Hartz-IV-Empfänger werden ab dem 1. Januar 364 statt bisher 359 Euro im Monat erhalten. Das entspricht einer Erhöhung von 1,4 Prozent und gleicht nur knapp die derzeitige Inflationsrate aus. Der Satz für Kinder wird gar nicht erhöht und bleibt auf dem bisherigen Stand von – abhängig vom Alter – 215 bis 287 Euro. Darauf haben sich die Koalitionsspitzen von Union und FDP am Wochenende geeinigt.
Die Entscheidung ist eine gezielte Provokation gegen die fünf Millionen Erwachsenen und 1,7 Millionen Kinder, die von Hartz-IV-Leistungen abhängig sind.
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar geurteilt, die Hartz-IV-Regelsätze entsprächen nicht dem durch Artikel 1 des Grundgesetzes gewährleisteten menschenwürdigen Existenzminimum, und die Bundesregierung verpflichtet, die Sätze bis zum Jahresende neu zu berechnen. Das Gericht hatte insbesondere beanstandet, dass die Bedürfnisse schulpflichtiger Kinder nicht berücksichtigt würden. Außerdem hatte es betont, die Würde jedes Einzelnen verlange neben der Sicherung der physischen Existenz auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.
Das Urteil wurde damals weitgehend als Aufforderung interpretiert, die Regelsätze – und insbesondere die Sätze für Kinder – deutlich heraufzusetzen. Das Gericht hatte sich allerdings auf keine bestimmten Summen festgelegt und lediglich eine transparentere Berechnung verlangt. Damit rechtfertigt die Bundesregierung nun ihre Entscheidung, die Regelsätze nur um einen Minimalbetrag von fünf Euro zu erhöhen.
Sie stützt sich dabei auf Erhebungen, die das Statistische Bundesamt im Jahr 2008 unter 60.000 Haushalten durchgeführt hat. Zur Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze werden Haushalte mit geringem Einkommen herangezogen, die zum unteren Fünftel der Einkommensskala zählen. Ausgangspunkt der Neuberechnung sind also nicht die tatsächlichen Lebensbedürfnisse, sondern die durchschnittlichen Ausgaben des ärmsten Fünftels der Bevölkerung.
Der Trick bei dieser Berechnung besteht darin, dass diese Haushalte selbst über ein sehr niedriges Einkommen verfügen, und zwar als Folge der Hartz-Gesetze, die von der rot-grünen Koalition zwischen 2003 und 2005 eingeführt wurden. Diese Gesetze haben nicht nur Arbeitslose zu Hartz-IV-Empfängern degradiert, sondern auch die Voraussetzungen für einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen. Die so zustande gekommenen niedrigen Einkommen, die oft nicht einmal das Existenzminimum decken, dienen nun ihrerseits als Berechnungsgrundlage, um die Hartz-IV-Sätze möglichst tief anzusetzen.
Höhnisch begründet die Regierung die niedrigen Hartz-IV-Sätze dann auch noch damit, dass der Abstand zu den niedrigsten Löhnen nicht zu gering sein dürfe, weil sonst kein „Anreiz“ zur Arbeitsaufnahme bestehe. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, der den Niedriglöhnen unterhalb des Existenzminimums ein Ende bereiten würde, lehnt sie aber kategorisch ab.
Da die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes trotz allem über dem bisherigen Regelsatz lagen, strich die Regierung kurzerhand die Kosten für Alkohol und Tabak, die sich bisher auf knapp 20 Euro beliefen, aus dem fiktiven Ausgabenkatalog. Genussmittel wie Alkohol und Tabak gehörten nicht zum Grundbedarf, begründete dies Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) in der Bild-Zeitung.
Die Ausgaben für Kinder liegen nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes sogar unter dem bisherigen Regelsatz. Die Regierung hat ihn deshalb nicht erhöht, obwohl das Bundverfassungsgericht den niedrigen Satz für Kinder besonders scharf beanstandet hatte.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Bunderegierung die sozial Schwachen in provokativer Weise angreift. Bereits ihr Sparprogramm vom Juni hatte sich fast ausschließlich gegen Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger, Alleinerziehende und Rentner gerichtet, während die Banken und Besserverdienenden, die die Wirtschaftskrise ausgelöst oder davon profitiert hatten, ungeschoren davon kamen.
Schon damals mussten Hartz-IV-Empfänger empfindliche Einbußen hinnehmen. Die Zuschläge, die zwei Jahre lang den Übergang vom Arbeitslosengeld I ins Arbeitslosengeld II (Hartz IV) erleichtern, das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger und der steuerfinanzierte Rentenversicherungsbeitrag für Langzeitarbeitslose wurden ersatzlos gestrichen. Auch der Druck auf Arbeitslose, jede Art von Arbeit anzunehmen, wurde durch drastische Sparvorgaben an die Job-Center erhöht.
Seither hat Bundeskanzlerin Angela Merkel mehrmals ihre uneingeschränkte Hörigkeit gegenüber der Wirtschafts- und Bankenlobby bewiesen – sie ging vor den Energiekonzernen in die Knie und genehmigte ihnen deutlich längere Laufzeiten für ihre Atomkraftwerke, sie stellte sich hinter das umstrittene Bahnhofprojekt Stuttgart 21 und sie genehmigte den Banken, deren Manager längst wieder fünf- und sechsstellige Boni kassieren, neue staatliche Milliardengarantien. Nun setzt sie ihre Offensive gegen Hartz-IV-Empfänger fort und verhöhnt sie auch noch, indem sie die Erhöhung um 5 Euro als einen „sehr, sehr großen Schritt“ bezeichnet.
Die Bundesregierung hält an diesem Kurs fest, obwohl sie im Frühjahr die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen verlor und ihre Umfragewerte im Keller liegen. Sie nimmt keinerlei Rücksicht mehr auf den Wählerwillen. Die Rücksichtslosigkeit, mit der sie gegen sozial Schwache vorgeht und die Wünsche der Wirtschaftslobby erfüllt, ist so gleichzeitig ein Angriff auf die Demokratie und ein Schritt in Richtung autoritärer Herrschaftsformen.
Sie kann diesen aggressiven Kurs verfolgen, weil sie die SPD, die Grünen, die Linkspartei und die Gewerkschaften auf ihrer Seite weiß. Diese haben zwar gegen die geringe Erhöhung der Hartz-IV-Sätze protestiert. So warf SPD-Chef Sigmar Gabriel der Kanzlerin vor, sie missachte das Bundesverfassungsgericht. Grünen-Chef Cem Özdemir sprach von „Unmoral“ und Linken-Chef Klaus Ernst von einem „sozialpolitischen Skandal“. Doch diese Kritik ist schon deshalb unglaubwürdig, weil SPD und Grüne Hartz IV eingeführt und die Regelsätze festgelegt haben, die das Bundesverfassungsgericht schließlich als Verstoß gegen die Menschenwürde verurteilte.
Die SPD versucht sich zwar derzeit von einigen Aspekten der Politik zu distanzieren, die sie in der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder (SPD) und in der Großen Koalition unter Angela Merkel (CDU) vertreten hat – von der Erhöhung des Rentenalters auf 67 und den schlimmsten Auswüchsen von Hartz IV. Aber sie tut dies nur halbherzig und aus wahltaktischen Gründen.
Sie bereitet sich darauf vor, die Regierung Merkel abzulösen, sollte sich deren Niedergang fortsetzen. Aber gelingt ihr das, wird sie Merkels Politik fortsetzen, mit der sie in allen wesentlichen Fragen übereinstimmt – Sparhaushalt, Bankenrettungsprogramm und Krieg in Afghanistan. Dasselbe gilt für die Gewerkschaften, die eng mit Merkel zusammenarbeiten und bisher nicht einmal eine symbolische Initiative ergriffen haben, um ihren Angriffen auf Arbeiter und sozial Schwache entgegenzutreten.
Auch die Empörung der Grünen über die niedrigen Hartz-IV-Sätze ist gespielt. Sie haben die Hartz-Gesetze mit eingeführt, verteidigen sie bis heute und setzten sich für drastische Haushaltskürzungen ein. Auch in Wirtschaftskreisen erfreuen sie sich wachsender Beliebtheit. Sollte eine rot-grüne Koalition wieder die Bundesregierung übernehmen, stünde sie angesichts der Verschärfung der internationalen Wirtschaftskrise rechts und nicht links von der Regierung Schröder-Fischer.
Was die Linkspartei betrifft, so ist es ihr erklärtes Ziel, der SPD und den Grünen zurück an die Macht zu verhelfen. In Berlin und Brandenburg, wo sie an der Seite der SPD regiert, steht die Linke an vorderster Stelle beim Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst und Einsparungen im Haushalt. Sie sieht ihre wichtigste Aufgabe darin, die Entwicklung einer unabhängigen Oppositionsbewegung zu verhindern, die mit der SPD und den Gewerkschaften bricht und die Rechte aller Arbeiter und Arbeitslosen kompromisslos verteidigt.