „Ich persönlich bin beschämt, dass ich anständige Menschen treffe, Menschen wie wir, von nebenan, die mit 70 Jahren nicht mehr anständig leben können. Sie haben kein Geld für die Grundbedürfnisse: Medikamente und Ernährung.“
Kanakis fährt fort: „Ich erinnere mich an eine ältere Frau, die meine Mutter sein könnte, oder Ihre Mutter. Sie reagierte bedrückt, als wir ihr sagten, sie müsse die Medikamente nach dem Essen einnehmen. ‚Geht nicht davon aus, dass ich immer zu Essen habe’, sagte sie uns.“
Im letzten Jahrzehnt hat sich Griechenland zu einem der ersten Anlaufpunkte vieler Migranten und Flüchtlinge aus ärmeren Ländern entwickelt, die auf den Feldern und in Fabriken als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden. In Athen und Thessaloniki leben sie ausgegrenzt und verarmt auf der Straße, als Drogenabhängige, Kriminelle oder einfach Bettler. Bis 2010 waren es zumeist diese Menschen, die die Hilfe von Organisationen wie Ärzte der Welt oder Praksis brauchten. Nun stehen vor ihren Türen plötzlich immer mehr Griechen, meist Rentner oder Arbeitslose mit Familie. Nikitas Kanakis berichtet, dass der Anteil an hilfsbedürftigen Griechen von 3 bis 4 Prozent Anfang 2010 inzwischen auf etwa 30 Prozent gestiegen sei.
Diesen Wandel bestätigt auch Tsanetos Antipas, der Leiter der humanitären Organisation Praksis: „Diese Krise, die für viele Menschen den Verlust ihrer Arbeit oder ihrer Rechte auf Versicherung bedeutet, zwingt uns zur Bildung neuer Wörter, Begriffen wie ‚Neuobdachlose’ und ‚Neuarme’. Man sieht, dass es sich um Leute mit einstmals mittlerem und oftmals höherem Lebensstandard handelt, die bis ans Ende der sozialen Leiter abgestiegen sind.“ (Eleftherotypia)
„Seit Ende 2010 kamen 4.000 Griechen, um kostenlose Medikamente zu erbitten. In demselben Zeitraum bot das Gesundheitszentrum 1.500 Griechen in Athen und 800 in Thessaloniki erste medizinische Hilfe an. Die entsprechenden Zahlen vom letzten Jahr (August 2010) betrugen 160 Leute in Thessaloniki und 580 in Athen“, so Tsanetos Antipas. Bei den meisten Hilfesuchenden, hauptsächlich Männern zwischen 37 und 55 Jahren, seien Hautprobleme mit psychischen Ursachen und Muskel-Skelett-Erkrankungen, die mit schlechter Unterkunft zusammenhingen, diagnostiziert worden.
Auch die Armenküchen der Hauptstadt, getragen von der Kirche, beobachten nicht nur eine höhere Zahl, sondern vor allem eine neue Generation von Obdachlosen und Hilfsbedürftigen. Die langen Schlangen vor der Essensausgabe erinnern bitter an frühere Zeiten des Krieges und schwerer wirtschaftlicher Rezession. Nicht alle können versorgt werden, zu viele kämpfen mit dem Überleben. Allein zu Pater Andreas im Stadtzentrum kommen täglich rund 4.200 Menschen, oft ganze Familien. Sie hoffen alle, eine Portion zu ergattern und verschlingen das Essen meist gleich vor Ort.
Die Ausweglosigkeit treibt auch immer mehr Menschen in den Selbstmord. Heute rufen bei der Suizid-Hotline der sozialen Hilfseinrichtung Klimaka in Athen rund 30 verzweifelte Menschen pro Tag an, doppelt so viele wie noch vor zwei Jahren. „Wir können das kaum glauben. Wir waren einmal das 29-reichste Land der Welt. Diese Nation ist in einem tiefen emotionalen Schock“, erklärt ein Mitarbeiter von Klimaka in der New York Times.
Angesichts dieser sozialen Situation ist es blanker Hohn, „die faulen Griechen“ für die Krise zu beschuldigen. Tatsächlich widerlegen diese Vorwürfe auch offizielle Daten, zusammengefasst in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) vom Juni 2011. Die wöchentliche Arbeitszeit in Griechenland beträgt im Durchschnitt 42,1 Stunden und ist damit die höchste Wochenstundenzahl in der ganzen EU. Mindestens zwei Drittel der Arbeitnehmer zahlen regelmäßig Steuern, und auch das durchschnittliche Renteneintrittsalter liegt mit 61,4 Jahren dicht an dem Deutschlands mit 62 Jahren.
Zugleich bereichert sich eine kleine korrupte Oberschicht auf Kosten der Bevölkerung. Zahlreiche Politiker und Unternehmer sind in illegale Milliarden-Geschäfte verwickelt, von denen nur ein Bruchteil an die Öffentlichkeit gelangt. Selbst wenn mal ein Skandal auf dem Tisch liegt, werden die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen.
Jüngstes Beispiel ist das Urteil eines Sondergerichtes im Fall Aris Tsochatzoloulos. Als Politiker der PASOK hatte er von 1981 bis 2004 nahezu alle Ministerämter einmal ausgeübt. Als Nationaler Verteidigungsminister kaufte er im Jahr 2000 vier U-Boote des Typs 214 von Deutschland. Die Firma Ferrostaal, eine ehemalige Tochter des MAN-Unternehmens, zahlte für diesen Milliardenauftrag Bestechungsgelder in Höhe mehrerer Millionen an Tsochatzopoulos.
Tsochatzopoulos wurde angeklagt, nachdem das illegale Geschäft aufflog. Mitte Juli entschied der fünfköpfige Rat des Höchsten Gerichtes, die Anklage fallen zu lassen, und begründete dies mit dem Immunitätsparagraphen für Abgeordnete. In zahlreichen Korruptionsfällen wird dieser Paragraph zugunsten krimineller Machenschaften von Politikern ausgenutzt. Tschochatzopoulos behauptet, die Gelder seien ohne sein Wissen auf seinem Konto gelandet. „Passive Korruption“ nennen sie es und ermitteln jetzt nur noch, ob diese Gelder besteuert wurden.
„Es ist vor allem die kleine Oberschicht, die den Fiskus jährlich um rund 40 Milliarden Euro Steuern bringt“, heißt es auf SpiegelOnline. Savas Robolis, Athener Professor für Wirtschafts- und Sozialpolitik, bekräftigt das und klagt, dass griechische Politiker und Unternehmer für ihre rigorosen Straftaten nie belangt werden.
Die Politik brüstet sich trotzdem mit scheinbaren Erfolgen im Kampf gegen Korruption und wirtschaftlichen Zerfall. Doch die Senkung des Haushaltsdefizits erfolgt hauptsächlich über Einsparungen im öffentlichen Sektor und eine Erhöhung der indirekten Steuern und Sozialversicherungsbeiträge.
Anna Papadopoulou (Name geändert), Mutter von zwei Kindern, ist wütend über die Ignoranz der Herrschenden. „Die Politiker platzen vor lauter Fressen. Sie zwingen ihre Bürger, Hab und Gut zu verkaufen, alles, einen ganzen Haushalt – bloß um ihren Kindern beim Studieren zu helfen“, wettert sie.
Mit ihrer Familie lebt Anna in der kleinen Provinzstadt K. im armen Norden Griechenlands und sucht schon jahrelang nach Arbeit. Sie versucht sich weiterzubilden, das Abitur hat sie in der Abendschule nachgeholt und teure Sprachprüfungen für die deutsche und griechische Sprache bestanden. „Alles, was ging, habe ich gemacht. Ich habe jetzt vor, nach Deutschland zu kommen, wegen Arbeitssuche. Vielleicht gelten die Sprachdiplome dort mehr; es ist immer noch besser, als das Betteln um Arbeit hier. Arbeitsplätze gibt es in Griechenland sowieso keine.“
Das griechische Statistikamt ELSTAT meldet die neuen Arbeitslosenzahlen für April, die es auf 15,8% beziffert. Da viele Menschen sich gar nicht erst arbeitslos melden, wird die reale Quote deutlich höher auf über 20% geschätzt.
Besonders hoch ist die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen bis 24 Jahren. Laut offiziellen Zahlen ist sie im Vergleich zum April des Vorjahres um zwölf auf 43% gestiegen. Auch bei jungen Menschen von 24 bis 34 Jahren ist die Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch – sie stieg um sieben auf 22%.
Besonders betroffen sind ärmere Regionen wie Makedonien, Thrakien und Zentralgriechenland. Hier schwankt die Quote um 20%. Ähnlich ergeht es den Inseln der südlichen Ägäis, obwohl dort einige der wichtigsten Touristenzentren liegen.
Ein Arbeitsloser hat nur ein Jahr Anspruch auf finanzielle Hilfen und bleibt danach auf sich allein gestellt. Auch Unterstützung bei der Arbeitssuche bleibt ihm versagt. Dies führt dazu, dass immer mehr Menschen emigrieren oder, sofern sie die Möglichkeit der Emigration nicht haben, in die Langzeitarbeitslosigkeit fallen.
Besonders die Jugend muss zusehen, wie ihr der Boden unter den Füßen entzogen wird. Private Schulen und Universitäten werden gefördert und die staatlichen Einrichtungen kaputt gespart. Gebäude und Ausstattung sind veraltet, Lehrpersonal ist unzureichend.
Fast alle Schüler in Griechenland gehen nach dem Schulunterricht in sogenannte Frontistiria (Nachhilfeschulen), weil sie der Schulunterricht nicht ausreichend auf die Endprüfungen vorbereitet. Solche privaten Nachhilfeschulen tummeln sich in kleinen und größeren Städten und bieten vor allem Unterstützung im Sprachunterricht an. Kinder, die auf staatliche Schulen gehen, müssen also oft gleichzeitig private Bildungseinrichtungen besuchen.
Können ihre Eltern diese finanzielle Last nicht aufbringen, so erschweren sie ihren Zöglingen einen erfolgreichen Bildungsweg. Nach Angaben der FES-Studie zahlen griechische Familien für private Nachhilfe pro Jahr im Durchschnitt 952 Millionen Euro, fast so viel wie in Deutschland (900 Millionen bis 1,5 Milliarden), dessen Bevölkerung aber achtmal größer ist.
Angesichts der drastisch angestiegenen Lebenshaltungskosten ist die Gefahr, obdachlos und mittellos zu werden, höher denn je. Bereits vor Beginn der Krise waren die Preise für Lebensmittel beinahe auf deutschem Niveau, obwohl die Löhne im Vergleich zu Deutschland nur die Hälfte oder weniger betrugen.
Eine gute ärztliche Behandlung ohne Beziehungen oder illegale Zusatzzahlung in Form des berühmten Fakelaki (kleiner Briefumschlag) war schon lange eine Seltenheit geworden. „Wenn man eilig eine Behandlung braucht, bezahlt man“, sagt auch Anna Papadopoulou.
Drastische Lohnkürzungen und insbesondere die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 23%, die jetzt auch für Tavernen, Cafés und Drogerien gilt, führen zu einem Rückgang des Konsums. Griechenlands Wirtschaft basiert zu rund 70% auf Konsum, so Napoleon Maravegias in der Studie der FES.
Die Folgen sind bereits unübersehbar: Zahlreiche Unternehmen kürzen die Gehälter oder entlassen ihre Mitarbeiter. Kleinbetriebe, von denen es in Griechenland noch sehr viele gibt, müssen schließen. Der Einzelhandel musste im vergangenen Jahr Einbußen um 12% hinnehmen. Geplante Privatisierungen, wie die der Post, der Stromversorgung und der Bahn, belasten die Bevölkerung zusätzlich mit höheren Preisen und schlechteren Arbeitsbedingungen.
Eine dramatische wirtschaftliche Rezession ist die Folge der Sparpolitik. Die Einzigen, die von den Niedriglöhnen, Privatisierungen und dem Abbau von Sozialleistungen profitieren, sind einige Unternehmer und Spekulanten. Hinter ihren Gesichtern und Firmen verstecken sich nicht selten Politiker der PASOK und ND, die die entsprechenden Maßnahmen in ihrem Interesse durchsetzen. Die Gewerkschaften unterstützen diese Politik, indem sie jeden Widerstand der Bevölkerung in harmlosen Protesten ersticken und Streiks abwürgen.
Das jetzige soziale Elend in Griechenland liefert einen bitteren Vorgeschmack auf den kommenden Kahlschlag auch in anderen Ländern.
Am 29. Juni dieses Jahres wurde bereits das nächste Sparpaket beschlossen: 78 Milliarden Euro sollen bis 2015 aus der griechischen Bevölkerung gepresst werden. „Die Rettungspakete sind sowieso nur für die Reichen“, schimpft Anna. Wie sie versuchen viele Griechen, sich in andere Länder zu flüchten, oder gehen gar zurück aufs Land, wo sie wenigstens noch ein Stück Boden bestellen können. Doch auch die Bauern kämpfen um ihr tägliches Brot.
„Sonne, viel Sonne ist das einzige, was umsonst ist. Doch das nützt uns nichts“, sagt Anna. Sie weiß, dass sie allein von Sonnenschein ihre Familie nicht ernähren kann.