Europäische Union und Pressefreiheit

Am 1. Januar hat Ungarn für ein halbes Jahr die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union übernommen. Am selben Tag trat in Ungarn ein neues Mediengesetz in Kraft, das die öffentlichen und privaten Medien der Kontrolle der Regierung unterstellt und die Pressefreiheit praktisch beseitigt. Das Zusammenfallen der beiden Ereignisse hat Symbolkraft. Die Meinungsfreiheit – und die Demokratie überhaupt – befinden sich in ganz Europa im Niedergang.

Die rechtskonservative ungarische Regierung hat keine Zeit verstreichen lassen, um ihre Macht über die Medien zu demonstrieren. Kaum war das neue Gesetz in Kraft, eröffnete der neu geschaffene Medienrat ein Verfahren gegen den kleinen, linksliberalen Sender Tilos Radio. Ihm wird vorgeworfen, vor vier Monaten einen Song des Rappers Ice-T ausgestrahlt zu haben. Da kaum ein Ungar den amerikanischen Slang des Gangsta-Rappers versteht, veröffentlichte der Medienrat auch gleich noch eine ungarische Übersetzung des beanstandeten Textes, um seine jugendgefährdende Wirkung zu demonstrieren.

Als nächstes geriet der TV-Sender RTL Klub ins Visier des Medienrats. Auch er gilt als relativ liberal und regierungskritisch. Er wird beschuldigt, zu „reißerisch“ über einen brutalen Brudermord in einem südungarischen Dorf berichtet zu haben. Vor allem das Bild einer blutbefleckten Matratze, das in der Reportage zu sehen war, sei „jugend- und sogar erwachsenengefährdend“.

Beide Fälle unterstreichen, dass das neue Gesetz der Regierung sämtliche Mittel in die Hand gibt, um missliebige Medien unter einem willkürlichen Vorwand mundtot zu machen. Während sich der Medienrat moralischer Vorwürfe wie „Gewaltverherrlichung“, „Jugendgefährdung“ oder „Pornografie“ bedient, um gegen unerwünschte Medien vorzugehen, haben die regierungsnahen Sender, die das gesellschaftliche Klima täglich mit Hetztiraden gegen Roma, Juden, Homosexuelle und „Kommunisten“ vergiften, keine Sanktionen zu befürchten.

Bisher sind zwar noch keine Strafen gegen Tilos Radio und RTL Klub verhängt worden, doch der Medienrat hat die Macht, ihnen die Lizenz zu entziehen oder sie durch drakonische Geldstrafen in den Ruin zu treiben. Das Gremium besteht ausschließlich aus Mitgliedern der Regierungspartei Fidesz. An ihrer Spitze steht mit der 49-jährigen Annamaria Szalai eine langjährige Kampfgefährtin von Regierungschef Viktor Orban.

Die EU-Kommission, die für die Einhaltung der EU-Verträge zuständig ist, hat bisher betont zurückhaltend auf die Verletzung der Pressefreiheit in Ungarn reagiert, obwohl es seit Monaten Auseinandersetzungen über das neue Mediengesetz gab und sich auch innerhalb der EU vereinzelte kritische Stimmen zu Wort meldeten. Die für Telekommunikation und Medien zuständige Kommissarin Neelie Kroes hat zwar kurz vor Weihnachten in einem Schreiben an die ungarische Regierung Bedenken geäußert, ob die Zusammensetzung des Medienrats mit bestehenden EU-Richtlinien zu vereinbaren sei. Sie hat sich aber bisher geweigert, die Vereinbarkeit des Mediengesetzes mit der EU-Grundrechtecharta zu prüfen, die die Informations- und Meinungsfreiheit garantiert.

Die Zurückhaltung der EU-Kommission hat mehrere Gründe. Zum einen wollte sie unter allen Umständen vermeiden, dass die Übernahme der Ratspräsidentschaft durch Ungarn in Frage gestellt wird. Angesichts bestehender Konflikte über Währungs- und Wirtschaftsfragen hätte dies unweigerlich eine Krise der gesamten EU ausgelöst. Vor allem aber ist Ungarn kein Einzelfall. Die Sparprogramme, die die EU derzeit in Ungarn, Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und vielen anderen Ländern diktiert, lassen sich nicht mit demokratischen Freiheiten vereinbaren.

In vielen europäischen Ländern ist Pressefreiheit nur noch ein toter Buchstabe. In Italien besitzt Silvio Berlusconi fast alle privaten Medien und kontrolliert als Regierungschef die öffentlichen Medien. Auch in Spanien ist Berlusconis Konzern Mediaset seit Jahresanfang der größte Fernsehanbieter. In Frankreich pflegt Nicolas Sarkozy enge persönliche Beziehungen zu den einflussreichsten Zeitungsverlegern und knebelt als Präsident die öffentlichen Medien. Er hat persönlich dafür gesorgt, dass kritische Journalisten ihren Job verloren. Berlusconi und Sarkozy gelten als politische Vorbilder des ungarischen Regierungschefs Orban.

In anderen Ländern diktieren finanzstarke Medienmogule die Politik der Regierung. So hat es in England seit Tony Blair kein Premierminister gewagt, gegen den Willen des Murdoch-Konzerns zu handeln. In Ungarn beherrschen deutsche Konzerne die Medienlandschaft. Der rechtslastige Axel-Springer-Konzern ist der größte Zeitungsverlag des Landes. Auch die WAZ-Gruppe, die dem rechten Flügel der SPD nahe steht, sowie die TV-Sender Pro Sieben/Sat 1 und RTL sind in Ungarn stark vertreten. Sie alle haben sich bisher mit Kritik am neuen Mediengesetz auffallend zurückgehalten.

Es ist bezeichnend, dass die EU-Kommission auf eine andere Maßnahme der ungarischen Regierung viel schärfer reagiert hat, als auf die Abschaffung der Pressefreiheit. Im Herbst hatte die Regierung Orban zur Linderung des Haushaltsdefizits unter anderem eine so genannte „Krisensteuer“ eingeführt, die vor allem Großkonzerne in den bereichen Handel, Finanzen, Telekom und Energie trifft. In deutschen, französischen, niederländischen und österreichischen Konzernzentralen, die massiv in Ungarn investiert und über Jahre von Steuervergünstigungen und Subventionen profitiert haben, löste dies einen Entrüstungssturm aus.

Mitte Dezember wandten sich die Chefs von 13 Unternehmen – darunter der Deutsche Telekom, des Versicherungskonzerns Allianz, der Energieunternehmen E.on, RWE und EnBW sowie des Einzelhandelskonzerns Rewe – in einem geharnischten Brief an die EU-Kommission und beschwerten sich über den Versuch, den Staatshaushalt „auf dem Rücken ausgewählter Sektoren und ausländischer Unternehmen auszugleichen“. Damit zerstöre die Regierung „jegliche Vertrauensgrundlage für zukünftige Investitionen“.

Die EU-Kommission reagierte sofort. Sie hatte die ungarische Regierung bereits im Oktober, zwei Tage nach Bekanntgabe der neuen Steuer, zu einer Stellungsnahme aufgefordert und leitete als Reaktion auf den Brief der Konzernbosse noch im Dezember eine offizielle Untersuchung ein, wie ein Kommissionssprecher in Brüssel erklärte. Auch die deutsche Regierung schaltete sich sofort ein. Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) äußerte seine „Besorgnis“ und warnte, Abgaben, die vorrangig ausländische Unternehmen beträfen, seien „grundsätzlich problematisch“.

Der Regierung Orban, die aufgrund einer rechtspopulistischen, stark nationalistisch gefärbten Kampagne an die Macht gelangt ist, dient die Besteuerung ausländischer Konzerne vor allem dazu, die eigene Basis zu beruhigen. Sie steht unter gewaltigem wirtschaftlichem Druck. Im Laufe des nächsten Monats muss sie einen Plan zur Sanierung des Haushalts vorlegen. Überzeugt er die internationalen Finanzmärkte nicht, werden die Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit des Landes auf „Junk“ herabstufen. Der Budapester Ökonom Gyorgy Barta fasste die Lage mit den Worten zusammen: „Wir stehen jetzt nur noch einen Schritt vom Abgrund entfernt.“

Die Regierung Orban ist ungeachtet ihrer nationalistischen Rhetorik völlig von den internationalen Finanzmärkten abhängig. 80 Prozent aller Investitionen in Ungarn stammen aus der EU, ein Viertel allein aus Deutschland. Mit der Abschaffung der Pressefreiheit und anderen diktatorischen Maßnahmen bereitet sie sich darauf vor, ihr Sanierungsprogramm der arbeitenden Bevölkerung aufzuzwingen, die die Hauptlast zu tragen haben wird. Die EU-Kommission und die europäischen Regierungen wissen das – deshalb sind sie auch nicht bereit, dagegen vorzugehen.

Die soziale Lage in Ungarn ist jetzt schon katastrophal. Eine aktuelle Studie hat ergeben, dass über eine Million der zehn Millionen Einwohner nicht mehr in der Lage sind, ihre Strom-, Gas- und Fernwärmerechnungen pünktlich zu bezahlen. Sind sie drei Monate im Rückstand, wird ihnen die Zufuhr abgestellt.

Die Verteidigung demokratischer Rechte, wie der Pressefreiheit, ist untrennbar mit der Verteidigung der sozialen Rechte der Arbeiterklasse verbunden. Dass erfordert eine gemeinsame Offensive der europäischen Arbeiterklasse gegen die Diktatur der Konzerne und Banken auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.

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