Massenproteste gegen Sparmaßnahmen in Spanien

Am Sonntag demonstrierten Hunderttausende in fünfzig Städten in ganz Spanien gegen die Sparmaßnahmen der Regierung. Dabei fiel auf, dass weder Parteien noch Gewerkschaften anwesend waren.

In Barcelona demonstrierten ungefähr 200.000 Demonstranten vom zentralen Platz, der Plaça Catalunya, zum Ciutadella-Park gegenüber dem katalanischen Parlamentsgebäude. Die Demonstration begann um fünf Uhr abends, aber um halb sieben waren die Demonstranten immer noch auf dem Platz.

Auf ihrem Haupttransparent stand: „Die Straßen gehören uns. Wir zahlen nicht für eure Krise“.

Es gab noch viele weitere selbstgemachte Transparente zu sehen, auf denen beispielsweise zu lesen war: „Griechen, Ihr seid nicht alleine“ [auf Englisch], „Verstaatlichung der Banken“, „Gewalt ist, nur 600 Euro im Monat zu verdienen“, „Ohne die Polizei und ohne seinen Reichtum verliert [der katalanische Ministerpräsident] Mas den Kopf“.

In Madrid trafen sich sechs Demonstrationszüge auf dem Neptunplatz, insgesamt etwa 90.000 Demonstranten. Die beliebtesten Parolen waren: „Sie repräsentieren uns nicht!“, „Sie nennen das Demokratie, aber das ist es nicht“ und „Wir zahlen nicht für die Krise“.

In Sevilla versammelten sich Tausende Demonstranten mit der Parole: „Die einzige Gewalt kommt vom System“. Sie riefen und sangen Slogans gegen die Banker und für das Recht auf Bildung und auf allgemein zugängliche medizinische Versorgung.

In Valencia nahmen 80.000 Menschen aus Arbeitervierteln an den Demonstrationen teil. Wie die Tageszeitung Público schrieb, waren Rentner, Studenten, Einwanderer und ganze Familien dabei.

In Galizien demonstrierten in der Regionalhauptstadt Santiago de Compostela etwa 10.000 Menschen. Eine Gruppe von Demonstranten führte ein Theaterstück auf. Sie verkleideten sich als Sklaven und hielten ein Transparent hoch auf dem stand „Das ist nicht die Zeit für Sklaverei“.

In Saragossa, Aragonien, gingen 20.000 auf die Straße.

Die Tatsache, dass diese Demonstrationen so groß sind und sich immer stärker außerhalb der Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie und ehemals linken Parteien entwickeln, ist ein Anzeichen dafür, dass die Arbeiterklasse die Sparmaßnahmen nicht als „alternativlos“ akzeptiert.

Viele Demonstranten wendeten sich gegen den Euro-Pakt oder „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“, der letzten März beim Eurogipfel verabschiedet wurde, und den das Europaparlament am 27. Juni noch bestätigen muss. Die europäischen Regierungen sind bereit, die Banken mit Steuergeldern zu sanieren, während bei Löhnen, Renten und Steuern Strukturreformen durchgesetzt werden. Das bedeutet, dass das Rentenalter steigen wird und die Löhne nach Produktivität gezahlt werden, statt nach Lebenshaltungskosten.

Die spanische Sozialistische Partei unter Führung von Premierminister Jose Zapatero hat sich zu einem Sparpaket in Höhe von fünfzehn Milliarden Euro verpflichtet. Das bedeutet Kürzungen der Beamtengehälter zwischen fünf und fünfzehn Prozent, eine Erhöhung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahre und eine Arbeitsrechtsreform, die den letzten Rest des Arbeitnehmerschutzes zerstört. Dazu kommen die Kürzungen bei der Gesundheitsversorgung und der Bildung. In einigen Fällen, wie in Katalonien, entsprechen die Kürzungen zehn Prozent des Haushaltsetats vom letzten Jahr.

Die offizielle Arbeitslosenquote liegt über zwanzig Prozent, bei unter 25-Jährigen sogar bei 45 Prozent.

Die Zusammensetzung der Teilnehmer vom Sonntag unterschied sich von der Demonstration am 15. Mai, zu der „Echte Demokratie Jetzt“, eine hauptsächlich von Studenten getragene Organisation, aufgerufen hatte. Jetzt waren unter den Demonstrierenden mehr Arbeiter und Arbeitslose.

Público schrieb: „Zahlreiche Angestellte des öffentlichen Dienstes schlossen sich den Protesten an. Einige waren dankbar für die Aktionen, zu denen die Indignados [„die Zornigen“] in den vergangenen Monaten für Gesundheitsversorgung, Bildung und Sozialleistungen aufgerufen hatten. Dasselbe bei den Arbeitern von Yamaha, Derbi und Seat. Die Bewegung vom 15. Mai unterstützte sie in ihrem Kampf gegen ERE [Expediente de Regulacion de empleo – Plan zur Anpassung der Belegschaft]. Gestern zögerten sie nicht, sich der Demonstration anzuschließen.

Es wurde zwar kein besonderes Manifest verlesen, doch wurde Josep Bel, ein Angestellter der [Telefongesellschaft] Telefónica gebeten, die in der Firma herrschende Situation zu schildern. ‚Telefonica macht mehr Gewinn als je zuvor, und sie werfen jetzt 6.500 Angestellte raus‘, sagte Bel vor einer beträchtlichen Zuschauermenge. Der Angestellte berichtete, wegen der prekären Arbeitsbedingungen gebe es jeden Tag mehr Mileuristas [1000 Euro-Verdiener], während die Vorsitzenden acht Millionen im Jahr verdienen.“ (Siehe “Spain: Telefónica slashes jobs and offers multimillion bonuses to its chief executives”)

Die Presse versuchte, die Zahl der Demonstranten herunterzuspielen. Die Tageszeitung El Pais schrieb, in Madrid seien es etwa 37-42.000 und in Barcelona 98.000 gewesen. Nirgendwo wurde erwähnt, dass die Gewerkschaften und politischen Parteien nicht anwesend waren. Darin drückt sich die Furcht der herrschenden Kreise davor aus, dass die Gewerkschaftsbürokratie, ihr wirtschaftliches Kontrollorgan, die Situation nicht mehr in den Griff bekommen könnte.

José María Ridao, ein Mitglied der Redaktionsleitung von El Pais, musste sich fragen: „Was gewinnen der Staat und das institutionelle System, wenn sie die Rufe [der Demonstranten] ignorieren? (…) In der demokratischen Politik ist es notwendig, das Phänomen [die Proteste] so schnell wie möglich in rechtsstaatlichen Begriffen zu beschreiben, um innerhalb des institutionellen Systems darauf zu reagieren.“

In Grenada, wo über 20.000 hauptsächlich junge, aber auch ältere Menschen auf der Straße waren, sprach ein Team der World Socialist Web Site mit einigen Teilnehmern.

Sofia und Sara Sofia und Sara

Sofia, Philosophiestudentin im zweiten Jahr, sagte: „Wir haben die Lage satt, weil die Politiker uns nicht ernst nehmen. Sie denken, wir seien Marionetten. Aber wir gehören zur Gesellschaft, und sie müssen uns anhören. Wir sind nicht für die Krise verantwortlich, aber wir sollen dafür zahlen.

Meine Mutter zum Beispiel arbeitet in der Verwaltung. Sie hat 1000 Euro im Monat verdient, jetzt verdient sie 300 weniger. Es ist wirklich schwer, über die Runden zu kommen. Wenn Zapatero zurücktritt, hat er für den Rest seines Lebens ausgesorgt. Das ist nicht gerecht. Die Reichen müssen zahlen.“

Ihre Freundin Sara sagte: „Ich finde es nicht richtig, was die Regierung macht. Man hat uns nicht beigebracht, nachzudenken, sondern zu tun was gesagt wird. In den Nachrichten im Fernsehen und im Radio wird nicht die Wahrheit gesagt. Vor zwei Monaten habe ich eigentlich nichts wirklich hinterfragt. Ich habe einfach die Nachrichten angeschaut und alles akzeptiert.

Jetzt habe ich meine Meinung geändert, weil ich diese Bewegung sehe und anfange, nachzudenken und nachzuforschen. Das ist die beste Möglichkeit, sich zu bilden. Wir erfahren vieles über das Gesetz und unsere Rechte.“

Die Biologiestudentin Marina sagte: „Ich denke, wir brauchen eine neue Politik, aber wir müssen dazu gehören und nicht nur gesagt bekommen, was wir tun sollen. Der Kapitalismus herrscht auf der ganzen Welt. Alles geht zugrunde, weil das System nicht funktioniert. Es muss sich auf der ganzen Welt etwas verändern.“

Ihre Freundin Berta, die Umweltwissenschaft studiert, sagte: „Ich denke, es wäre am besten, wenn die Arbeiterklasse das politische System kontrollieren würde.“

Juan Gomez, ein älterer Arbeiter, sagte „Ich bin hier, weil ich mit dieser Bewegung einer Meinung bin, besonders was das Problem der Jugendarbeitslosigkeit angeht. Meine 24-jährige Tochter hat einen Abschluss in Psychologie, und mein 21-jähriger Sohn ist ein begabter Künstler. Beide sind arbeitslos. Ich denke, jedes System muss sich mit den Problemen seiner Bürger auseinandersetzen.

Ich würde einen Generalstreik unterstützen, wenn wir Zapatero und seine Regierung dadurch loswerden könnten.“

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