Der Streit innerhalb der Großen Koalition nimmt von Tag zu Tag heftigerer Formen an. Mittlerweile fordert die FDP bereits das Ende der Regierung und vorgezogene Neuwahlen.
Die Koalition aus CDU/CSU und SPD sei den Herausforderungen der Wirtschaftskrise nicht mehr gewachsen und es wäre besser, wenn die Bundestagswahl nicht erst Mitte September sondern bereits Anfang Juni, zeitgleich mit der Europawahl stattfände, erklärte FDP-Chef Guido Westerwelle am Wochenanfang.
Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Frage, wie mit den Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise umgegangen werden soll. Die Hiobsbotschaften aus den Wirtschaftsinstituten und vom Arbeitsmarkt werden immer bedrohlicher. Die Welthandelsorganisation WTO sagte am Montag einen Einbruch des Welthandels um neun Prozent voraus - das wäre das größte Minus seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Deutsche Außenhandelsverband BGA kündigte einen Rückgang der deutschen Exporte um bis zu 15 Prozent an - fast doppelt so viel wie bisher geschätzt.
Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) erwartet ein dramatisches Ansteigen der Arbeitslosenzahl auf 4,5 bis 5 Millionen. "Bis Oktober ist die Vier-Millionen-Grenze erreicht", heißt es in dem RWI-Gutachten.
Doch einige Vertreter der führenden Wirtschaftsverbände, wie auch Politiker des CDU/CSU-Wirtschaftsflügels und der FDP, betrachten die Krise als Chance. Sie wollen den wirtschaftlichen Niedergang und die steigende Arbeitslosigkeit nutzen, um massive Angriffe auf Löhne und Sozialstandards durchzusetzen. Sie verfolgen das Ziel, die von der Regierung Schröder eingeleitete Agenda-Politik mit Niedriglöhnen, Hartz IV und Massenarmut weiterzuführen und zu verschärfen.
Sie attackieren Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die in ihren Augen zu nachgiebig und zögerlich ist, zu sehr laviert und zu weitgehende Konzessionen an die öffentliche Meinung macht. Der Wirtschaftsflügel der Union und die FDP ergreifen daher gezielt Maßnahmen, um die Kanzlerin vor sich herzutreiben.
Merkel ihrerseits hält einen offenen Konfrontationskurs gegen die Bevölkerung angesichts der Krise und dem dramatischen Anstieg von Kurzarbeit und Entlassungen für riskant. Neben der Europawahl im Juni und der Bundestagswahl im September stehen noch mehrere wichtige Landtagswahlen bevor. Merkel möchte nicht die Erfahrung von 2005 wiederholen. Damals war sie im Wahlkampf für eine Erhöhung der Mehrwertsteuer eingetreten und hatte gleichzeitig eine Senkung der Unternehmenssteuer angekündigt, was dazu führte, dass sie innerhalb weniger Wochen einen komfortablen Vorsprung in den Wählerumfragen einbüßte und die Wahl beinahe verlor.
Der Koalitionspartner SPD wirft der Kanzlerin Führungsschwäche vor und versucht, die Konflikte in der Union für eigene Wahlkampfzwecke auszunutzen.
Insolvenz bei Opel
Einer der wichtigsten Streitpunkte in der großen Koalition ist die Frage, wie es mit dem angeschlagenen Autobauer Opel weitergehen soll.
In den vergangenen Tagen forderten Politiker von CDU/CSU und FDP gemeinsam mit Sprechern von Wirtschaftsverbänden, den so genannten Opel-Rettungsplan aufzugeben und stattdessen eine Insolvenz vorzubereiten. Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) bezeichnete das deutsche Insolvenzrecht als "höchst modern". Insolvenz bedeute nicht automatisch Stilllegung aller Opelwerke, sondern "Befreiung von Altlasten" und "Reorganisation des Unternehmens auf stabiler Grundlage", sagte er.
Ins selbe Horn blies der neue Vorsitzende des Sachverständigenrates der Bundesregierung, Wolfgang Franz. In der Bild -Zeitung sagte Franz am 17. März: "Es ist nicht die Aufgabe des Staates, Opel zu retten." Das Unternehmen müsse sich am Markt bewähren oder Insolvenz anmelden. Auch er betonte, das "Abstoßen von Altlasten" durch ein Insolvenzverfahren sei von Vorteil.
Was beide, Franz und Schäuble, nicht sagten: Ein wesentlicher Teil der "Altlasten", von denen das Unternehmen befreit werden soll, sind die Arbeitsverträge und die darin festgelegten Einkommens- und Sozialansprüche der Belegschaft. Mit dem Insolvenzverfahren werden die Arbeitsverträge aufgehoben und die Ansprüche der Beschäftigten auf das gesetzliche Minimum reduziert. Ob und in welchem Umfang das Unternehmen weitergeführt wird, ist eine offene Frage. Fest steht, dass selbst dann, wenn ein Teil der Belegschaft wieder eingestellt oder weiterbeschäftigt werden sollte, dies unter völlig anderen, das heißt wesentlich schlechteren Bedingungen stattfinden wird.
Das Insolvenzverfahren würde für Tausende Arbeiter den Verlust des Arbeitsplatzes und damit den ersten Schritt in Richtung Hartz IV bedeuten. Für jene, die weiterarbeiten, wäre es mit radikalem Einkommens- und Sozialabbau verbunden.
Das Argument, Opel sei zu groß und eine Insolvenz würde zu viele soziale Härten mit sich bringen, weisen Schäuble, Franz und Co. zurück. Gerade weil zu den 25.000 Beschäftigten an den vier deutschen Standorten noch etwa 30.000 Arbeiter in anderen europäischen Produktionsstätten hinzu kommen und weitere 300.000 Arbeitsplätze in der Zulieferindustrie und im Handel betroffen sind, sollte nach Meinung der Wirtschaftsverbände ein Insolvenzverfahren stattfinden. Opel soll benutzt werden, um ein Exempel zu statuieren.
Eine Opel-Insolvenz wäre der Auftakt zu einem massiven Angriff auf Löhne und Arbeitsbedingungen sämtlicher Arbeiter. Sie ist Teil einer Schock-Strategie, mit der das Lebensniveau der Arbeiter auf das ihrer Väter und Großväter in den vierziger und fünfziger Jahren zurückgeführt werden soll.
Der Mannheimer Wirtschaftsprofessor Wolfgang Franz, der als Vorsitzender des Sachverständigenrats einen engen Draht zum Kanzleramt hat, vertritt seit langem marktliberale Auffassungen. Er gehört dem Beirat der "Stiftung Marktwirtschaft" an, die eine radikale Senkung der Unternehmenssteuern anstrebt und eine Scharnierfunktion zwischen Wirtschaft und Politik ausübt. Franz hat sich wiederholt gegen die Einführung eines Mindestlohns und für Billiglohnjobs ausgesprochen.
So sorgte er vor zwei Jahren für Schlagzeilen, als er allen Ernstes erklärte, fünf Euro Stundenlohn sei zu viel. Spiegel-Online titelte damals: "Wirtschaftsweiser will Stundenlöhne unter drei Euro." Das Magazin schrieb: "Franz warnte in einem Zeitungsinterview vor der Einführung eines Mindestlohns. Stattdessen müsse man die unteren Löhne von drei oder vier Euro womöglich noch einmal senken, damit mehr Stellen entstehen. Bei Mindestlöhnen hingegen gingen massenhaft Stellen im Niedriglohnbereich verloren."
Zugleich mahnte Franz, der auch Chef des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim ist, weitere Reformen auf dem Arbeitsmarkt an. Wenn es schon keine Mehrheiten für einen Abbau des Kündigungsschutzes und flexiblere Tarifgesetze gebe, müsse ein Kombilohn eingeführt werden, um Billiglöhne staatlich aufzustocken und dadurch die Unternehmen zu entlasten.
Die SPD, die seit zehn Jahren in der Regierung sitzt und für die Schaffung eines umfassenden Niedriglohnsektors verantwortlich ist, tritt nun als Mahner und Retter auf. Sie warnt vor den sozialen Konsequenzen einer Opelpleite. Außenminister und SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier eilte Anfang des Monats zum Opeltor in Rüsselsheim und versprach den Arbeitern Unterstützung.
Doch der SPD-Rettungsplan, der auch von der IG Metall und den Betriebsräten unterstützt wird, ist keine Alternative. Die SPD will den Patienten lediglich so lange am Leben halten, bis die Bundestagswahl vorbei ist. Auch der SPD-Rettungsplan richtete sich gegen die Opelarbeiter und zielt darauf ab, sie zu erpressen. Denn staatliche Unterstützung und Bürgschaften soll es erst geben, wenn durch Arbeitsplatzabbau und Lohnsenkung die Rentabilität gesteigert wird.
Sozialistische Alternative
Während die Regierung streitet, bereitet sie massive soziale Angriffe vor. Die Behauptung der Gewerkschaften und der Betriebsräte, durch Zugeständnisse könne einem Kampf mit dem GM/Opel-Management und mit der Regierung ausgewichen werden, ist falsch. Im Gegenteil, die ständigen Zugeständnisse und die Opferbereitschaft der Betriebsräte ermutigt alle, diebei Opel ein Exempel statuieren wollen.
Die Verteidigung der Löhne und aller Arbeitsplätze ist eine Grundsatzfrage. Die Arbeiter - bei Opel, General Motors und anderen Betrieben - sind nicht für die Krise und den weltweiten wirtschaftlichen Zusammenbruch verantwortlich.
Um die Angriffe der Konzernleitung und der Regierung zurückzuweisen, müssen Fabrikkomitees aufgebaut werden, die völlig unabhängig von den Gewerkschaften sind. Sie müssen Kontakt zu anderen GM/Opel-Betrieben und Beschäftigten auf der ganzen Welt aufnehmen, die Gegenwehr organisieren und international koordinieren. Das erfordert eine sozialistische Perspektive, die auf die demokratische Umstrukturierung der Weltwirtschaft im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung abzielt.
Die prinzipielle Verteidigung aller Arbeitsplätze muss zum Ausgangspunkt einer politischen Offensive für eine Arbeiterregierung werden. Eine solche Regierung wird diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die für die Krise verantwortlich sind. Sie wird Banken, Großkonzerne und großen Vermögen enteignen, der demokratischen Kontrolle unterwerfen und in den Dienst der ganzen Gesellschaft stellen. Sie wird die Milliarden, die die Regierung Merkel zur Rettung der Bankenvermögen ausgibt, zur Reorganisation der gesamten Wirtschaft und zur Schaffung von Millionen Arbeitsplätzen einsetzen.