Fünf Tage, nachdem bei der Loveparade in Duisburg 21 überwiegend junge Menschen getötet, mehr als 500 weitere verletzt und Tausende traumatisiert wurden, fand am Donnerstag, den 29. Juli vor dem Rathaus der Stadt eine Demonstration statt. Der Protest von etwa 500 Teilnehmern richtete sich gegen diejenigen in Politik und Verwaltung, die eine maßgebliche Verantwortung für die Katastrophe von Sonntag tragen, allen voran gegen den Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU).
Schon bei der ersten Pressekonferenz nach dem Desaster hatte sich abgezeichnet, dass die Verantwortlichen versuchen würden, jede Schuld von sich zu weisen. OB Sauerland sagte, seine Stadt habe „ein tragisches Unglück ereilt“, und warnte vor „voreiligen Schuldzuweisungen“. Rücktrittsforderungen lehnt er seitdem ab mit dem Argument, dass dies einem Schuldeingeständnis gleichkomme.
Besondere Empörung löste Sauerland aus, als er nur wenige Stunden nach den Todesfällen davon sprach, „individuelle Schwächen“ der Festivalteilnehmer hätten zu der Katastrophe geführt. Damit hatte er die Opfer selbst als Urheber ihres Unglücks ausgemacht. Von Sicherheitsbedenken will Sauerland nichts gewusst haben. „Mir waren keine Warnungen bekannt“, sagte der OB gegenüber der Rheinischen Post.
Dabei ist mittlerweile nicht nur unstrittig, dass sich Sauerland massiv für die Loveparade in seiner Stadt eingesetzt hat. Er hat sich auch über Bedenken von Seiten der Stadtverwaltung, des Stadtrats, der Polizei und Feuerwehr sowie zahlreicher Einwohner Duisburgs hinweggesetzt. Und an denen hatte es nicht gemangelt. So hatte beispielsweise der Direktor der Duisburger Berufsfeuerwehr einen Brief an Sauerland gerichtet, in dem er warnte, dass Gelände am alten Güterbahnhof sei „physikalisch nicht geeignet“ für eine Großveranstaltung dieser Dimension.
In dem bekannt gewordenen Protokoll eines Gesprächs zwischen Vertretern der Stadt Duisburg, der Feuerwehr und dem Veranstalter der Loveparade, der Berliner Lopavent GmbH, wird deutlich, dass zwar schwerwiegende Bedenken bezüglich der ungeeigneten Fluchtwege herrschten, aber „der OB die Veranstaltung wünsche und dass daher eine Lösung gefunden werden müsse“. Mit diesen Worten zitiert das Protokoll den Ordnungsdezernenten Wolfgang Rabe.
Doch steht Sauerland nicht allein da als derjenige, der das „Megaevent“ Loveparade unbedingt nach Duisburg holen wollte, obwohl die 500.000 Einwohner zählende, dicht bebaute Stadt ganz offensichtlich von vornherein ungeeignet war, eine Massenveranstaltung auszurichten, zu der mehr als eine Million Menschen erwartet wurden. Auch Landespolitiker und die Chefs der Ruhr.2010 übten Druck auf die Stadt Duisburg aus, die Loveparade nicht ausfallen zu lassen, wie Bochum dies im vergangenen Jahr wegen Sicherheitsbedenken getan hatte.
So forderte die damalige SPD-Vorsitzende in Nordrhein-Westfalen und jetzige NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, dieses „Stück Jugendkultur“ nicht zu gefährden, und Kulturhauptstadt-Chef Fritz Pleitgen meinte, dass es sich Duisburg nicht leisten könne, die Veranstaltung abzusagen.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Mahlberg hatte Anfang 2009 an den damaligen NRW-Innenminister Ingo Wolf (FDP) geschrieben und die Absetzung des Duisburger Polizeipräsidenten Rolf Cebin angemahnt, weil dieser erklären ließ: „Eklatante Sicherheitsmängel stehen einer Durchführung der Love Parade im Jahre 2010 entgegen.“
Mahlberg kommentierte in seinem Schreiben: „Eine Negativberichterstattung in der gesamten Republik ist die Folge. Ich frage Sie, Herr Dr. Wolf, was treibt den Duisburger Polizeipräsidenten zu einer derartigen Haltung? […] Der neuerliche Eklat veranlasst mich zu der Bitte, Duisburg von einer schweren Bürde zu befreien und den personellen Neuanfang im Polizeipräsidium Duisburg zu wagen. Im Interesse der in Duisburg lebende Menschen, im Interesse der Polizei.“
Inzwischen erheben sowohl OB Sauerland als auch Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller schwere Vorwürfe gegen die Polizei. Schaller, der auch den Hauptsponsor der Loveparade, die Fitnesscenterkette McFit, betreibt, macht eine „verhängnisvolle Anweisung“ der Polizeibeamten, den westlichen Tunneleingang zu öffnen, als Auslöser des Desasters aus. Die Polizei dagegen wirft dem Veranstalter vor, viel zu wenige und völlig überforderte Ordner eingesetzt zu haben und weist auf die frühen Bedenken hin. Auch der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger gibt dem Veranstalter die Schuld: Er habe die Vorgaben des Sicherheitskonzepts nicht eingehalten und dadurch die Massenpanik zu verantworten.
Jäger äußert sich jedoch nicht dazu, warum das Düsseldorfer Innenministerium als oberste Polizeibehörde nicht früher intervenierte, um eine Veranstaltung, die von Anfang an auf einer zumindest bedenklichen Planung beruhte, so nicht stattfinden zu lassen. Dass auch die Polizei außerhalb der Stadtgrenzen Duisburgs gewarnt war, ergibt sich aus der Aussage eines höheren Kölner Beamten gegenüber der Presse zum Sicherheitskonzept der Loveparade.
„Es gab 12 bis 13 Ortstermine in Duisburg. Und jedes Mal waren wir uns einig, dass das geplante Konzept im Chaos enden wird, dass es Verletzte und Tote geben wird“, sagte ein Gruppenführer der Kölner Einsatzhundertschaft gegenüber dem Express. Bedenken seien ignoriert worden, berichtet der Beamte: „Uns wurde immer wieder mitgeteilt, es werde nicht diskutiert. Im Rathaus stehe man auf dem Standpunkt: Die Loveparade muss funktionieren.“
Dass diese tödliche Katastrophe so absehbar war, macht sie zu einem Verbrechen. Dass OB Sauerland, der Veranstalter sowie die zuständigen Sicherheitsbehörden alle Schuld von sich weisen und alle Vorwürfe an andere richten, hat denn auch damit zu tun, dass sie strafrechtliche Konsequenzen befürchten.
Mit einem Rücktritt von Sauerland, wie ihn die Demonstranten vor dem Duisburger Rathaus forderten, ist es nicht getan. Notwendig ist eine genaue Untersuchung der Umstände, unter denen der Zugang zum Festgelände zur tödlichen Falle für so viele Menschen wurde. Dabei ist die Verantwortung und Mitschuld verschiedener Beteiligter, allen voran der Stadtverwaltung und der Veranstalter, zu klären:
– Die Stadtverwaltung, an ihrer Spitze der Oberbürgermeister, genehmigte eine Großveranstaltung auf einem Gelände, das ganz offensichtlich ungeeignet war aufgrund seiner Größe und der ungeeigneten Fluchtwege. Wie konnte sie es zulassen, dass bei einer Veranstaltung mit Hundertausenden Besuchern nur ein einziger Eingang geöffnet war, der gleichzeitig als Ausgang dienen sollte? Warum wurde der Nordeingang zum Gelände als VIP-Bereich gesperrt, anstatt diesen Weg als Zugang zum Gelände für Besucher freizugeben? Wenn der Veranstalter sich mit dem Segen der Stadt über die rechtlichen Vorgaben für die Anlage von Fluchtwegen hinwegsetzen konnte – welche „Sonderkonditionen“ wurden ihm noch eingeräumt?
Der Veranstalter muss sich zumindest dafür verantworten, zu wenige und schlecht ausgebildete Ordner eingesetzt zu haben, die nicht handlungsfähig waren, als sich die Massenpanik anbahnte. Durch die Einlasskontrollen wurde ein Nadelöhr geschaffen, das noch einmal dadurch verschärft wurde, dass die eintreffenden Besucher auf dem Gelände direkt auf die ins Rund fahrenden Paradewagen trafen und somit nicht angehalten wurden, sich auf dem Gelände zu verteilen. Dadurch kam es zum stundenlangen Stau und Massenandrang vor dem Eingangsbereich, in dem die Menschen zunächst nicht vor und zurück kamen und schließlich zum Teil zu Tode gequetscht wurden.
Auch das Verhalten der vor Ort anwesenden Sicherheitskräfte muss untersucht werden. Nicht nur die Ordner der privaten Sicherheitsfirma waren offensichtlich überfordert, auch in Bezug auf die abgestellten Polizisten und Feuerwehrleute heißt es, dass es Kommunikationslücken gab und die Zahl der Sicherheits- und Rettungskräfte insgesamt sehr gering war. Besucher der Loveparade haben gegen Polizisten Anzeige erstattet wegen unterlassener Hilfeleistung. Bereits am Montag war bekannt geworden, dass einzelne, dem Massenandrang entronnene Festivalbesucher die Polizei zum Eingreifen aufgefordert hatten, weil sie ein Unglück vorhersahen. Es war jedoch nichts geschehen. Warum sind, wie spiegel online berichtete, unmittelbar nach der Katastrophe in mehreren zuständigen Polizeidienststellen Einsatzpläne und Einsatzberichte gelöscht worden?
Wichtig ist in diesem Kontext jedoch auch die Frage nach der Verantwortung, die das Düsseldorfer Innenministerium und verschiedene Landespolitiker trugen. Inwiefern wurden auch hier Warnungen und Sicherheitsbedenken beiseite gewischt, um die Ruhr.2010 um ein „Highlight“ zu bereichern und den Standort Ruhrgebiet zu stärken?
Sicherlich haben Schaller, Sauerland, seine Dezernenten & Co. keine Toten gewollt, aber sie haben die Fragen der Sicherheit dem erwarteten Profit und Imagegewinn untergeordnet – mit den schrecklichsten Folgen. Die Katastrophe von Duisburg wirft daher nicht nur die Frage nach der Schuld und Verantwortung Einzelner auf, sondern beleuchtet auch die gesellschaftlichen Zustände, unter denen sie zustande kam. Der Tod der jungen Menschen erschüttert nicht nur, weil er so grausam und sinnlos war, sondern weil er von den Verantwortlichen letztlich in Kauf genommen wurde: Das Leben und Wohlergehen der Besucher war bei der Entscheidung, die Loveparade in dieser Form stattfinden zu lassen, eine untergeordnete Größe.