Washington und die Medienkonzerne nutzen die Ermordung Bin Ladens, um den US-Militarismus lautstark zu feiern. In keiner öffentlichen Rede und keinem Medienkommentar gibt es jedoch eine Einschätzung des zehnjährigen „Krieges gegen den Terror“. Aber die Hinrichtung Bin Ladens in Pakistan wird zu dessen Meilenstein hochgejubelt.
Zum Zeitpunkt seiner Ermordung war Osama bin Laden weitgehend unbedeutend geworden. Er war ein kranker alter Mann, der allem Anschein nach unter Hausarrest des pakistanischen Geheimdienstes stand. Die strategische Bedeutung seines Todes wird allgemein als null und nichtig eingestuft.
Ohne Frage war er eine zutiefst reaktionäre Figur. Seine Weltsicht war durchtränkt von Anti-Kommunismus und religiösem Fanatismus. Diese Ideologie hatte ihn in dem katastrophalen Krieg, den Washington 1979 gegen die von der Sowjetunion unterstützte Regierung in Afghanistan begann, zu einem wertvollen Agenten der CIA gemacht.
Bei der Verkündung von Bin Ladens Tod versicherte US-Präsident Barack Obama, es sei „Gerechtigkeit geübt worden“. Außenministerin Hillary Clinton erklärte in ähnlicher Weise, „der Gerechtigkeit sei Genüge getan worden.“
Bin Ladens Hinrichtung durch ein Navy-Seal-Team hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Sein Tod war vorher beschlossene Sache. Dabei geschah er unter Umständen, unter denen man ihn hätte festnehmen und auf Grund der Vorwürfe im Zusammenhang mit den terroristischen Angriffen vom 11. September 2001 vor ein Gericht hätte stellen können.
Hinter dieser Entscheidung lag die Entschlossenheit, die lange Geschichte von bin Ladens Beziehungen zur US-Regierung weiter vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Diese Beziehung begann mit der Bewaffnung und der finanziellen Unterstützung der sogenannten Mujaheddin – islamistischer Guerillas, die gegen die sowjetischen Truppen in Afghanistan kämpften. Präsident Ronald Reagan bezeichnete sie einst als das „moralische Gegenstück zu unseren Gründervätern“.
Osama, Sohn eines wohlhabenden Geschäftsmannes in Saudi-Arabien, spielte eine Schlüsselrolle bei der Rekrutierung und der Ausbildung arabischer Freiwilliger für die von der CIA unterstützten Mujaheddin, die schließlich den Aufstieg der Taliban ermöglichten. Al Kaida, arabisch für „Basis“, wurde zu jener Zeit gegründet – mit Hilfe der CIA, die auch Waffen lieferte.
Diese Zusammenarbeit endete nicht mit dem sowjetischen Rückzug aus Afghanistan oder mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges. Bin Laden und Al Kaida dienten in den Kriegen, die Jugoslawien zerrissen, einmal mehr als wertvolle Partner der US-Geheimdienste – zuerst in Bosnien und dann, am Ende der neunziger Jahre, im Kosovo.
Wie so oft in der US-Außenpolitik werden aus den Verbündeten von heute die Feinde von morgen. Der islamistische Aufstand, den die USA unterstützten, um die Sowjetunion zu unterminieren, entwickelte eine zunehmende Feindschaft gegenüber der wachsenden US-Präsenz im Nahen Osten, insbesondere in Saudi-Arabien.
Die Geschichte dieser langen und engen Beziehung zwischen einem Individuum, das als tödlichster Feind der USA charakterisiert wird, und den US-Geheimdiensten wird von den Medien systematisch vertuscht.
Die Ereignisse des 11. Septembers, die bis heute einer ernsthaften Untersuchung und Erklärung bedürfen, lieferten den Vorwand, um den „globalen Krieg gegen den Terror” vom Zaum zu brechen.
Was an Washingtons Reaktion auf die tragischen Ereignisse des 11. September auffällt, ist das Fehlen jeglichen logischen Zusammenhangs zu ihrem Auslöser. Fünfzehn der neunzehn Attentäter waren – wie der angebliche Drahtzieher Osama bin Laden – Staatsbürger Saudi-Arabiens, das jeglicher Bestrafung entging. Keiner von ihnen kam aus Afghanistan oder dem Irak, die beide kurz darauf in einen Strudel tödlicher Gewalt geraten sollten.
So lange bin Laden seine Basis in Afghanistan hatte, waren die Beziehungen zwischen der Al Kaida und den Taliban immer angespannt. Im Oktober 2001 deuteten Minister der Taliban zum ersten Mal an, dass sie bereit wären, bin Laden zu opfern, wenn Washington Beweise für seine Beteiligung an den Angriffen vom 11. September lieferte. Das Angebot wurde ausgeschlagen. Dann verkündeten die Taliban, sie würden die Auslieferung bin Ladens an ein neutrales Land verhandeln, wenn die USA aufhörten, Afghanistan zu bombardieren. Wiederum erklärte die Bush-Regierung, sie sei an einer solchen Lösung nicht interessiert. Was sie anstrebte, war ein Regime-Wechsel.
Nach dem Einmarsch in Afghanistan unter dem Vorwand, bin Ladens habhaft zu werden, gestattete die Bush-Administration ihm in der Schlacht von Tora-Bora im Dezember 2001 die Flucht. Dem US-Militär wurde damals praktisch Tatenlosigkeit befohlen, während der Al-Kaida-Führer sich unbehelligt über die Grenze auf den Weg nach Pakistan machte.
Bush zeigte bald kein besonderes Interesse mehr daran, bin Laden festzunehmen. Er erkannte damit an, dass der Al-Kaida-Führer keine so wichtige Rolle im Widerstand gegen die amerikanische Besetzung Afghanistans spielte. Tatsächlich war er lebend ein nützliches Symbol für den „Krieg gegen den Terror“ – ganz besonders durch die Herausgabe bedrohlicher Videobotschaften in politisch opportunen Momenten – so wie zum Auftakt der Präsidentschaftswahlen von 2004.
Den Angaben der Obama-Administration zufolge orteten die US-Geheimdienste den Wohnkomplex, in dem bin Laden sich versteckt hielt, im August 2010. Warum es neun Monate lang dauerte, um eine Razzia durchzuführen, lässt sich wohl kaum durch technische Vorbereitungen erklären. Ganz sicherlich gab es politische Erwägungen, in die bin Ladens Verbindungen nicht nur zu pakistanischen Geheimdiensten, sondern auch zum US-Geheimdienst-Apparat hineinspielten.
Fast zehn Jahre nach dem Beginn des “Krieges gegen den Terror” kämpfen einhunderttausend amerikanische Soldaten gegen eine wachsende Widerstandsbewegung, die zum großen Teil angefacht wird durch die Ermordung und Verwundung hunderttausender Afghanen in dem Kolonialkrieg der USA.
Eineinhalb Jahre nach dem 11. September nahm der sogenannte globale Krieg gegen den Terror mit dem überfallartigen Angriff auf den Irak eine scharfe Wendung. Wiederum bestand das Ziel in einem Regimewechsel – diesmal gerechtfertigt durch Lügen über „Massenvernichtungswaffen“ – obwohl das Ziel des Angriffs, Saddam Hussein, ein glühender Gegner bin Ladens und der islamistischen Terroristen war. Mehr als eine Million Iraker sind als Ergebnis des US-Aggressionskrieges gegen den Irak umgekommen und 47.000 amerikanische Soldaten besetzen weiterhin das Land.
Jetzt hat sich die Obama-Administration an einer weiteren Militärintervention zum Sturz von Libyens Muammar Gaddafi beteiligt – einem ehemaligen Verbündeten im Kampf gegen Al Kaida. Ziel ist es, ein Marionettenregime zu installieren, das sich den westlichen Energiekonglomeraten gegenüber willfähriger verhält. In diesem Konflikt leisten die USA und ihre europäischen Verbündeten Luftunterstützung und stellen „Rebellen“-Kräften Berater und Waffen zur Verfügung, unter denen sich islamistische Elemente befinden, die in bin Ladens Camps in Afghanistan ausgebildet wurden.
All dies zeigt, dass der angebliche “Krieg gegen den Terror” für Washington nie etwas anderes gewesen ist als ein nützlicher Vorwand – und Osama bin Laden ein passendes Schreckgespenst – um das zu vermarkten, was das US-Militär heute als den „langen Krieg“ in Zentral- und Südostasien und im Persischen Golf bezeichnet.
Was sind die wirklichen Ziele dieses Krieges? Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater der Carter-Administration, der die CIA-Intervention in Afghanistan in den 1980ern koordinierte, vermittelte eine klare Einsicht in die strategischen Erwägungen des US-Imperialismus.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
In seinem 1997 erschienenen Buch The Grand Chessboard (deutsch: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft., Weinheim 1997) beschreibt Brzezinski Eurasien als das Schachbrett, auf dem der Kampf um die globale Vorherrschaft auch weiterhin ausgetragen werde. Mit dem Ende der sowjetischen Macht in jener Region bestehe die Herausforderung für den US-Imperialismus in der Verhinderung des Entstehens einer dominanten antagonistischen eurasischen Macht.
Von zentraler Bedeutung seien die Energiereserven des Kaspischen Beckens, die in ihrer globalen Bedeutung direkt auf die des Persischen Golfs folgten. Afghanistan liefere die wichtigsten Versorgungslinien, um diese strategischen Ressourcen für den Westen zu erschließen und liege darüber hinaus in unmittelbarer Nachbarschaft zu den drei Mächten, die der US-Vorherrschaft in der Region am ehesten gefährlich werden könnten: China, Russland und dem Iran.
In seinem Buch beklagte Brzezinski, dass Amerika zu Hause zu demokratisch sei, aber in Übersee autokratisch auftrete. Die öffentliche Meinung begrenze Washingtons Fähigkeit, seine Ziele durch „militärische Einschüchterung“ zu erreichen. Dies könne nur „im Fall einer plötzlichen Bedrohung oder einer Herausforderung des Wohlergehens der Öffentlichkeit im eigenen Land“ überwunden werden.
Die Angriffe vom 11. September lieferten eine solche “plötzliche Bedrohung” und wurden von der Bush-Administration sofort genutzt, um die zuvor ausgearbeiteten Pläne für eine US-Militärintervention in Zentralasien und dem Persischen Golf durchzusetzen. Amerikas herrschende Elite versuchte, der Krise des US-Kapitalismus durch die militärische Sicherung strategischer Positionen in diesen zwei Regionen zu begegnen, die beide riesige Energiereserven bergen. In welchem Ausmaß Elemente innerhalb des Staatsapparates der USA und innerhalb seiner Geheimdienste wussten, dass eine solche „plötzliche Bedrohung“ unmittelbar bevorstand, bleibt noch immer ernsthaft zu untersuchen.
Die Angriffskriege des vergangenen Jahrzehnts gehen einher mit schrecklichen Verbrechen gegen demokratische Rechte innerhalb und außerhalb der USA. Die systematische Ermordung, Folterung, unbegrenzte Inhaftierung und außerordentliche Auslieferung von Terrorverdächtigen ist begleitet worden durch den Ausbau eines Polizeistaates in den USA selber.
Sowohl Obama als auch Clinton machten in ihren Reden klar, dass bin Ladens Tod den globalen Vormarsch des amerikanischen Militarismus nicht eindämmen werde. Obama betonte, „die Absicherung unseres Landes sei noch nicht vollendet“, während Clinton schwor: „Der Kampf geht weiter und wir werden niemals nachgeben.“
So wie die angebliche Jagd auf bin Laden als Vorwand für die Invasion Afghanistans diente, so wird sein Tod möglicherweise benutzt werden, um gewisse taktische Veränderungen in einem Kampf vorzunehmen, der für das US-Militär in jenem Land zu einem immer größeren Debakel wird. Hillary Clinton deutete an, dass es zu einer Verhandlungslösung mit den Taliban kommen könne.
Doch im Mittleren Osten, in Nordafrika und Zentralasien steht der US-Imperialismus einem weitaus mächtigeren Feind gegenüber, als es Al Kaida und bin Laden jemals hätten sein können. Die Aufstände in Tunesien, Ägypten, Jemen, Bahrain und anderenorts wurden ausgelöst durch die ersten Regungen einer Arbeiterklasse, die entschlossen ist, gegen die Massenarbeitslosigkeit, Armut und Ungleichheit zu kämpfen, die ihnen das globale Kapital und die nationalen herrschenden Eliten aufzwingen.
In den USA selbst hat sich die Krise des Kapitalismus ein Jahrzehnt nach Beginn des „Krieges gegen den Terror“ verschärft. Die amerikanische Arbeiterklasse hat eine gewaltige Verschlechterung ihres Lebensstandards und ihrer sozialen Bedingungen hinnehmen müssen. Trotzdem verlangen Politiker beider großer Parteien weitere massive Einschnitte.
Die gegenwärtige von den Medien erzeugte Euphorie angesichts der Ermordung bin Ladens wird bald in den Schatten gestellt werden vom unvermeidlichen Anwachsen des Klassenkampfes und revolutionärer Konfrontationen zwischen dem US-Imperialismus und der Arbeiterklasse, sowohl im Inland, wie auch im Ausland.