Welle von Selbstmorden in indischer Boomtown

In Tirupur, einer bekannten "Boomstadt" im südöstlichen indischen Bundesstaat Tamil Nadu, begingen in den letzten zwei Jahren an die tausend Textilarbeiter zum Teil mit ihren Familienmitgliedern Selbstmord. Die Selbstmorde fanden auf dem Hintergrund von schreiender Armut, Arbeitshetze, unsicheren Arbeitsplätzen und Entlassungen, erdückenden Schulden sowie Einschüchterung von privaten Geldverleihern und ihren Schlägern statt.

Tirupur liegt 500 km nordwestlich von Chennai, der Hauptstadt Tamil Nadus. Es entwickelte sich in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer von Indiens grössten Fabrikationsstätten von Textilien. Gegenwärtig werden dort 90 Prozent der indischen Baumwollstrickwaren für den Export hergestellt. Seit 1998 wächst die Bevölkerung der Stadt jährlich um geschätzte 30 Prozent, womit Tirupur die am schnellsten wachsende Stadt in Tamil Nadu ist, mit einer Bevölkerung von über einer Millionen Menschen.

Mit dem Wachstum Tirupurs sind gewaltige Reichtümer gemacht worden – die Einnahmen aus der Textilindustrie stiegen von 80 Milliarden Rupien (1,35 Milliarden €) in 2008 auf 120 Milliarden Rupien (2,03 Milliarden €) in 2009. Tirupurs Anteil an den Textilexporten Indiens liegt nun bei einem Viertel.

Diejenigen, die mit ihrer harten Arbeit dieses spektakuläre Wachstum vorwärtstreiben - die hunderttausenden Textilarbeiter und ihre Familien - leben unter verzweifelten Bedingungen. Sie sind derart verzweifelt und niederdrückend, dass monatlich 40 bis 50 Selbstmorde verübt werden.

Kürzlich wurde aufgedeckt, dass sich bis September 2010 910 Textilarbeiter, ihre Eheleute und Kinder aus Tirupur umgebracht haben. Der Großteil von ihnen war 20 bis 40 Jahre alt, d.h. sie standen in der "Blüte" ihres Lebens.

Im letzten Jahr hat sich die Situation noch verschlechtert. In ganz 2009 haben sich noch 495 Textilarbeiter und Familienangehörige umgebracht, in den ersten sechs Monaten 2010 waren es bereits an die 350 Selbstmorde. In den drei Monaten Juni bis August 2010 nahmen sich 250 Arbeiter das Leben.

Dieser Anstieg ist ohne Zweifel mit der wachsenden Krise in der Textilindustrie verbunden, welche die Arbeitgeber in Tirupur veranlasste 25.000 Stellen zu streichen sowie die Produktion von Strickwaren im letzten halben Jahr um 20 Prozent zu reduzieren und vermehrt Arbeitshetze und Lohnkürzungen einzuführen.

Sprecher der Unternehmen haben die Stellen- und Produktionskürzungen auf den scharfen Anstieg der Preise für Garn zurückgeführt, der ihrer Meinung nach auf die Entscheidung der von der Kongresspartei dominierten Regierung der Vereinigten Fortschrittsallianz (United Progressiv Alliance, UPA) zurückfällt, die den unbeschränkten Export von Baumwolle und Garn erlaubte.

Die Entscheidung, die Beschränkungen der Exporte von Baumwolle und Garn vollkommen aufzuheben, die sich mit dem unternehmerfreundlichen Programm des "Freien Marktes" der Regierung deckt, wurde nun auf Druck der Textilunternehmen teilweise wieder zurückgenommen. Anfang Dezember gab die UPA-Regierung bekannt, dass Baumwollgarnexporte für das indische Wirtschaftsjahr 2010-11 auf 720 Millionen Kilogramm beschränkt werden.

Wie vorherzusehen war haben die Bosse in der Textilindustrie die Rücknahme begrüsst, während die Hersteller von Garn die Maßnahme verurteilten.

Die bittere Wahrheit ist jedoch, dass auch als die Produktion in Tirupur in 2009 rapide zunahm, sich Hunderte von verzweifelten Textilarbeitern das Leben nahmen.

Ausbeutung für weltweit führende Einzelhändler

Die exportorientierte Textilindustrie in Tirupur produziert alle Arten von Strickstoffen: Kinder, Frauen und Männerwäsche, darunter Unterwäsche, T-Shirts, Schlafanzüge und Sportbekleidung.

Der Wirtschaftszweig besteht aus mehr als 8.000 Werkstätten, von denen knapp 3.000 Zulieferer mit nur einer Handvoll Arbeiter sind.

Die Textilien, die in diesen Werkstätten hergestellt werden, werden hauptsächlich nach Nordamerika und Europa exportiert, wo sie von einigen der grössten Einzelhandelsketten und Markennamen vertrieben werden darunter WalMart, Priamark, Diesel, ARMY und Tommy Hilfiger.

Mit der Rationalisierung des Arbeitsprozesses haben die Unternehmen erfolgreich die verschiedenen Arbeitsschritte, die für die Herstellung von Textilien notwendig sind, von einander getrennt, sodass die Zahl der qualifizierten Arbeitskräfte stark verringert werden konnte. Der Hauptteil der Arbeit - sich wiederholende, geistig erschöpfende Handgriffe - können so ungelernten oder nur kurz eingewiesenen Arbeitern überlassen werden.

Angesichts der ständigen Krise des ländlichen Indien verfügt die Textilindustrie über einen unerschöpflichen Vorrat an unqualifizierten Arbeitern - Landarbeiter und kleine Bauern, die ihre Höfe aufgeben mussten, da ihre Arbeit sie in einer Wirtschaft, in der jeder Aspekt auf kapitalistsischen Verhältnissen beruht, nicht mehr ernähren kann.

Um Kosten weiter zu senken und die Arbeiterschaft in einem Zustand der Zersplitterung zu halten, geben die Großunternehmen einzelne Arbeitsschritte an kleinere Firmen weiter, die sich auf diese einzelnen Arbeitsschritte wie Einfärben, Glätten oder Nähen spezialisiert haben.

Die Zerlegung des Produktionsprozesses forciert die systematische Verletzung des Arbeitsrechts, welches in Indien ohnehin ignoriert wird.

Indiens Arbeitsrecht fordert, dass Mehrarbeit nach acht Stunden bezahlt wird, dennoch arbeiten viele Angestellte in Tirupur zwölf und sogar sechzehn Stunden Schichten, ohne dass ihnen die Überstunden bezahlt würden.

Für eine 12-Stunden-Schicht im Bereich Schneiden, Nähen, Schneidern und Bügeln beträgt der Lohn gewöhnlich 190 Rupien (3,22€). Für die Warenauszeichnung sind es 132 Rupien (2,24€); für das Falten des fertigen Produkts sind es 131 Rupien (2,22€); für die Endkontrolle sind es 119 Rupien (2,01€) und für Verpackung sind es nur noch 106 Rupien (1,80€).

Während die Arbeiterschaft gezwungen ist, sich für Hungerlöhne stundenlang kaputtzuarbeiten, sehen sie sich ausserhalb der Arbeit mit den Problemen einer "Boomstadt" konfrontiert.

Wohngebiet von Textilarbeitern Wohngebiet von Textilarbeitern

Wohnungen sind knapp und teuer. Aufgrund der extrem hohen Mieten leben viele Arbeiter mit ihren Familien in Räumen, die im Durchschnitt sechs Quadratmeter groß sind. Die meisten der Mietskasernen haben zudem nicht einmal eine Innentoilette.

Die Preise für Nahrung und grundlegende Güter sind in Tirupur weitaus höher - um die fünfzig Prozent höher - als in den angrenzenden ländlichen Gebieten.

Da die Regierung selbst keine Krankenhäuser in Tirupur errichtet, müssen Arbeiter mit ihrem geringen Verdienst Behandlungen in privaten Kliniken bezahlen.

Viele Arbeiter haben zudem noch Angehörige in ihren Heimatdörfern zu versorgen.

Wie im ländlichen Indien, so ist auch unter den städtischen Arbeitern ein Grund für Selbstmord die Verschuldung. Weil sie nicht in der Lage sind, mit dem Hungergehalt durchzukommen, von Entlassung bedroht sind oder die medizinische Behandlung von Angehörigen nicht bezahlen können, sehen sich Arbeiter gezwungen, Geld von Verleihern zu horrenden Zinsen zu leihen. Regelmässig enden sie in der Schuldenspirale in der sie neue Kredite aufnehmen müssen um alte Schulden zu tilgen, während die Zinsen ständig steigen. Die Schulden türmen sich auf, und die Arbeiter und ihre Familien werden beständig von den Verleihern unter Druck gesetzt. Letzendlich kommt für einige nur noch der Selbstmord als Lösung in Frage.

Priya und Gautham Priya und Gautham

Dies geschah auch mit Priya und Gautham, einem Paar aus Tirupur, das im September Selbstmord beging und dessen Angehörige mit Reportern der World Socialist Web Site sprachen als diese Indiens Textilhauptstadt im letzten Monat besuchten. (Siehe auch: “Tirupur suicides: The human cost of India’s capitalist expansion”.)

Die Welle von Selbstmorden in Tirupur ist eine vernichtende Anklage gegen die indische Bourgeoisie. Während die UPA-Regierung und die Medien Indiens Aufstieg mit Hinweisen auf die wachsende Zahl von Milliardären feiern und sich damit brüsten, dass US Präsident Obama Indien in den Rang einer Weltmacht erhoben hat, leben 70 Prozent der Inder von weniger als 1,50€ am Tag während hunderte Millionen unterentwickelt oder unterernährt sind.

Für den Großteil eines Jahrzehnts mussten Medien und Regierung zugeben, dass das ländliche Indien überwiegend krisengeschüttelt ist und dass sich das in den Selbstmorden unter den Bauern äußerte. Offiziellen Untersuchungen Zufolge nahmen sich von 1997 bis 2009 an die 216.500 verschuldete und verarmte Bauern das Leben, davon allein 17.368 im Jahr 2009.

Die Selbstmorde in Tirupur unterstreichen, dass die wirkliche soziale Scheidung in Indien nicht zwischen Stadt und Land verläuft, sondern zwischen jenen, welche sich die Früchte von Indiens kapitalistischer Expansion aneignen und der großen Mehrheit der indischen Bevölkerung. Das steigende Einkommen und der Reichtum der Bourgeoisie und der Manager, Anwälte, der Journalie und von Politikern, die ihren Wünschen Folge leisten, stammen direkt aus der brutalen Ausbeutung in Indiens alten und neuen Industriezentren, ähnlich der in England während der industriellen Revolution.

Die Bedingungen in Tirupur sind ebenfalls eine vernichtende Bloßstellung der Politik der stalinistischen Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten) (Communist Party of India Marxist, CPM). Nur aufgrund der dringend benötigten Unterstützung, welche die CPM und die von ihr geführte parlamentarische Koalition, die Linksfront, der indischen Bourgeoisie geben, war diese in der Lage, zwei Jahrzehnte lang ihre alte "neue Wirtschaftspolitik" umzusetzen: die Umwandlung Indiens in ein Niedriglohnland durch Deregulierung, Privatisierung und die Streichung öffentlicher Dienste. Es muss ebenso festgestellt werden, dass die CPM in Tirupur eine schändliche Rolle spielte, die das Gefühl der Hilflosigkeit unter den Arbeitern nur verstärkt hat.

Abgeordnete der CPM und der Linksfront haben eine Reihe von Bundesregierungen gestützt, darunter vom Mai 2004 bis Juni 2008 die gegenwärtige UPA-Regierung, welche die kapitalistischen Marktreformen entschieden voran getrieben haben. Weiter wurde in den Bundesstaaten, in denen die Linksfront regiert, speziell in West Bengalen, der Sozialismus öffentlich als "weltfremd" verunglimpft und stattdessen "investorfreundliche" Programme gefördert, darunter die Kriminalisierung von Streiks im IT Sektor und die Erschiessung von Bauern, die sich gegen die Enteignung ihres Landes für Sonderwirtschaftszonen wehrten.

In Tirupur arbeitet die CPM vor aller Augen mit den Bossen der Textilindustrie zusammen. Eigenen Angaben der CPM zufolge handelte ein Abgeordneter der CPM 2008 im Staatsparlament von Tirupur als Mittelsmann für Bestechungsgelder von Textilunternehmen in Tirupur an den Arbeitsminister von Tamil Nadu. Die 2,5 Millionen Rupien (42.700€) Bestechungsgeld wurden dem Minister angeboten, um ihn zu bewegen, bei der Verletzung der Überstundenregelungen ein Auge zuzudrücken.

Als die Aktion des CPM-Abgeordneten aufgedeckt wurde, entfernte die CPM in lediglich vom Vorsitz ihrer Parlamentsfraktion im Staatsparlament. Der vertrauenswürdige Lakai der Unternehmer behielt weiterhin seinen Sitz als Abgeordneter der CPM. Erst viel später wurde er zögernd ausgeschlossen, nachdem er wiederholt Parteibeschlüsse missachtet hatte – er hatte die von der rechten Dravida Munnetra Kazhagam (DMK) geführte Regierung des Bundesstaates gelobt, die die CPM bei den Wahlen noch unterstützte, zu der sie nun jedoch in Opposition steht. "Wir sahen uns gezwungen, ihn auszuschließen, als er sich weigerte sein Verhalten zu ändern, sogar nachdem ihm längere Bedenkzeit eingeräumt worden war," so der Parteisekräter von Tamil Nadu, G. Ramakrishnan.

Die letzten Entwicklungen in Tirupur - die brutale kapitalistische Ausbeutung sowie der verkommene, rechte Charakter der stalinistischen CPM - machen die Notwendigkeit deutlich eine neue revolutionäre Partei der Arbeiterklasse in Indien aufzubauen. Sie muss sich auf die weltweiten historischen Erfahrungen der Arbeiterklasse gründen und im Kampf um soziale Gleichheit und Demokratie die ländliche Armut unter Führung der städtischen Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Herrschaft in Indien und weltweit mobilisieren.

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