Trotz aller technologischen Fortschritte bleibt das Filmemachen ein zeitaufwendiger Prozess. Drehbücher müssen geschrieben und vervollkommnet werden, um Produzenten zu finden, die bereit sind die Mittel für eine Produktion bereitzustellen bzw. aufzustocken. Die Filmcrew und die Besetzung müssen ausgewählt, geeignete Drehorte gefunden oder gebaut werden. Dann erst beginnt die eigentliche Dreharbeit. Der ganze Prozess kann Jahre in Anspruch nehmen.
Es wäre daher unrealistisch zu erwarten, dass Filmemacher, insbesondere jene, die ihre Arbeit sehr ernst nehmen, sofort in der Lage wären, Werke zu produzieren, die sich mit der aktuellen gewaltigen wirtschaftlichen und politischen Krise der Weltgesellschaft auseinandersetzen.
Die gegenwärtige Situation ist allerdings auch nicht vom Himmel gefallen. Es gab zahlreiche wirtschaftliche und politische Warnsignale für das Nahen einer epochalen Krise des kapitalistischen Systems. Durch das Platzen einer Reihe spekulativer Blasen kündigte sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten unheilvoll ein Zusammenbruch historischen Ausmaßes an.
Das auffallendste Merkmal der diesjährigen Berlinale war vielleicht mangelnde Verständniss für die Bedrohungen, die die gegenwärtige Krise für Abermillionen Arbeitsplätze, den Lebensstandard und die gesamte Lebensweise darstellt. Die am Ende der ersten Dekade dieses Jahrhunderts brennenden Fragen - die obszöne Polarisierung des gesellschaftlichen Reichtums, die Unterordnung weiter Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, auch der Kunst und des Films, unter die Interessen einer kleinen, die Gesellschaft in den Niedergang führenden Finanzelite - keine dieser Fragen wurde auf dem Festival angemessen behandelt.
Die allgemeine Atmosphäre des Festivals erinnerte an die weiter spielende Bordkapelle auf dem zum Sinken verdammten Schiff, nachdem der Eisberg gerammt wurde. Die 59. Berlinale klopfte sich selbst auf die Schulter und zelebrierte ihre Stars, Galen, roten Teppiche und Parties. Wie vorherzusehen war, gab es in der Panorama- Sektion des Festivals auffällig viele Filme zum Thema sexuelle Identitätspolitik. Joe Dallesandro, der als Sex-Symbol galt und in den späten 1960ern und 1970ern in einer Reihe bedeutungsloser Filme Andy Warhols mitgewirkt hatte, wurde eine Auszeichnung für sein Lebenswerk verliehen.
Viele Festivalbeiträge machten die punktuellen Sichtweisen und die Selbstverliebtheit führender Filmemacher deutlich. Mammoth, der neue Film des schwedischen Regisseurs Lukas Moodyson, wurde in der Sektion Wettbewerb gezeigt und handelt von einem wohlhabenden, karriereorientierten New Yorker Paar, das eine Philippina als Kindermädchen für seine achtjährige Tochter beschäftigt. Um in New York Geld als Kindermädchen zu verdienen, hat diese Frau ihre eigenen Kinder auf den Philippinen zurückgelassen.
Moodyson greift die tatsächliche Bedrohung auf, die Kinderprostitution für vernachlässigte Kinder in unterentwickelten Ländern darstellt. Letztendlich jedoch ist die Botschaft seines Films banal. Sie läuft darauf hinaus, dass alles soziale Elend auf Misshandlung oder Mangel an Zuwendung in der Kindheit zurückgeführt werden kann.
Der erfahrene griechische Regisseur Theo Angelopoulos (Der Bienenzüchter, Landschaft im Nebel, Der Blick des Ulysses ) stellte für seinen Berlinale-Beitrag The Dust of Time - dem zweiten Teil einer geplanten Trilogie - eine Besetzung herausragender europäischer und amerikanischer Schauspieler zusammen.
Die Handlung spielt in der ganzen Welt und umspannt die Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie zeigt Momentaufnahmen bedeutender historischer Ereignisse des Jahrhunderts - beispielsweise der Konzentrationslager des deutschen Faschismus, des Todes Stalins und des Falls der Berliner Mauer. Im Einklang mit Angelopoulos' eigener theoretischer Perspektive sind solche Ereignisse jedoch ohne tiefere Bedeutung, nur flüchtige Teile in einem periodisch wiederkehrenden historischen Kreislauf.
Solche historischen Wendepunkte sind lediglich die dekorative Kulisse für Angelopoulos' Hauptanliegen: Die Kreativitätskrise eines amerikanischen Regisseurs (gespielt von William Defoe) bei der Vorbereitung seines neuen Films. Als ich im Jahre 2004 den während der Berlinale gezeigten ersten Teil seiner Trilogie besprach, verwies ich auf den Pessimismus, der die Filme und das Geschichtsverständnis des griechischen Regisseurs durchdringt.
Anfang der Neunziger erklärte Angelopoulos: "Die Geschichte schweigt jetzt... wir schürfen in uns selbst nach Erklärungen, weil es so schrecklich schwierig ist, in diesem Schweigen zu leben." Als Angelopoulos 1997 auf den seine Filme durchziehenden Pessimismus angesprochen wurde, antwortete der Regisseur - der sich zum Beginn seiner Karriere der Linken verbunden fühlte und gegen die griechische Militärdiktatur opponierte: "Die Schlacht ist immer die Schlacht des Ich ... Das Individuum muss immer gegen alles in seinem Leben kämpfen, weil es die Illusion hat, es gebe einen Sinn, ein Ziel. Aber es gibt keinen Sinn, keine Nützlichkeit. Das Leben selbst ist der Kampf. Ich kümmere mich nicht mehr um Politik, um Verallgemeinerungen. Ich habe aufgehört, sie zu suchen."
Die Geschichte hat sich mit aller Macht zurückgemeldet und der unerschütterliche Focus des Regisseurs auf persönliches Schicksal und Tragik ohne irgendeine gesellschaftliche oder historische Verankerung wirkt in hohem Maße selbstgefällig und gedankenlos.
The International
Der Beamtenapparat des Festivals nahm insofern von der Finanzkrise Notiz, als er die Berlinale mit dem deutschen - aber englischsprachigen - Filmbeitrag The International eröffnete, der die üblen Machenschaften einer internationalen Großbank behandelt. Dieser Film zeigt ernsthafte Schwächen - desgleichen einige Dokumentationen (s. unten) zu ähnlichen Themen.
Tom Tykwers frühere Filme (einschließlich Heaven, Lola rennt und Der Krieger und die Kaiserin) spielten mit der Chaostheorie, wobei mit eigenwilligen Wendungen des Lebens spekuliert wurde, die der Zufall mit sich bringt. Mit dem kommerziellen Erfolg seines letzten Films Das Parfum, hatte Tykwer nun den Rückhalt und die Mittel, ein hollywoodartiges Spektakel zu drehen.
Auf der ersten Pressekonferenz würdigte der Festivaldirektor Dieter Kosslick seine Wahl des Eröffnungsfilmes: "Wir haben den Eröffnungsfilm bereits vor Monaten ausgewählt und im Laufe der Zeit wurde aus dem, was eigentlich ein Film sein sollte, so etwas wie eine Dokumentation der Finanzkrise."
Das ist reiner Unsinn. Tatsächlich ist The International ein ganz und gar oberflächlicher Actionfilm ohne jeden Bezug zur gegenwärtigen Krise. Der Film zeigt Clive Owen als zerzausten Interpolagenten Louis Salinger, der mit der attraktiven stellvertretenden Staatsanwältin Naomi Watts im Schlepptau den Globus (Berlin-Mailand-New York- Istanbul) bereist. Trotz der Behinderungen durch den bürokratischen Polizeiapparat ist das Duo entschlossen, seinen Gegner, eine in dunkle Waffengeschäfte und Morde verwickelte internationale Bank, zu besiegen.
In James-Bond-Manier besteht die Handlung aus Standardaction an verschiedenen Orten - wie beispielsweise der sinnlosen Schießerei zwischen unserem Helden und ein paar Verbrechern im New Yorker Guggenheim-Museum.
In einem ruhigeren Moment des Filmes erfahren wir, dass einer der führenden Bankberater, ein früherer Major (gespielt von Armin Mueller-Stahl) des früheren Staatssicherheitsdienstes (Stasi) der DDR ist. In einer Vernehmungsszene drückt Salinger sein Erstaunen darüber aus, dass ein früherer "Kommunist" seine Prinzipien über Bord werfen und für eine solche Bastion des Kapitalismus wie die Internationale Bank arbeiten könne.
Der Major antwortet niedergeschlagen (und ganz auf der Linie von Tykwers Chaostheorie), er habe keine Kontrolle über seinen Werdegang vom "Kommunisten" zum Bankberater gehabt. "So ist das Leben." Der Einzelne hat keine Kontrolle über sein Schicksal. Seiner Schicksalsergebenheit wird unmittelbar vom resoluten Salinger widersprochen, der alles zu tun bereit ist, um die Bank zu Fall zu bringen.
Tykwer stellt gern sein breites Interesse an Kunst zur Schau, aber auf dem Gebiet der Politik und Gesellschaft agiert er mit völlig unausgegorenen Konzeptionen. Als stalinistische Organisation stand der Staatssicherheitsdienst der DDR mit jeder Faser einem wirklichen Sozialismus als Feind gegenüber. Zahllose stalinistische Bürokraten waren gut darauf vorbereitet, ihren privilegierten Status in der Umarmung des Kapitalismus zu retten. Das allerdings ist für einen Filmemacher, der ein Gleichheitszeichen zwischen Kapitalismus und Kommunismus setzt, ein Buch mit sieben Siegeln. Für Tykwer handelt es sich lediglich um zwei Arten des Totalitarismus, der die Menschheit ins Desaster führte.
Neoliberalismus
Der kanadische Regisseur Richard Brouillette wandte zwölf Jahre für die Produktion seines Films Encirclement: Der Neoliberalismus umgarnt die Demokratie auf. Der Film ist in Abschnitte unterteilt, die aus mehreren Interviews in schwarz-weiß mit Vertretern neoliberaler Ideen - Jean-Luc Migué, Martin Masse - und ihren Gegnern bestehen, namentlich dem spanischen Journalisten und Globalisierungskritiker Ignacio Ramonet, dem radikalen Gesellschaftskritiker Noam Chomsky, dem kanadischen Ökonomen Michel Chossudovsky und der Politikwissenschaftlerin Susan George.
Encirclement leidet unter ernsten Mängeln. Zwar bringt der Film eine kurze Sequenz, die sich mit der Übernahme neoliberaler Ideen durch Parteien beschäftigt, die traditionell der politischen Linken zugeordnet wurden, aber das ist für Brouillette nicht die entscheidende Frage. Die Macht des Neoliberalismus liegt dem Filmemacher zufolge in der Fähigkeit der herrschenden Mächte, ihre Botschaft rüberzubringen, und in der Bereitschaft der Menschen, ihr zuzuhören.
Brouillette erklärt, seine Absicht sei nicht gewesen, "einen Film über die Globalisierung der Ökonomie zu drehen - davon gebe es schon viele -, sondern über die Globalisierung einer Denkschule. Einen Film über Gedankenkontrolle, Gehirnwäsche, ideologischen Konformismus, über die allgegenwärtige Unwiderlegbarkeit eines neuen Monotheismus mit seinen eingemeißelten Geboten, brennenden Büschen und goldenen Kälbern."
Während Leute wie Ramonet, Chomsky, George usw. durchaus einige vernichtende Kritik an der Finanzelite und ihren Ideologen liefern, die heute die Politik diktieren, beschränkt sich ihre Alternative weitgehend darauf, eine Rückkehr zum Keynesianismus oder der Politik eines New Deal zu fordern.
Brouillettes eigene Schlussfolgerungen sind vollkommen pessimistisch: "Nach Lage der Dinge nehme ich nicht an, dass die zahllosen Privatisierungen und Deregulierungen in aller Welt rückgängig gemacht werden. Im Gegenteil werden weiterhin profitable Unternehmen privatisiert, aber defizitäre Unternehmen verstaatlicht, und mehr Freihandel gefordert." Alles, auf was er hoffen könne, sei, dass "mein Film, zumindest ein wenig, dazu beiträgt, die Grundlagen dieser schädlichen Ideologie breiter in Frage zu stellen und zurückzudrängen."
Ähnliche Themen werden in anderer Form in Die Schock-Strategie, dem neuen Film der britischen Regisseure Michael Winterbottom und Mat Whitecross behandelt. Der Film versucht das gleichnamige Buch der kanadischen Sozialkritikerin und Aktivistin Naomi Klein filmisch zu übersetzen.
Kleins flache Analyse des gegenwärtigen Zustands des Weltkapitalismus wurde schon auf der WSWS besprochen (Siehe: Eine oberflächliche Analyse des globalen Kapitalismus) und der neue Film hat der Botschaft des Buchs nichts Positives hinzuzufügen. Offensichtlich in Eile zusammengefügt, zeigt Die Schock-Strategie Szenen von Krisen, Aufständen und Kriegen, beginnend mit dem Militärputsch in Chile 1973 und endend mit der Invasion des Iraks.
Anknüpfend an Kleins Buch vertreten Winterbottom und Whitecross die Vorstellung, dass die Intervention des kapitalistischen Staates der Gegenpol zu neoliberalen Exzessen sei. Winterbottom klagte auf Spiegel-Online: "So präsentiert sich uns die Welt heute: Freie Märkte sind gut. Regierungen sind schlecht." Er möchte das Vertrauen der Öffentlichkeit in die positive Rolle von Regierungen wiederbeleben.
Die alarmierende Diskrepanz zwischen der zunehmenden sozialen Krise und dem Inhalt zeitgenössischen Filmschaffens ist nicht in erster Linie die Schuld der Drehbuchautoren und Regisseure. Selbstzufriedenheit und Illusionen in die Rolle des Staates werden von so genannten "alternativen" Ökonomen wie Klein, George und Chomsky gefördert.
Umso wichtiger ist es für Filmemacher und Künstler, selbst eine kritische Untersuchung der vergangenen Jahrzehnte zu unternehmen, um eine neue Basis für das Kino und eine neue Beziehung zum Massenpublikum seiner Filme zu schaffen.