Marxismus und Frankfurter Schule

Die politische und intellektuelle Irrfahrt des Alex Steiner

Teil 3

VIII. Steiner und Wissenschaft

Steiner warf die Frage der Parteimitgliedschaft nicht wieder auf. Unsere Beziehungen blieben dennoch herzlich. Am 13. November 2000 erhielt ich eine E-Mail, in der er uns zu unserer "exzellenten Berichterstattung über die Wahlkrise" gratulierte. Er schloss mit der Bitte, wir sollten uns treffen, wenn ich in New York sei. Tatsächlich traf ich Steiner während eines Aufenthaltes dort im Mai 2001 und wir führten eine freundschaftliche Diskussion.

Während des folgenden Jahres dann wurde klar, dass Steiner sich inmitten einer entscheidenden Veränderung seiner theoretischen Orientierung befand. Während einer privaten Reise nach Deutschland lud er sich selbst ein, vor Mitgliedern der Partei für Soziale Gleichheit in Berlin einen Vortrag über Philosophie zu halten. Die deutschen Genossen wollten nicht unhöflich sein und organisierten eine Veranstaltung. Thema der Vorlesung war "Dialektik und die Krise der Wissenschaft"[48]. Im Laufe eines weitläufigen und chaotischen Ritts durch die Geschichte der Wissenschaft schien Steiner die Bedeutung der empirischen Forschung für die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu minimieren, wenn nicht gar überhaupt abzustreiten. Er sagte:

Der Bedeutung des experimentellen Vorgehens bei der Entstehung der modernen Wissenschaft hat - wie auch die der antiken Atomisten - wurde ein mythischer Stellenwert zugeschrieben. Um die Rolle des Experiments in der wissenschaftlichen Revolution richtig einzuschätzen, müssen zunächst Tatsachen von Mythen getrennt werden.

Zu allererst ist hier anzumerken, dass Beobachtung und Experiment immer innerhalb eines historischen Kontextes stattfinden, in dem wir geprägt sind von Theorien und Konzepten von dem, wonach wir suchen. In diesem Sinne können wir sagen, dass alles Experimentieren von vornherein "theoriebeladen" ist. Diese Ansicht wurde von dem verstorbenen Professor Thomas Kuhn am MIT (Michigan Institute for Technology) entwickelt, und er hatte absolut recht, dies gegen die herrschende Orthodoxie vorzubringen, die in Experiment und Beobachtung eine Art unschuldigen Urzustand erblickt, aus dem heraus wir dann Generalisierungen ableiten...

Der Mythos des reinen" Experiments oder der "reinen" Beobachtung als Grundstein der modernen Wissenschaft lebt bis heute fort. Er gehört zu den Grundsätzen moderner empiristischer Philosophie, die ich jetzt beschreiben will. Wir haben gesehen, dass die Begründer der modernen Wissenschaft - Männer wie Bruno, Galileo oder Newton - sich selbst nicht als Experimentatoren betrachtet haben, die dann Generalisierungen aus ihren Experimenten ableiteten. Vielmehr sahen sie selbst sich als Platonisten, die die der Natur zugrundeliegenden mathematischen Gesetze zu offenbaren suchten.

Experiment und Beobachtung spielen gewiss eine Rolle im Werk von beispielsweise Galileo. Er selbst jedoch sah in Experimenten wie dem Fallenlassen eines Gewichtes von einem hohen Turm Mittel zu Bestätigung seiner Theorie, und nicht die Grundlage für ihre Entwicklung. Weiter wurde von einigen Historikern darauf hingewiesen, dass Galileo gar nicht die technischen Möglichkeiten zum hinreichend genauen Messen der Zeit zur Verfügung standen, die während des Falls eines Gegenstandes verging, so dass er hieraus einen Beweis hätte ableiten können. Tatsächlich scheint es, als folgten große Entdeckungen in der Geschichte der Wissenschaft wenn überhaupt, dann nur selten dem von der "experimentalistischen" Schule der empirischen Philosophie vorgeschriebenen Pfad.

Als ein weiteres Beispiel für die geringe Bedeutung von Beobachtung und Experiment für die Entwicklung der Wissenschaft führte Steiner Albert Einstein an,

...der, so sagt man, völlig unbeeindruckt blieb, als er hörte, dass ein Experiment zum ersten Male eine empirische Bestätigung seiner Speziellen Relativitätstheorie erbracht hatte. Ohne auch nur im Geringsten bewegt zu sein, sagte er: "Aber ich wusste, dass die Theorie korrekt ist."

Als die Niederschrift des Vortrages unter Mitgliedern des IKVI die Runde machte, traf sie auf große Einwände, besonders von Genossen, die höhere Abschlüsse in verschiedenen Naturwissenschaften besitzen. Sie waren der Ansicht, dass Steiner über Dinge predigte, die seine Kompetenz bei weitem überschritten. Ihm fehlten Ausbildung und Kenntnisse für seine weitläufigen Urteile zur Geschichte der Wissenschaft. Chris Talbot, Mathematiker an einer Universität und langjähriges britisches Mitglied des Internationalen Komitees, schrieb Steiner ein Memo. In freundlichem und sehr behutsamem Ton wies er ihn auf bedeutende Fehler in seiner Argumentation hin. Beispielsweise riet er Steiner zur Vorsicht:

Ich glaube nicht, dass Deine (vermutlich auf Alexandre Koyré zurückgehende) Auffassung, Bruno, Galileo, Newton und andere Pioniere der modernen Wissenschaft hätten sich als Platonisten gesehen, einer ernsthaften Überprüfung standhält. Ich will nicht sagen, dass platonistische Ideen (in unterschiedlichster Weise) keine Rolle gespielt hätten; doch während der vergangenen Jahrzehnte sind Hunderte von Büchern und Tausende von Arbeiten über Galileo und die anderen großen Persönlichkeiten der wissenschaftlichen Revolution geschrieben worden, die keinen Beleg für Koyrés Annahme liefern. (Einen sehr brauchbaren Überblick über die Unmenge an Literatur dazu fand ich in dem Buch The scientific revolution and the origins of modern science von John Henry, Macmillan 1997)

Man muss kein Empirizist sein und argumentieren, dass wissenschaftliche Ideen stets aus Experimenten hervorgehen, um auf die Schlüsselrolle von Beobachtung und Experiment in jener Zeit hinzuweisen. Die Ansicht, Galileo habe seine Experimente gar nicht durchführen können, war zwar eine Weile in Mode, ist inzwischen aber durch die Arbeiten Stillman Drakes und durch Leute, die dieselben Experimente sorgfältig reproduziert haben, widerlegt worden (siehe zum Beispiel die überarbeitete Ausgabe von Geburt einer neuen Physik von I. Bernard Cohen, besonders den Anhang).

Und obwohl ich natürlich ein Gegner des "vulgären Materialismus des stalinistischen Lagers bin, kann ich Deine Herabminderung der Bedeutung Demokrits und Epikurs nicht akzeptieren. Pierre Gassendi zum Beispiel, eine der einflussreichsten Figuren des 17, Jahrhunderts, gründete seine Arbeit auf Epikur. Selbst Koyré gab in seinen späteren Schriften zu, dass er die Bedeutung dieser beiden unterschätzt habe.

Talbot sprach dann eine vorausschauende Warnung aus:

Ich fürchte, bei Deinen Bemühungen, der "experimentalistischen", empiristischen Denkschule entgegenzutreten, gerätst Du in Gefahr, Ansichten zur Entwicklung der Wissenschaften zu ignorieren, die dem Marxismus völlig zuwiderlaufen. Ich meine die unterschiedlichen postmodernistischen Anschauungen und die wissenschaftsfeindlichen Stimmungen, die Du in Deinem Artikel über Heidegger sehr gut aufs Korn nimmst.

Ich habe schon von dem Ansatz gesprochen, Galileo habe seine Experimente in Wirklichkeit gar nicht durchgeführt. Ein weiterer Punkt ist der Gebrauch des Einstein-Zitats "Aber ich wusste, dass die Theorie korrekt ist" (das Zitat ist den Lebenserinnerungen von Ilse Rosenthal-Schneider, einer Studentin Einsteins im Jahr 1919, entnommen. Es bezieht sich auf Einsteins Reaktion, als er hörte, Eddingtons Sonnenfinsternis-Expedition habe die Beugung des Lichts durch die Sonne nachgewiesen und damit die Allgemeine Relativitätstheorie bestätigt.) Wir haben hier ein Lieblingsbeispiel jener, die beweisen wollen, dass wissenschaftliche Erkenntnis völlig relativ sei, nichts als eine weitere "Erzählung", und dass ihre Verifizierung durch Beobachtung und Experimente ein empiristischer Mythos sei, dem sich der große Einstein entgegengestellt habe...

Dasselbe trifft zu für Thomas Kuhn, auf den Du Dich mit Vorliebe berufst. Dass alles Experimentieren und Beobachten "theoriebeladen" sei, kann schon als Unterstützung für jede Sorte von völligem Relativismus gesehen werden. Wenngleich Kuhn einige ernsthafte Arbeit zur Geschichte der Wissenschaft geleistet hat (wie seine Studie Black-Body Theory and the Quantum Discontinuity), haben doch seine mehr philosophischen Schriften zentrale Bedeutung für die postmodernistischen Angriffe auf die Wissenschaft gewonnen, besonders das Thema von Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, wonach eine wissenschaftliche Theorie die andere vermittels einer "Revolution" ersetzt, so dass die beiden Theorien "inkommensurabel" werden (vgl. hierzu Alan Sokals Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen).

Steiners Antwort erfolgte in Form ausgedehnter kritischer Anmerkungen zu Talbots Brief. Während er einige Zugeständnisse bezüglich der genannten Fakten machte, ließen diese Anmerkungen doch darauf schließen, dass er sich weiter von der materialistischen Weltanschauung distanziert hatte. Schlagendster Ausdruck hiervon war Steiners Behauptung, Talbot unterschätze den bedeutenden Beitrag von Religion, Mystizismus und magischem Denken zur Entwicklung der Wissenschaft.

...Es gibt aber noch einen weiteren Einfluss, der bis vor kurzem nur wenig bekannt war - ich meine den Einfluss okkultistischer Traditionen und magischer Vorstellungen. Die Geschichte der Geburt der Wissenschaft im 17. Jahrhundert ist unvollständig ohne eine Diskussion der mystischen Hintergründe, die die großen Pioniere animierten. Im Fall Brunos widmet sich das hervorragende Buch von Frances Yates, Giordano Bruno and the hermetic tradition dem Einfluss dieser Traditionen auf die neuen Wissenschaften.

Die Anziehung, die das Schaffen von Yates auf Steiner ausübte, war bedeutsam - befand diese sich doch in vorderster Front der Kritiker jeder Betonung der Unvereinbarkeit wissenschaftlicher und religiöser Weltsichten in Bezug auf die wissenschaftliche Revolution. Frances Yates (1899-1991) verbrachte viele Jahre ihrer Studien- und Lehrtätigkeit damit zu zeigen, dass die Religion und der Glaube an okkulte Kräfte einen der wichtigsten Einflüsse auf das aufkommende wissenschaftliche Denken dargestellt hatten. Um den materialistischen Ton in Brunos Werken zu übertünchen, argumentiert Yates, dass sein Interesse an den wissenschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit durch die magische Philosophie einer früheren Ära bedingt war. Seine Ergebenheit für Kopernikus, so behauptet sie, war mehr religiösen denn wissenschaftlichen Ursprungs. Brunos Hinrichtung sei daher nicht als Reaktion der Inquisition auf eine philosophische und wissenschaftliche Herausforderung zu werten, sondern vielmehr auf eine Form religiöser Ketzerei zurückzuführen, die von Brunos Beschäftigung mit dem Okkultismus herrührte.[49] Yates schrieb in einem fesselnden Stil und übte besonders in den Vereinigten Staaten und Großbritannien einen bedeutenden Einfluss auf die Bruno-Forschung aus. Inzwischen ist ihr Werk jedoch scharfer Kritik unterworfen worden.[50]

Auch vertrat Steiner eine Interpretation des Werkes von Isaac Newton, die eine zentrale Betonung auf dessen Interesse an der Alchemie legt.

Brunos Interesse an Magie und Alchemie ist seit Jahrhunderten bekannt, wenngleich Historiker es herunterspielten. Im Falle Newtons war bis vor kurzem nur sehr wenig von seinem Interesse an Okkultem, Magie und anderem Wirken bekannt. Betty Jo Dobbs[51] hat - in The Janus Faces of Genius und anderen Werken - viel dazu beigetragen, unsere Sicht auf Newton zu verändern. Es stellt sich heraus, dass Newton mehr Zeit mit alchemistischen Experimenten verbrachte, als mit Physik, und dass er selbst die physikalische Wissenschaft als Ausdruck seiner mystisch-religiösen Überzeugungen empfand. Dobbs und der von Dir [Talbot] erwähnte I. Bernard Cohen führten einen lang anhaltenden Disput zu der Frage, ob Newtons Interesse an Alchemie wichtig für seine wissenschaftlichen Unternehmungen war. Ich bin der Meinung, dass das Urteil in einer solchen Auseinandersetzung nur auf der Grundlage historischer Evidenz gefällt werden kann, und nicht aufgrund einer vorgefassten Auffassung darüber, wie sich Newtons Wissenschaft entwickelt haben müsse. Ich will hier nicht urteilend in eine laufende Diskussion eingreifen, denke aber, dass Dobbs Theorie faszinierend ist und nicht von der Hand gewiesen werden sollte.

Wie schon bei seiner Faszination von Yates konnte man sich nur fragen, was genau Steiner nun auch an Dobbs Theorie so "faszinierend" fand. Ein - ihr keineswegs ungewogener - Rezensent stellt fest: "Im großen und ganzen besteht das Ergebnis von Dobbs' Studien in einer religiösen Interpretation von Newtons Alchemie, eingebettet in eine religiöse Interpretation seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als ganzer."[52] Warum schlug diese Neuinterpretation eine Saite in Steiner an? In der Auseinandersetzung zwischen Dobbs und I. Bernard Cohen besteht wirklich kein Zweifel, wem Steiners Sympathien gelten. Für jemanden wie Steiner, der der Abhängigkeit der Theorie von empirischer Verifikation so verächtlich gegenübersteht, ist es ziemlich kurios, dass er Talbot wissen lässt, die Frage nach der Rolle der Alchemie in Newtons Wissenschaft könne "nur auf der Grundlage historischer Evidenz" entschieden werden, "und nicht aufgrund einer vorgefassten Auffassung darüber, wie sich Newtons Wissenschaft entwickelt haben müsse". Tatsächlich ignoriert Steiner das historische Faktenmaterial. Doch davon abgesehen, ist eben die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Wissenschaft ein Problem, das eine philosophisch gut informierte Einsicht in die zugrundeliegenden Fragen erfordert. Die antirationalistischen Implikationen der (von Yates vorweggenommenen) Bemühungen um eine Relativierung des Verhältnisses der magischen Traditionen aus der Zeit vor der Aufklärung zur Wissenschaft wurden von Kommentatoren der Debatte über Okkultismus und Alchemie sehr gut verstanden.[53]

Mehr noch: Für die Frage nach dem Verhältnis von Alchemie und Wissenschaft sind die Einzelheiten von Newtons persönlichem Interesse an ersterer, ganz zu schweigen von seinem brennenden Gottesglauben, von entschieden zweitrangiger Bedeutung. Newton war ein Mann seiner Zeit, ebenso wie Bruno. Als Individuen konnten sie nicht einfach den Rahmen der Zeit, in der sie lebten, überschreiten. Konzepte und Gedankenmodelle aus vergangenen Zeiten übten ihren fortbestehenden Einfluss selbst auf die größten Denker ihrer Zeit aus. Doch letztlich verlangte die Ausarbeitung der Wissenschaft und der ihr angemessenen Methodologie den Bruch mit der religiösen Weltsicht, genau wie die Entwicklung der Chemie die Befreiung von der Alchemie erforderte. Ganz ungeachtet der Widersprüche im intellektuellen Werdegang des einen oder anderen Wissenschaftlers macht sich der fundamentale und unvereinbare Antagonismus zwischen Wissenschaft und Religion am Ende geltend - oft nur teilweise und widersprüchlich in einzelnen Individuen, doch in vollendeter und unversöhnlicher Form im historischen Prozess als ganzem.[54]

Es mag seltsam erscheinen, dass die Rolle der Hermetik bei der Hinrichtung Brunos durch die Inquisition und die der Alchemie in der Physik Newtons zu bedeutenden Fragen aufsteigen sollten. Doch die Aufmerksamkeit, die wir an dieser Stelle Steiners Anschauungen zur Wissenschaftsgeschichte widmen, ist in dem Maße gerechtfertigt, wie sie Licht auf die Entwicklung seiner eigenen theoretischen und politischen Weltsicht werfen. Indem wir den Fortschritt (oder Rückschritt) in seinen intellektuellen Anschauungen verfolgen, tun wir genau das, was Steiner selbst hätte tun sollen, bevor er sich in wilden Beschuldigungen an das Internationale Komitee erging. Die Anziehungskraft der Argumente von Yates und Dobbs auf ihn - in denen Religion und Mystizismus eine fortschrittliche Rolle zugesprochen und einer Lesart der Geschichte Berechtigung zugestanden wird, die dem Irrationalen einen bedeutenden Platz in der Entwicklung der Wissenschaft einräumt - zeigten an, dass er sich rapide aller Überbleibsel seiner einstigen materialistischen Auffassungen zu Geschichte und Bewusstsein entledigte. Es bestand eindeutig eine Verbindung zwischen seinem neu entdeckten Interesse an dem Beitrag von Hermetik und Alchemie zur Entwicklung der Wissenschaften und seiner heranreifenden Empfänglichkeit für die Auffassung, utopische Mythenbildung spiele eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung sozialistischen Bewusstseins. In beiden Fällen handelt es sich um einen Rückzug von der Wissenschaft, von Objektivität, Rationalität, Materialismus und Marxismus.[55]

In diesem Zusammenhang ist besonders bemerkenswert, dass Steiner in der Diskussion der Ursprünge der modernen Wissenschaft völlig ignoriert ,dass Engels nachdrücklich darauf beharrt, der entscheidende Faktor bei der Entwicklung der Wissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert sei nicht die freie Entwicklung des Denkens gewesen (von dessen mehr mystischen und okkulten Spielarten ganz zu schweigen), sondern vielmehr das Wachstum der Produktivkräfte.[56] Die Bedingtheit des Aufkommens der Wissenschaft durch Produktion und Wirtschaft wird von Yates explizit bestritten; sie gibt eine offen idealistische Erklärung des Vorgangs.[57]

Dass Steiner den existenziellen Text Engels' nicht erwähnte, war keine bloße Nachlässigkeit. Dass Yates idealistische Thesen ihn derart anzogen, spiegelte eine weitere Entfernung seiner eigenen Anschauungen von der materialistischen Weltanschauung wider, die Engels hochhält. Weiter unten in seiner Antwort an Talbot wiederholte er seine Kritik an Engels aus dem Jahr 1999:

Ich war immer der Ansicht, dass Egels' hochallgemeine Zusammenfassungen mit Vorsicht zu genießen sind. Als eine Zusammenfassung auf einer sehr allgemeinen Ebene zum Zweck einer populären Darstellung mögen seine Formulierungen nützlich sein. Das Problem liegt jedoch darin, dass Engels' Aussagen - wenn auch nicht durch sein eigenes Verschulden - besonders durch die Stalinisten missbraucht worden sind, um ein grundfalsches Bild von der Geschichte der Philosophie zu zeichnen. Die gesamte Geschichte der Philosophie wird abgehandelt, als sei die einzig interessante Frage die von Idealismus gegen Materialismus. Zu allererst ignoriert man damit die Tatsache, dass es viele andere entscheidende Streitfragen in der Geschichte der Philosophie gegeben hat, und diese sind nicht allein auf das Paradigma von Materialismus versus Idealismus zu reduzieren.

Das ist eine Verzerrung der marxistischen Auffassung von der Entwicklung der Philosophie. Kein Marxist hat je behauptet, dass das Verhältnis von Materialismus und Idealismus die " einzig interessante Frage" in der Geschichte der Philosophie sei; das wäre ganz offensichtlich eine falsche Aussage. Engels vertrat die Ansicht, dies sei die grundlegende Frage, was eine ganz andere Aussage ist. Zu diesem Schluss kam er aufgrund eines langjährigen Studiums der Philosophiegeschichte. Während der vergangenen 2500 Jahre haben sich Philosophen mit einer großen Bandbreite von Fragen befasst, darunter, wie Steiner aufzeigt, die Frage nach dem Verhältnis des "einen zu den vielen" und die des Freien Willens im Gegensatz zum Determinismus. Betrachten wir eine andere Frage aus einer kürzer zurückliegenden Periode. In seinem Mythos von Sisyphus behauptete der Existenzialist Albert Camus, das einzige moderne Problem, das die Aufmerksamkeit des modernen Menschen verdiene, sei das des Selbstmordes, d.h. ob das Leben lebenswert ist. Für den Existenzialismus übersteigt dieses Problem das Verhältnis vom Sein zum Bewusstsein. Doch die Untersuchung dieser und anderer Fragen, eingeschlossen solcher zu Moral und Ethik, führt einen unausweichlich auf der grundlegendsten Ebene der Analyse zu Antworten entweder materialistischen oder idealistischen Charakters.

Zur Verteidigung seiner Ablehnung von Engels' Formulierung der grundlegenden Frage der Philosophie argumentierte Steiner, der Marxismus sei eine "ziemlich heterogene" Philosophie, die in sich sowohl idealistische, als auch materialistische Elemente einschließe.

...Letztlich führt die Entwicklung der Philosophie gemeinsam mit den Wissenschaften zu einem grundsätzlich materialistischen Standpunkt, doch zu einem, der alle Reichtümer früherer Philosophie mit einschließt, sowohl der idealistischen, als auch der materialistischen und der verschiedenen Schattierungen dazwischen. Wenn, wie Hegel sagt, die Wahrheit im Ganzen liegt, dann können wir keine anderen Schlussfolgerungen ziehen.

Diese Einschätzung der Philosophiegeschichte ist ihrem Wesen nach antimarxistisch. Es ist eine Sache, unter peinlich genauem Verweisen auf den historischen Kontext zu erklären, welchen Beitrag die idealistische Philosophie - besonders die Schule des klassischen deutschen Idealismus - zur Entwicklung des Marxismus geleistet hat, wie Engels dies in seinem Ludwig Feuerbach tut. Eine ganz andere Sache ist es, den Marxismus als eine heterogene Weltanschauung zu klassifizieren, die in sich irgendwie, wahllos Idealismus und Materialismus vereint. Die von Steiner gebrauchte Phrase - "...der alle Reichtümer früherer Philosophie mit einschließt, sowohl der idealistischen, als auch der materialistischen und der verschiedenen Schattierungen dazwischen..." [Skeptizismus? Agnostizismus?] - ist eine einfältige Sprechweise, die nur den Unterschied zwischen Materialismus und Idealismus verwässert oder gar überdeckt.[58]

Im weiteren Verlauf des Briefs minderte Steiner erheblich die Betonung, die er in früheren Dokumenten dem Kampf gegen den Postmodernismus eingeräumt hatte. Auf Talbots Kritik, er (Steiner) nähere sich dem Postmodernismus an, antwortete er:

Wenn Du behauptest, der Postmodernismus stelle heutzutage eine größere Bedrohung dar als Empirismus und Positivismus, dann liegst Du damit in meinen Augen sowohl historisch, als auch faktisch falsch.

Ironischerweise war dieses Kleinreden der intellektuellen Problematik, die vom Postmodernismus ausging, trotz all der rituellen Verurteilungen des Empirismus geleitet von zutiefst empirischen und pragmatischen Erwägungen. Gestützt auf seine eigenen groben und überschlagenen Berechnungen verkündete Steiner, die Empiristen überträfen an Zahl die Postmodernisten.

Eine Untersuchung an den Universitäten von heute mag uns dabei behilflich sein, die vorhandenen intellektuellen Trends ins Auge zu fassen. Besonders in Nordamerika und Großbritannien halten analytische Philosophie und Positivismus die philosophischen Fakultäten weiter fest in ihrem Würgegriff. Es stimmt, dass die Postmodernisten einige Literaturabteilungen übernommen haben, was mit einem Wuchern völkerkundlicher, kulturwissenschaftlicher und anderer Studiengebiete zu tun hat, die ihre Wurzeln im Kulturrelativismus haben. Und die Postmodernisten sind tatsächlich an einigen philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten sehr präsent. Doch der Löwenanteil der Humanwissenschaften ist nach wie vor im Lager von Positivismus und Empirismus.

Die Bedeutung philosophischer Strömungen kann anhand dieser Art Hochrechnung nicht korrekt eingeschätzt werden. Ob nun Empiristen oder Postmodernisten mehr Lehrstühle besetzen, ist nicht die Frage. Weit bedeutsamer ist der objektive Inhalt des postmodernen Denkens - d.h. Die Antworten, die der Postmodernismus auf grundlegende philosophische Fragen gibt - und sein Verhältnis zu den kritischen zeitgenössischen Fragestellungen. Indem er sich in eklektischer Weise bei verschiedenen rückschrittlichen Strömungen bürgerlichen Denkens bediente, entstand der Postmodernismus, und zwar großenteils als Versuch, den Marxismus zu zerstören, mittels eines Schlags gegen seine allerwesentlichsten Grundannahmen: Allen voran die Objektivität des Denkens und das Konzept objektiver Wahrheit. Der Postmodernismus geht über den traditionellen Skeptizismus hinaus, indem er nicht nur die Möglichkeit zur Erkenntnis von Wahrheit in Frage stellt oder verneint; er gibt alle intellektuellen Unternehmungen, die nach objektiver Wahrheit streben, der Lächerlichkeit preis. Hierdurch hat er mit einigem Erfolg versucht, in intellektuellen Kreisen eine Weltsicht von Demoralisierung und grenzenlosem Zynismus zu säen.[59] Die Mitwirkung so vieler ehemaliger Radikaler (darunter auch Stalinisten und frühere Trotzkisten) bei diesem reaktionären Unterfangen hat zu seinem zerstörerischen Einfluss beigetragen, da der Postmodernismus gemeinhin als Spielart linken, ja neomarxistischen Denkens angesehen wird.

IX. Steiners Rückkehr zur Frankfurter Schule und der "Neuen Linken"

Es wird deutlich, dass Steiner an jenem Punkt im Jahr 2002 innerlich die Positionen mehr oder weniger ausformuliert hatte, von denen aus er seinen Angriff auf das Internationale Komitee starten würde. Die Veränderung, die er in philosophischen Fragen durchgemacht hatte, ging einher mit einer neuen politischen Agenda - oder genauer gesagt der Wiederannahme der alten Agenda, die er abgelegt hatte, als er sich 1970 der trotzkistischen Bewegung angeschlossen hatte. Nachdem er sich also rundweg von allem "befreit" hatte, was noch von seiner Übereinstimmung mit dem theoretischen Erbe des Marxismus übrig geblieben war, begann Steiner die Stufenleiter seiner intellektuellen Biographie rückwärts zu durchlaufen. Die Logik dieser Rückwärtsbewegung fand ihren Ausdruck in seiner Hinwendung zum Utopismus, seiner Wiederentdeckung von Marcuse und anderer Größen der Frankfurter Schule, und dem Beginn seiner politischen Partnerschaft mit Frank Brenner.[60]

In Marxismus, Geschichte und Sozialistisches Bewusstsein habe ich mich eingehend mit der Rolle des Utopismus in den Schriften Steiners/Brenners beschäftigt. Um jedoch die vorliegende Besprechung von Alex Steiners politischer Entwicklung zu vervollständigen, ist es notwendig, seinen ursprünglichen Diskussionsbeitrag zu jener Frage zu untersuchen. Im Jahr 2002 war es zu einem Briefwechsel zwischen Nick Beams, Sekretär der australischen SEP, und Brenner gekommen, in welchem es um die Frage des Utopismus geht. Steiner schrieb einen Brief an Steve Long, einem führenden Mitglied der deutschen Partei für Soziale Gleichheit und unterstützte darin Brenners Umarmung des Utopismus. Long antwortete Steiner am 30. Dezember 2002 und verteidigte Beams' Unterscheidung von Utopismus und wissenschaftlichem Sozialismus, die auf den theoretischen Traditionen des Marxismus basiert.

Steiner besuchte die von der SEP organisierte nationale Konferenz gegen die Kriege im Irak und in Afghanistan am 30. März 2003. Bei jener Versammlung unterstützte er die Perspektive, die ich in meinem Eröffnungsvortrag vertreten hatte, und gab keinen Hinweis darauf, dass er Einwände gegen Politik und Aktivitäten der SEP habe.[61] Zwei Monate später, am 28. Mai 2003, sandte Steiner einen langen Brief an Long, in dem sonnenklar wurde, dass er nicht länger irgendetwas anhing, das auch nur entfernt in der theoretischen und intellektuellen Tradition des Marxismus stand.

Das Hauptthema von Steiners Argument war die Anschauung, das Entstehen des Marxismus stelle weniger einen Bruch mit dem utopischen Sozialismus dar, sondern vielmehr dessen Weiterführung. In ähnlicher Weise, wie er zuvor die Kontinuität zwischen mystischer Spekulation und Wissenschaft herzustellen versucht hatte, stellte Steiner nunmehr den Marxismus als Kulmination und Fortführung des utopischen Denkens dar. Seine Darstellung brachte dabei willkürlich ganz unterschiedliche und untereinander verfeindete gesellschaftliche Bewegungen, politische Strömungen und theoretische Konzeptionen zusammen.

In den Jahren von 1830 bis 1848 sehen wir eine Periode riesigen geistigen und politischen Aufruhrs, ohne die weder der Aufstieg des Chartismus in England, noch utopische Gemeinschaften in den USA, die linken Hegelianer in Deutschland oder die radikale Arbeiterbewegung in Frankreich möglich gewesen wären. All dies erreicht seinen Höhepunkt in der Revolution des Jahres 1848 und dem Kommunistischen Manifest, das als die Aufhebung der früheren utopischen Bewegungen und vieles anderen gelten kann... (Hervorhebung hinzugefügt)

Der Marxismus ist letztlich der Erbe dieser Geschichte revolutionärer Kämpfe, in denen das sogenannte utopische Denken eine absolut entscheidende Rolle gespielt hat. Allein schon aus dieser Geschichte sollte ersichtlich werden, dass der Utopismus nicht einfach zu etwas Vergangenem erklärt werden kann, das keinerlei Relevanz mehr für uns heute besitzt. Wenn der Marxismus die Verwirklichung und Weiterentwicklung des Utopismus ist, dann ist klar, dass das Lebendige am Utopismus von höchster Bedeutung für den Marxismus ist. (Hervorhebung hinzugefügt)

Diese von Grund auf falsche Darstellung der Geschichte besteht aus wenig mehr als rhetorischen Schnörkeln, denen es an jedweder faktischen Substanz mangelt, von theoretischer ganz zu schweigen. Steiner ruft sein liebstes Stilmittel, den Hegelschen Terminus des "Aufhebens" zu Hilfe, der seinen Argumenten den Schein philosophischer Ausgefeiltheit verleihen soll. Und dann die Aussage: "Wenn der Marxismus die Verwirklichung und Weiterentwicklung des Utopismus ist, dann ist klar, dass das Lebendige am Utopismus von höchster Bedeutung für den Marxismus ist." Das Problem mit diesem Argument ist nur, dass die Prämisse falsch ist: Der Marxismus ist eben nicht die "Verwirklichung und Weiterentwicklung des Utopismus", sondern dessen theoretische, historische und politische Negation.[62]

Für Steiner bedeutete die Umarmung des Utopismus einen Pfad zu seiner Wiedervereinigung mit dem intellektuellen Milieu der Frankfurter Schule - mehr als drei Jahrzehnte nachdem er die New School verlassen hatte. Steve Long hatte in seinem Brief vom Dezember 2002 darauf hingewiesen, dass Russel Jacoby - ein Anhänger der Frankfurter Schule, dessen Buch The End of Utopia Steiner in den höchsten Tönen gelobt hatte - für eine Wiedergeburt des Utopismus im Dienste des Liberalismus eintrat. Steiner antwortete: "Bedeutet das, dass wir Marxisten damit verpflichtet sind, alles zu ignorieren, was er ab Seite 8 schreibt, wo er seine Absicht kundtut, eine Art radikalen Liberalismus wiederzubeleben?"

Long hatte weiter aufgezeigt, dass Jacobys utopistisches Unterfangen sich in hohem Maße auf Herbert Marcuses Eros und Kultur bezieht. Steiner wischte diese und andere Kritik an der Frankfurter Schule beiseite:

...Ist denn ein zustimmender Hinweis auf Eros und Kultur der Beweis für irgendein ideologisches Verbrechen? Du lieferst dann eine oberflächliche Geschichte der Frankfurter Schule, in der Du zu beweisen versuchst, dass ihre Anhänger politische Opportunisten waren, die sich der Desorientierung der studentischen Bewegungen in den 60er Jahren schuldig gemacht haben. Doch Deine Geschichte ist eine eklektische Kombination einiger historischer Wahrheiten mit einer Reihe von Übervereinfachungen. Das ist ein Durcheinander, das mehr Verwirrung stiftet, als es aufklärt. Ja, sowohl Adorno, als auch Horkheimer waren politische Opportunisten, die im Namen einer "Einheitsfront" gegen den Faschismus in den 30er Jahren die Moskauer Prozesse unterstützten. Bedeutet das, dass sie danach nichts bedeutendes mehr zu sagen hatten?

Weiter lobte Steiner Eros und Kultur als

ein von utopischem Geist durchdrungenes Werk. Es ist ein Versuch, den Marxismus mit einer radikalen Zivilisationskritik zusammenzubringen, die von Freud hergeleitet wird, und der gleichzeitig die konservativen Schlüsse widerlegt, die sein Autor zieht. Es waren ja eben die optimistischen Schlussfolgerungen über die Möglichkeit radikaler Umformung der Gesellschaft, die das Buch so populär machten. Es wurde zu einer Art Gründungsdokument der Neuen Linken in den 60ern. Ich werde hier keine Analyse des Buches geben, doch sollten wir es mit Sicherheit nicht einfach von der Hand weisen.

Bezüglich Marcuses selbst bot Steiner eine entschuldigende Verteidigung von dessen Werk. Er schalt Long:

Wenn man über Marcuse spricht, dann ist es ganz besonders wichtig, auf welche Periode seines Schaffens man sich bezieht. Es besteht ein Unterschied zwischen dem Marcuse aus Vernunft und Revolution und dem in Eros und Kultur, und dann noch einmal zu dem in Der eindimensionale Mensch. Als er letzteres schrieb, hatte Marcuse die Perspektive, nach der die Kulturindustrie allen normalen Versuchen zu oppositionellem politischem Handeln einen Riegel vorgeschoben hätte, und die objektive Grundlage für einen revolutionären Wandel in Anbetracht der neuen Korrumpierungsmechanismen in fortgeschrittenen Konsumgesellschaften ganz irrelevant sei, völlig abgelegt. Die genannten Einschätzungen dienten zur Rechtfertigung einer Abkehr von der Arbeiterklasse - die hoffnungslos korrumpiert sei - und einer Hinwendung zu einer Politik kultureller Subversivität, getragen von Studenten und marginalen Minderheiten. Diese politische Wende in Marcuses Leben lieferte der Neuen Linken ihr theoretisches Unterfutter; man hat zurecht kritisiert, Marcuse habe damit die Saat der schließlichen Desillusionierung einer ganzen Generation von linker Politik gesät.

Der Marcuse aus Eros und Kultur ist jedoch nicht derselbe wie der in Der eindimensionale Mensch. Sicher findet man einige Vorwegnahmen der Positionen in Der eindimensionale Mensch schon in Marcuses früheren Werken (geschrieben in den 1950ern im Amerika McCarthys). Er selbst weist auf diese Vorwegnahmen in einem Vorwort hin, das er für eine Neuauflage des Buches in den 60ern schrieb. Doch zu der Zeit, als er jenes Vorwort schrieb, da war er vollkommen zu jener Politik übergegangen, die er in Der eindimensionale Mensch eingeschlagen hatte. Es gibt jedoch auch eine positive Seite an Eros und Kultur. In diesem Werk wird ein lange vernachlässigtes Thema untersucht: Das Verhältnis der verschiedenen Arten sexueller Unterdrückung in ihren gesellschaftlichen Formen zur Fähigkeit der herrschenden Klasse, ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten. Nichts am Hauptargument von Eros und Kultur zwingt uns, die Arbeiterklasse als Subjekt revolutionären Wandels abzuschreiben. Noch müssen wir den politischen Kampf zugunsten einer vagen kulturellen Praxis aufgeben. Marcuse beharrt allerdings darauf, dass ein politischer Kampf, der sich nicht fundamentalen kulturellen und psychologischen Fragen zuwendet, letztlich steril bleibt. Er macht im Wesentlichen denselben Punkt wie Wilhelm Reich in seiner Massenpsychologie des Faschismus: Wenn die marxistische Bewegung nicht Wege findet, die unterdrückten Triebe der Libido in eine fortschrittliche Richtung zu lenken, dass der Faschismus dann eben jene Triebe benutzen wird, um uns in die Barbarei zu treiben. Ich könnte hierzu noch weitaus mehr sagen, doch ich glaube, ich habe deutlich gemacht, was ich meine. Diskutiert man einen komplexen Denker wie Marcuse einer ist, dann ist es nicht sehr hilfreich, sein Denken über einen Kamm zu scheren, wie Du es tust.

Ich habe Steiner ausgiebig für sich selbst sprechen lassen. Ungeachtet seiner gegenteiligen Behauptungen liegt die Zurückweisung der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse in den theoretischen Auffassungen, die Marcuse über viele Jahrzehnte hegte. Steiners Verteidigungsrede konnte nur von jemandem geschrieben werden, der sich mit seiner Arbeit nicht mehr innerhalb der theoretischen und politischen Traditionen der Vierten Internationale sah.

X. Steiners neue politische Verbindungen

Zu eben jener Zeit ging Steiner neue politische Verbindungen ein, die er in seinen Angriffen auf die Vierte Internationale nicht erwähnt. Ganz offensichtlich ist es seine Absicht, diese seine gegenwärtigen politischen Verbindungen vor denen zu verbergen, die seine Dokumente lesen. Steiner wurde Dozent für Philosophie an der New School for Pluralistic Anti-Capitlist Education, auch bekannt als "The New SPACE". In ihrer Eigendarstellung beschreibt sich die New SPACE als "entschieden antiautoritär und unsektiererisch," und gibt an, sie bringe "Anarchisten, humanistische Marxisten und andere" zusammen. Es ist um genauer zu sein, eine Zusammenballung von radikalen Mittelklasse-Tendenzen, die dem Trotzkismus feindlich gegenüberstehen. Unter ihren "Lehrern, Rednern und Organisatoren" finden sich Individuen, die eng mit der Frankfurter Schule verbunden sind, wie zum Beispiel Kevin Anderson (dessen Schriften Steiner sehr lobt), Stanley Aronowitz, Eric Bronner und Bertel Ollman. Die Fakultät beinhaltet auch Individuen, die in der Grünen Partei und anderen Flaggschiffen kleinbürgerlicher Protestpolitik aktiv sind.

In seinem neuen Lebenslauf, der auf der Website des New SPACE zu finden ist, finden Steiners ehemalige Verbindungen zur trotzkistischen Bewegung keine Erwähnung. Die einzige politische Aktivität, die in seiner kurzen Biographie genannt wird, ist seine Teilnahme an einer Besetzung der New School durch Studenten im Jahre 1970. Obwohl er seinen Artikel zu Martin Heidegger unter seinen Veröffentlichungen anführt, gibt er nicht an, dass er auf der World Socialist Web Site erschienen ist. Wie soll man das erklären? Es stehen hier keine persönlichen oder politischen Sicherheitsfragen zur Debatte. Verbindungen zum Trotzkismus oder orthodoxen Marxismus werden in jenen Kreisen ganz einfach nicht geschätzt. Steiner anerkannte in seinem Mitgliedsantrag aus dem Jahr 1999, dass er Teil der "New Yorker Mittelklasse" gewesen sei. Bis zum heutigen Tage ist er ein Teil jener zynischen und von sich selbst eingenommenen Kultur geblieben. Und eben dies ist es, was seinen Angriffen auf die Vierte Internationale mehr als alles andere einen so heuchlerischen und falschen Charakter verleiht.[63]

Die vorliegende Schrift hat die unterschiedlichen Stadien in Steiners politischem Werdegang einzeln nachvollzogen. Nicht das Internationale Komitee, sondern Alex Steiner hat seine Position radikal verändert. Um die Analyse von Steiners intellektueller Biographie zu einem Ende zu bringen, müssen wir den objektiven Rahmen berücksichtigen, in welchem er zu einem offenen und bitteren Feind des Internationalen Komitees geworden ist - und natürlich meiner selbst.

Steiners gesamte politische Karriere war gekennzeichnet von einem hohen Grad an Unbeständigkeit und Instabilität; ein Merkmal, das unter radikalen Intellektuellen nicht ungewöhnlich ist. Plötzliche Veränderungen der politischen Lage tendieren dazu, seine subjektiven Schwächen deutlicher hervortreten zu lassen, indem er sich an die Weltsicht des kleinbürgerlichen Milieus von New York anpasst, in dem er sein gesamtes Erwachsenenleben verbracht hat. Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass die Ereignisse des 1. September 2001 und danach eine bedeutende Rolle dabei gespielt haben, Steiners politisches Gleichgewicht ins Wanken zu bringen. Im Strudel politischer Verwirrung, die die Zerstörung des World Trade Centers hinterlassen hat und die Regierung und Medien zu reaktionären Zwecken benutzt haben, kam einmal mehr Steiners Empfänglichkeit für persönliche und politische Demoralisierung ins Spiel, deren Zeugen wir schon während der 70er Jahre geworden waren.

Dies ist ein gesellschaftliches, kein Individuelles Phänomen. Nach dem 1. September gerieten weite Teile der akademischen Gemeinschaft aus ihrem politischen Gleichgewicht. Ihre Desorientierung wird auf den Punkt gebracht von Tom Rockmore, einem Akademiker, der sich auf die deutsche idealistische Philosophie spezialisiert hat. Er schreibt:

Alle unsere konzeptualen Sicherheiten sind durch den 11. September durcheinander geraten. Die Annahme, wir hätten die Welt in unseren Theorien eingefangen, ist durch die Welt höchstselbst in die Ecke getrieben worden. Die Welt hat sich in einer Weise verändert, die niemand hätte vorhersehen können. Wir können die Ereignisse des 11. Septembers nicht durch unsere üblichen Mittel begreifen. Sie widersprechen unserem Sinn für logische Ordnung, und wir können nicht sicher sagen, dass unsere Kategorien wieder ins Lot geraten werden.[64]

Trotzki war diese Art von Entkräftung bei radikalen Intellektuellen nur allzu vertraut. "Wenn große Ereignisse auf sie einstürzen, sind sie leicht verloren und fallen wieder in die kleinbürgerlichen Denkweisen zurück."[65] Und eben jenes Schicksal hat Alex Steiner überkommen.

Ende

 

Anmerkungen

48. Steiner/Brenner haben den Vortrag nicht auf ihrer Website veröffentlicht.

49. Yates schreibt:

Brunos Philosophie kann nicht von seiner Religiosität getrennt werden. Und es war seine Religion, die "Weltreligion", die er in der ausgedehnten Form des unendlichen Universums und der unzähligen Welten als eine neue, umfassendere Gotteserkenntnis erblickte, als eine neue Offenbarung des Göttlichen in seinen "Überbleibseln". Das kopernikanische Weltbild war ein Symbol dieser neuen Offenbarung - eine Rückkehr zur Religion der alten Ägypter mitsamt ihrer Magie; sonderbarerweise glaubte er, dies könne in einem katholischen Rahmen geschehen.

Die Legende, Bruno sei als philosophischer Denker verfolgt und für seine gewagten Ideen über unzählige Welten oder die Bewegung der Erde verbrannt worden, kann daher nicht länger aufrechterhalten werden... Bei der Tiefe seiner Verbundenheit mit dem Okkultismus war es Bruno unmöglich, eine Philosophie der Natur, der Zahlen, der Geometrie und der Diagramme zu denken, ohne diesen eine göttliche Bedeutung zu verleihen. Er ist deshalb die letzte Person auf der Welt, die zum Vertreter einer von der Göttlichkeit geschiedenen Philosophie gelten kann. (Giordano Bruno and the hermetic tradition, London, 1964, S. 355f).

50. Eine Widerlegung von Yates' Erklärung der Gründe für Brunos Hinrichtung gibt Prof. Maurice A. Finocchiaro. Aufgrund einer sorgfältigen Untersuchung des Prozesses gegen Bruno schließt er nüchtern: "Yates' Interpretation ist nicht zutreffend..." Indem er seine Darstellung von Brunos Prozess "in den Kontext von Fragen größerer Bedeutung" stellt, schreibt Finocchiaro: "Wenn Galileos Verfahren den Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion beleuchtet, dann kann man dasselbe über Brunos Verfahren bezüglich des Verhältnisses von Philosophie und Religion sagen." ("Philosophy versus Religion and Science versus Religion", in Hillary Gatty [Hrsg.]: Giordano Bruno, Ashgte, 2002, S. 54)

Eine vernichtende Kritik von Yates' Studien findet sich in "Frances Yates and the making of history" von Brian Vickers (in The Journal of Modern History, Bd. 51, no. 2, Juni 1979, S. 287-316). Vickers, ein bekannter Wissenschaftshistoriker, konzentriert sich auf Yates' Studie zu The Rosicrucian Enlightenment ("Die Aufklärung der Rosenkreuzer"), die - ganz wie ihre früheren Arbeiten über Bruno - den Okkultismus der Renaissance als große intellektuelle Bewegung verherrlicht, von der sich unter anderem Bacon, Descartes, Kepler und Newton hätten inspirieren lassen. Vickers merkt hierzu an:

Den Leser, der in ihrem Buch eine ernsthafte historische Studie erblickt, wird das ungeheure Maß an Spekulation stören, ferner die unkritische Art, in der die Rosenkreuzer-Bewegung definiert wird und die unüberlegten Behauptungen über ihren Einfluss. Unter den häufig wiederkehrenden Worten finden sich "wenn", "könnte", "vielleicht", "hätte", "sicherlich", "muss doch" - eine Reihenfolge, die dann oft in der positiven Form "es war" kulminiert. (S. 301f)

Vickers stellt dar, wie Yates beim Leser über weite Teile den Eindruck hinterlässt, als schenke sie selbst den Behauptungen und Ergebnissen der von ihr beschriebenen Renaissance-Okkultisten Glauben.

Es scheint tatsächlich, als habe Yates ihre eigene Kritikfähigkeit weggedrückt. Zugegeben, sie befasst sich mit dem Okkulten, und nicht jeder Aspekt hiervon ist rationaler Erklärung zugänglich. Doch selbst mit diesen Abstrichen gibt es Passagen, in denen das Fehlen jedweder Skeptik gegenüber den Methoden und Zielen der Okkultisten beim Leser Bedenken wachrufen müssen, dass hier die gewohnten Standards bei der Einschätzung von Materialien zeitweise außer Kraft gesetzt worden sind.

Nach einer detaillierten Entlarvung von Yates' Studie über die Rosenkreuzer-"Aufklärer" - und besonders ihrer Behauptung, Bacons Nova Atlantis sei ein Rosenkreuzerisches Werk - gibt Professor Vickers eine außerordentlich harsche Bewertung ihres intellektuellen Erbes:

Das letzte der großen Themen, auf die ich mich an dieser Stelle beschränken muss, ist Yates' Begehren, die Geschichte der Wissenschaft jener Periode umzuschreiben. In Giordano Bruno and the Hermetic Tradition behauptet sie, der sogenannte 'Magier' der 'hermetisch-kabbalistischen' Tradition der Renaissance mit seiner 'wesentlich religiösen Einstellung' habe tatsächlich auf die Welt eingewirkt und damit eine gänzlich neue 'Hinwendung zur Welt' geschaffen, was die Wissenschaft grundlegend verändert habe. Schon vor Erscheinen ihres jüngsten Buches hatten Charles Trinkaus und Mary Hesse ihre Argumente ernstlich angezweifelt, und Yates muss Kenntnis von diesen beiden Forschern haben, die zu den besten ihrer jeweiligen Gattung gehören. Daher schreibt sie nun, ihr 'Glaube' werde 'in der Tat von Historikern der Geistesgeschichte gemeinhin nicht akzeptiert...' (S. 226). Mit zunehmendem polemischem Elan kommt sie im Verlauf des Buches auf diese These zurück. Herablasend spricht sie von der 'so genannten wissenschaftlichen Revolution' (S. XI und 220) und vertritt die Auffassung, die neue Wissenschaft sei aus der Magie hervorgegangen, wobei das Rosenkreuzertum eine besonders wichtige Rolle gespielt habe. In der Tat: es handelt ich um eine entscheidende Phase, in welchem Europa 'einen der wichtigsten Schritte heraus aus der Renaissance, hinein ins 17. Jahrhundert getan' hat (S.117). In der Folge entdeckt sie eine 'ungebrochene Tradition, die von der Rosenkreuzer-Bewegung zu den Vorläufern der Royal Society führt' [Anm. d. Übers.: die Royal Society entspricht einer Gelehrtengesellschaft, vergleichbar einer nationalen Akademie der Wissenschaften.]

Solche Behauptungen haben ganz offensichtlich nur sehr wenig Halt. Yates' Vorschlag einer Umschreibung der Geschichte der Renaissance baut nicht auf Stein und auch nicht auf Sand, sondern auf Luft. (S. 315f)

Als Schlussfolgerung warnt Vickers: "Wenn die Methoden der 'Rosenkreuzer-Aufklärung' Akzeptanz finden oder zum Vorbild für andere dienen, könnten die Ergebnisse verheerend sein." (S. 316)

Unglücklicherweise haben sich Vickers schlimmste Befürchtungen bewahrheitet. Obwohl Yates' Studien der Ära des Postmodernismus vorangingen, fanden die antimaterialistische Orientierung ihrer Thesen und die "Begeisterung" über die Wiederentdeckung zuvor nicht beachteter "Gesellschaften" und "unkonventioneller [nonprivileged] Diskurse" (wie Okkultismus und Magie) ihren Widerhall bei Akademikern der 80er und 90er Jahre. Für diese ist die traditionelle Auffassung von einer "wissenschaftlichen Methode" das Produkt einer besonderen kulturellen Umgebung, ohne jede universale Gültigkeit. Die Postmodernisten machten sich an eine grundlegende Revision angeblich fälschlicher Ansprüche auf Objektivität. Das Ergebnis der neuen Methode liest sich in den Worten einer ihrer Anwender wie folgt:

Die Geschichtsschreibung der englischen Wissenschaft über die vergangenen zwanzig Jahre wurde stark beeinflusst durch die Notwendigkeit, Diskurse zu erläutern. Die zuerst nur als Aussagen [speech-acts] betrachteten wissenschaftlichen Texte wurden auf den Kontext des jeweiligen Aussagenden [formulators] bezogen, ebenso auf andere Diskurse, religiöse, politische, sogar magische. Mit dieser Kontextualisierung der Wissenschaft ging die Historisierung des Wissenschaftlers einher - die Enthüllung der Interessen, Werte und Ideologien, die in den Geistern am Werk waren, die sich gerade als frei von solchen Impulsen betrachtet hatten. Im nächsten - vielleicht unvermeidlichen - Schritt nahmen die Wissenschaftshistoriker und -soziologen die Haltung von philosophischen Relativisten ein. Die Frage, ob eine Wissenschaft richtig gelegen hatte oder nicht, wurde ausgeklammert; der Brennpunkt verschob sich auf das freie Spiel mit Diskursen über Macht und Interessen. Das bedeutet: Die gesellschaftliche Wirklichkeit wurde als entscheidend für den Erfolg wetteifernder wissenschaftlicher Paradigmen gesehen. ("Constructing, deconstructing and reconstructing the History of Science" von Margaret C. Jacob, The Journal of British Studies, Bd. 36, Nr.4 [Okt. 1997], S. 459, Hervorhebungen hinzugefügt.)

Die Autorin des zitierten Abschnitts ist eine Schülerin von Yates, ausdrücklich lobt sie deren Darstellung von Bruno als einen "etwas verschrobenen Anhänger einer neuen kopernikanischen Religiosität..." Jacob schreibt Yates das Verdienst zu, die entscheidende, inspirierende Rolle der Religion bei der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens aufgezeigt zu haben. "Angefangen mit den Werken von Frances Yates in den 60ern haben Historiker der frühen europäischen Moderne viele führende Naturphilosophen vor einer rationalistischen Darstellung ihrer Motive und Interessen bewahrt." ("Thinking unfashionable thoughts, asking unfashinable questions", The American Historical Review, Bd. 195, Nr. 2 [April 2000], S. 497).

51. Die verstorbene Betty Jo Dobbs schrieb gemeinsam mit der in Fußnote 3 zitierten Margaret C. Jacob das Buch Newton and the Culture of Newtonianism.

52. Rezension von William Newman, Isis, Bd. 84, Nr. 3 (Sept. 1993), S. 578.

53. In einer Darstellung jener Debatte weist Prof. H. Floris Cohen auf die Bedenken hin, Yates' Thesen hätten zu einer Sicht der Wissenschaft " als lediglich einem unter einer Vielzahl möglicher Glaubenssysteme geführt, von denen jedes seine ihm eigenen Standards an Rationalität oder Mängel an derselben besitzt." (The scientific revolution: A historical inquiry [Chicago: University of Chicago Press, 1994], S. 180)

54. Newtons große wissenschaftliche Leistungen liegen auf dem Gebiet der Mechanik, Optik und Mathematik und nicht der Chemie, die - selbst verglichen mit der Physik - zu jener Zeit noch in einem primitiven Stadium war. Die Chemie befand sich noch in dem Prozess ihrer Ablösung von der Alchemie, die selbst trotz ihrer mystischen Hintergründe Einiges an empirischem Faktenmaterial zu chemischen Vorgängen angehäuft hatte. Wichtiger wäre es, zu untersuchen, inwieweit Newtons religiöse Anschauungen ihn daran hinderten, irgendwelche bedeutsamen Beiträge zur Entwicklung der Chemie als Wissenschaft zu leisten. Seine religiöse Weltsicht färbte auf bestimmte Aspekte seiner physikalischen Arbeiten ab - das bekannteste Beispiel dürfte seine Postulierung von Gott als Urbeweger des Universums sein. All das zeigt jedoch lediglich, dass Newton ein Mann seiner Zeit war. Die weitere Entwicklung der Physik eliminierte all diese religiösen Verwicklungen.

55. Bezeichnenderweise ist ein wichtiger Aspekt von Yates' Interpretation der wissenschaftlichen Revolution, dass diese "nicht nur einen gewaltigen Zuwachs an Kenntnissen und Fähigkeiten des Menschen bedeutete, sondern auch dass etwas auf diesem Weg verloren ging. Und dieses 'Etwas' hat mit Einsicht in die Seele des Menschen zu tun, seinen miteinander verwobenen bewussten und unbewussten Schichten; seiner Befähigung zum Guten und zum Bösen; und in das Geheimnis seiner Kreativität, das die moderne Wissenschaft offenbart, aber auch gleichzeitig verdunkelt oder einfach ignoriert." (a.a.O., S. 181) Diese Kritik an der Wissenschaft zeigt eine entschiedene Ähnlichkeit zu derjenigen Horkheimers und Adornos in Dialektik der Aufklärung, die die Krise der modernen Gesellschaft bis auf die wissenschaftlich basierte Auffassung der Natur als eines zu beherrschenden Objekts zurückführt. Wie wir später sehen werden, fußen Steiners Ansichten gänzlich auf Horkheimer und Adorno.

56. Engels schreibt hierzu:

Wenn nach der finstern Nacht des Mittelalters auf einmal die Wissenschaften neu und in ungeahnter Kraft erstehn und mit der Schnelle des Mirakels emporwachsen, so verdankten wir dies Wunder wieder - der Produktion. Erstens war seit den Kreuzzügen die Industrie enorm entwickelt und hatte eine Menge neuer mechanischer (Weberei, Uhrmacherei, Mühlen), chemischer (Färberei, Metallurgie, Alkohol) und physikalischer Tatsachen (Brillen) ans Licht gebracht, und diese gaben nicht nur ungeheures Material zur Beobachtung, sondern lieferten auch durch sich selbst schon ganz andre Mittel zum Experimentieren als bisher und erlaubten die Konstruktion neuer Instrumente; man kann sagen, dass eigentlich systematische Experimentalwissenschaft jetzt erst möglich geworden. Zweitens entwickelte sich jetzt ganz West- und Mitteleuropa inkl. Polen im Zusammenhang, wenn auch Italien kraft seiner altüberkommenen Zivilisation noch an der Spitze stand. Drittens eröffneten die geographischen Entdeckungen - rein im Dienst des Erwerbs, also in letzter Instanz der Produktion gemacht - ein endloses bis dahin unzugängliches Material in meteorologischer, zoologischer, botanischer und physiologischer (des Menschen) Beziehung. Viertens war die Presse da. (Dialektik der Natur, Berlin 1973, S. 178f)

57. Yates schreibt:

...Es ist eine Bewegung des Willens, die in Wirklichkeit eine intellektuelle Bewegung entfacht. Ein neuer Brennpunkt der Interessen entsteht und wird umringt von einer emotionalen Begeisterung; der Geist wendet sich, wohin der Wille ihn beordert; neue Einstellungen, neue Entdeckungen sind die Folge. Hinter dem Aufkommen der modernen Wissenschaft steht eine Ausrichtung des Willens auf die Welt, ihre Wunder und die rätselhaften Vorgänge in ihr, eine neue Sehnsucht und Entschlossenheit, diese Vorgänge zu verstehen und anzuwenden. [a.a.O., S. 448]

Nichts in oben zitiertem Abschnitt trägt zu einem Verständnis der tatsächlichen historischen, sozioökonomischen Vorgänge bei, die der Revolution der Wissenschaft den Boden bereiteten.

58. Lenins Philosophische Heftte quellen nur so über von beißenden Kommentaren über Ungenauigkeiten dieser Art, wie zum Beispiel in seinen "Bemerkungen in W. Schuljatikows Buch". Lenin verfährt gnadenlos mit Schuljatikows konfusen Formulierungen, besonders da, wo er sich mit dem Verhältnis von Materialismus und Idealismus beschäftigt. "Billige Erklärungen ohne Analyse des Wesens!" [Werke, Bd. 38, Berlin 1973, S. 508] ist ein charakteristisches Moment, oder "Alles in einen Topf! Idealismus und Skeptizismus, alles ''entspricht' der Manufaktur! Einfach sehr einfach ist Genosse Schuljatikow!" [ebd., S. 502]. Andere Kommentare sind "leeres Geschwätz" und "so ein Unsinn".

59. Hegel beobachtete, dass Philosophien, die das Konzept der Wahrheit kleinreden, im Allgemeinen in Zeiten von Dekadenz und Korruption aufkommen.

60. Brenner war von 1972 bis 1979 Mitglied der Workers League. Nachdem Goldstein im März 1977 aus der Partei ausgetreten war, wurde Brenner Herausgeber des Bulletin. Im Januar 1979 wurde er gebeten, nach Detroit zu ziehen. Er verbrachte dort etwa eine Woche und reiste dann überstürzt ab. Er gab keinerlei Erklärung seiner Aufgabe der Parteimitgliedschaft, da er alle Verbindungen zur Workers League kappte. Fast 20 Jahre lang sah ich Brenner danach nicht mehr. 1996 trafen wir uns sehr kurz in Toronto. Dies war meine letzte - und einzige - Diskussion mit ihm. Er meldete kein Interesse an, die Mitgliedschaft in der SEP zu beantragen, trug aber einige Artikel zur WSWS bei.

61. In MWHH dagegen verurteilen Steiner/Brenner die Politik und die Aktivitäten der SEP in Bezug auf den Krieg mit den allerwütendsten Bemerkungen.

62. Das Kommunistische Manifest, das Steiner hier so nebenbei erwähnt, betont den Unterschied zwischen dem in ihm vertretenen Sozialismus und dem Utopismus:

Die Bedeutung des kritisch-utopistischen Sozialismus oder Kommunismus steht im umgekehrten Verhältnis zur geschichtlichen Entwicklung. In demselben Maße, worin der Klassenkampf sich entwickelt und gestaltet, verliert diese phantastische Erhebung über denselben, diese phantastische Bekämpfung desselben allen praktischen Wert, alle theoretische Berechtigung. Waren daher die Urheber dieser Systeme auch in vieler Beziehung revolutionär, so bilden ihre Schüler jedesmal reaktionäre Sekten. Sie halten die alten Anschauungen der Meister fest gegenüber der geschichtlichen Fortentwicklung des Proletariats. Sie suchen daher konsequent den Klassenkampf wieder abzustumpfen und die Gegensätze zu vermitteln. Sie träumen noch immer die versuchsweise Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen Utopien, Stiftung einzelner Phalanstere, Gründung von Home-Kolonien, Errichtung eines kleinen Ikariens - Duodezausgabe des neuen Jerusalems -, und zum Aufbau aller dieser spanischen Schlösser müssen sie an die Philanthropie der bürgerlichen Herzen und Geldsäcke appellieren.

Allmählich fallen sie in die Kategorie der oben geschilderten reaktionären oder konservativen Sozialisten und unterscheiden sich nur noch von ihnen durch mehr systematische Pedanterie, durch den fanatischen Aberglauben an die Wunderwirkungen ihrer sozialen Wissenschaft. [Marx/Engels Werke Bd. 1, Berlin 1973, S. 448f]

63. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, eine Analyse von Vorlesungen zu geben, die Steiner an der New SPACE gehalten hat. Er hat Kurse zu Hegels Logik und Phänomenologie des Geistes gehalten. Seine Vorlesungen finden sich im Internet. Sie sind meiner Ansicht nach sehr schwach. Steiners Darstellung Hegels und - in diesem Zusammenhang - Marx hat nichts mit einer marxistischen Darstellung gemein. Das Verblüffendste an den Vorlesungen ist, dass niemand, der sie liest, auf den Gedanken käme, Steiner sei Materialist. Nachdrücklich distanziert er sich von der geläufigen marxistischen Kritik an Hegels Idealismus. In einer Vorlesung zu "Vernunft in der Geschichte" sagt er seinen Studenten: "Um so viel Gewinn wie möglich aus diesem Kurs zu ziehen, wäre es von Vorteil, wenn Sie alles vergessen könnten, was sie über Hegel wissen, ebenso wie über Marx. Das Verständnis Hegels und teilweise auch Marx' wurde durch unterschiedliche Interpretationen abgeschwächt, die wenig oder gar nichts mit dem zu tun haben, worum es Hegel oder Marx eigentlich ging." Die von ihm kritisierte Interpretation ist diejenige, der zufolge Marx Bearbeitung von Hegels Dialektik einen Bruch mit dem Idealismus erforderte. Er sagt seinen Studenten: "Ich will nicht hören, dass Marx Hegel auf den Kopf oder auf die Füße gestellt habe." Später in der gleichen Reihe verkündet Steiner: "Ich denke, die Begriffe Idealismus und Materialismus müssen nach Marx überdacht werden." In seiner ersten Vorlesung über Hegel liefert er seine ausdrücklichste Verwerfung der marxistischen Herangehensweise an das Studium Hegels:

In der marxistischen Tradition haben wir eine Interpretation vor uns, die in etwa so geht: "Naja, Hegel war ein konservativer Denker, aber wir können einiges von dem bewahren, was er gesagt hat, namentlich seine Methode, was immer das bedeutet. Ich werde Hegel nicht auf diese Weise lehren." Nebenbei gesagt halte ich das für eine sehr schlechte Interpretation. Es war auch nicht die von Marx.

64. Man sollte hinzufügen, dass Rockmore ganz ähnliche Positionen zur Geschichte des Marxismus vertritt wie Steiner, speziell zum Problem der "Grundfrage aller Philosophie". Er beharrt darauf, Marx sei ein Idealist gewesen, und der materialistische Marxismus im wesentlichen eine Erfindung von Engels. Im Mai 2003 verfasste ich eine scharfe Kritik an Rockwells Anschauungen (http://www.wsws.org/de/2006/jun2006/roc1-j01.shtml).

65. Verteidigung des Marxismus, Berlin 1973, S. 70.

Siehe auch:
Die politische und intellektuelle Irrfahrt des Alex Steiner - Teil 1
(3. Februar 2009)
Die politische und intellektuelle Irrfahrt des Alex Steiner - Teil 2
(11. September 2007)
Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein
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