Regie: Stephen Daldry, Drehbuch: David Hare. Der Film basiert auf dem Roman "Der Vorleser" von Bernhard Schlink.
"Wie lebt man im Schatten des größten Verbrechens der modernen Geschichte? Kann eine ganze Generation die unverzeihlichen Sünden ihrer Eltern verkraften? Oder sind manche Vermächtnisse einfach zu unfassbar und zu grauenhaft, um sie jemals zu ertragen?"
Diese Fragen leiten die Produktionsnotizen von Der Vorleser ein, dem neuen Film des Regisseurs Stephen Daldry (Billy Elliot, Von Ewigkeit zu Ewigkeit). Der Film, der auf dem Bestsellerroman des Jahres 1995 von Bernhard Schlink basiert, ist ein Versuch über die psychischen Nöte, denen ein Heranwachsender im Deutschland der Nach-Holocaust-Zeit ausgesetzt ist. Dies ist ein völlig legitimes und sogar begrüßenswertes Unterfangen, aber Der Vorleser ist seiner Aufgabe nicht gewachsen. Das Werk ist im Wesentlichen eine Konstruktion, die mit dem Begriff der deutschen Kollektivschuld für die Verbrechen des Faschismus kokettiert.
Der Film, der in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg spielt, wechselt zwischen drei verschiedenen Zeitrahmen. Das Anfangssegment setzt 1958 ein, als der fünfzehnjährige Michael (David Kross) erkrankt und sich vor der Wohnung der viel älteren Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz (Kate Winslet) übergibt. Bald entwickelt sich eine Affäre zwischen ihnen. Aus Michaels Besuchen wird ein Ritual, bei dem Hanna ihn, den sie "Kind" nennt, nicht übermäßig liebevoll badet und anschließend mit ihm schläft. Dann wieder gelingt es dem Jungen, der starke Zuneigung zu der älteren Frau entwickelt, ihr stoisches Äußeres zu durchbrechen, wenn er ihr auf ihre Bitte die Klassiker laut vorliest. Eines Tages verschwindet Hanna plötzlich.
Fast zehn Jahre später besucht Michael, jetzt Jurastudent, zusammen mit seinem Professor (Bruno Ganz) und seinen Kommilitonen einen Kriegsverbrecherprozess. Auf der Anklagebank sitzt Hanna, zusammen mit fünf weiteren Frauen mittleren Alters. Die Angeklagten, ehemalige KZ-Wärterinnen, stehen unter dem Verdacht, zugelassen zu haben, dass Hunderte ihrer weiblichen Gefangenen auf einem Todesmarsch nach einem Bombentreffer im Feuer starben. (Hier lassen sich im Aufbau des Filmes entfernt Anklänge an Tolstois Auferstehung erkennen.)
Hanna ist teilnahmslos und wirkt roboterhaft, als sie ihre Taten verteidigt. Sie legt wenig politisches Verständnis für ihre Entscheidung an den Tag, der SS beigetreten zu sein. Unterdessen debattieren die Jurastudenten über die Schuld der deutschen Bevölkerung ("Es gab Tausende solcher Lager, jeder wusste das."). Ein Geheimnis, das Hanna sorgfältig gehütet hat, wird Michael nun klar. Es aufzudecken, würde ihre lebenslängliche Haftstrafe verkürzen, aber er schweigt.
Jahrzehnte später nimmt ein von seinem Gewissen geplagter, emotional verkrüppelter Michael (Ralph Fiennes) Bücherlesungen auf Band auf und schickt sie Hanna. Mit Hilfe dieser Bänder und der Gefängnisbibliothek gewinnt diese an Menschlichkeit und wird sich dadurch der Tiefe und der Art ihrer Vergehen mehr und mehr bewusst.
Leider ist Der Vorleser ein gestelztes Drama. Trotz bester Produktionsbedingungen und der renommierten, begabten Darsteller geht der Film nie richtig aus sich heraus. Offenbar fürchten die Filmemacher, in Verdacht zu geraten, zu viel Sympathie für ein Naziweib zu zeigen, für eine Täterin, die zugleich auch Opfer ist. In Ermangelung der Fähigkeit, der Sache auf den Grund zu gehen, zwingt der Film seine Protagonisten, auf einer Nadelspitze zu tanzen, und laviert zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen. Winslet gibt ihr Bestes, aber Fiennes wirkt gequält und farblos.
Wichtiger ist, dass der Film teilweise künstlerisch ins Straucheln kommt, weil seine Akteure das Unmögliche versuchen, nämlich persönlich die Schuld für den deutschen Faschismus zu schultern. Der Versuch, die verschiedenen Rollen in diese Struktur hinein zu pressen, muss sie bis zur Unkenntlichkeit verbiegen.
Die Darsteller des Vorlesers sollen faktisch die grundlegende Prämisse des Films verkörpern, dass die Gesamtheit der individuellen deutschen Psychologien, die sich zu einem Zustand der nationalen Passivität und Blindheit aufsummieren, für die Ausrottung der Juden verantwortlich sei.
Kein Schauspieler brächte das zustande, denn dieses Vorhaben löscht einen komplizierten historischen Prozess aus. Es gab von 1918 bis 1923 mehrere Versuche einer Revolution in Deutschland, und darauf folgte die Degeneration der kommunistischen Massenpartei. Dieser Entwicklungsprozess hat besondere Persönlichkeiten hervorgebracht, was im Film völlig übergangen wird. Der Film ersetzt lebendige Menschen durch konstruierte, schemenhafte Gestalten, von denen erwartet wird, dass sie irgendwie "verhängnisvoll schuldbeladene Deutsche" verkörpern.
(Der Film ist in verschiedener Hinsicht unernsthaft. Ist’s möglich, dass Hanna vom Sprung von ihrer früheren Arbeit zur Nazi-Aufseherin im Vernichtungslager derart unbeeindruckt sein konnte, um sich dann wieder so offen für die Feinheiten der großen Literatur zu zeigen?)
Die Verantwortung für den Nationalsozialismus lag bei der deutschen herrschenden Klasse in ihrer Todeskrise und beim Versagen der offiziellen Arbeiterführung (Sozialdemokraten und Stalinisten). Letztere versäumte es, der Arbeiterklasse einen Ausweg aus der Krise aufzuzeigen. Eine geschlagene und demoralisierte Bevölkerung war am Ende für alle möglichen Verbrechen anfällig.
Natürlich ist jeder Mensch für seine Taten verantwortlich. Aber eine Diskussion über Kollektivschuld oder -unschuld hat außerhalb und unabhängig von einem allgemeinen Geschichtsverständnis wenig Wert.
Früher war die Auffassung weit verbreitet, dass der europäische Faschismus eine Antwort auf die Gefahr der sozialen Revolution darstellte, dass ein Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Nazismus existierte.
Solch ein Verständnis ist weitestgehend verloren gegangen, nicht nur bei Daldry & Co.
So entsprechen die grob geschnitzten Filmcharaktere der gegenwärtigen kulturellen Stagnation und - um es ganz klar zu sagen - der Unwissenheit in geschichtlichen Fragen. Der Künstler erreicht die Vergangenheit durch die Gegenwart. Eine oberflächliche, selbstzufriedene Einstellung zur Gegenwart führt zu einer ähnlichen Haltung gegenüber der Vergangenheit. Der Vorleser muss auf billiges Moralisieren zurückgreifen, denn man hat ihn der Möglichkeit beraubt, sein kompliziertes und schmerzliches Thema unverfälscht zu erfassen.
Filme wie Chaplins Der große Diktator und Viscontis Die Verdammten zeigten die Verbindung zwischen Faschismus und seinen mächtigen Förderern in der deutschen herrschenden Klasse auf. Sogar ein Film wie Lubitschs Sein oder Nichtsein, der von schwarzer Komik geprägt ist, oder bestimmte Szenen in Kramers Das Urteil von Nürnberg, dem Klassiker des offiziellen Liberalismus aus der Zeit des Kalten Kriegs, stellten den Faschismus überzeugend als Krieg der Reichen und Mächtigen gegen die Armen und Unterdrückten dar. Auch Spielbergs Schindlers Liste trug mindestens im ersten Teil zu einem ernsthaften Verständnis des Holocaust bei.
Der Mythos des Vorlesers, die deutsche Bevölkerung habe sich passiv dem faschistischen Regime gebeugt, wird durch einen ehrlichen Blick in die Geschichte zerstreut. So beschreibt der Historiker F.L. Carsten die Reaktion der Massen auf Hitlers Machtübernahme wie folgt:
"Zahllose Arbeiter reagierten, indem sie sich kleinen illegalen Gruppen anschlossen, illegale Flugblätter und Schriften verteilten und der offiziellen Propaganda so gut sie konnten entgegenwirkten. 1933 und 1934 entstanden überall in Deutschland kleinere oder größere illegale Gruppen - und oft wurden sie ebenso schnell, wie sie entstanden waren, von der Gestapo aufgerollt... Nach einer zuverlässigen Schätzung wurden zwischen 1933 und 1935 etwa 75.000 Mitglieder [der KPD] verhaftet und mehrere tausend hingerichtet oder ermordet - was etwa einem Viertel der Mitgliederzahl von 1932 entspricht." (Zitiert nach David North in "Antisemitismus, Faschismus und Holocaust: Eine kritische Besprechung des Buchs Hitlers willige Vollstrecker von Daniel Goldhagen", siehe Anmerkung)
North fährt fort: "Der Nazi-Terror schüchterte Millionen Deutsche ein. Große Teile der Arbeiterklasse, durch den schändlichen Zusammenbruch ihrer Organisationen niedergeschlagen und demoralisiert, verfielen in Apathie. Doch selbst angesichts der erbarmungslosen Brutalität der Nazis gab es unter den Arbeitern noch eine bedeutsame aktive Opposition gegen das Regime."
Letztlich war der Holocaust der Preis, der - nicht nur von den Juden, sondern von der gesamten Menschheit - dafür gezahlt wurde, dass die arbeitende Bevölkerung von ihren führenden Organisationen verraten wurde und den Kapitalismus nicht besiegen konnte.
Im Vorleser ist auch die Behandlung von Kultur und Bildung und dessen, was in den Produktionsnotizen "die enorme Kraft der Worte" genannt wird, schief dargestellt. Auch das sind berechtigte Themen, aber auch hier ist die Annäherung sehr unzulänglich.
Der Film deutet an, dass Hanna vielleicht nicht an den Verbrechen der Nazis teilgenommen hätte, wenn sie früher in ihrem Leben kultivierter gewesen wäre. Ob das nun stimmt oder nicht, jedenfalls war es definitiv nicht ein allgemeiner Mangel an Kultur bei den deutschen Massen, der zum Sieg des Faschismus beitrug. In Wirklichkeit war die Bevölkerung dieses Landes im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert im Vergleich mit der ganzen Welt besonders kultiviert. Die deutsche Gesellschaft hatte Bach, Mozart, Beethoven, Lessing, Schiller und Goethe hervorgebracht, ganz zu Schweigen von Kant, Hegel, Marx und Engels, und deren Einfluss war in der Bevölkerung spürbar.
Die Deutsche Sozialdemokratie organisierte für Arbeiter Lesungen, Konzerte und andere Kulturveranstaltungen. Das hielt letzten Endes den wachsenden Opportunismus der Organisation nicht auf.
Der Film trifft nicht ins Schwarze. Notwendig ist nicht individuelle Selbsterziehung als solche, sondern die kollektive Hebung des Massenbewusstseins hinsichtlich der sozialen Mechanismen und Einrichtungen, die ihr Leben beherrschen. Kunst und Kultur spielen eine wichtige Rolle in diesem allgemeinen Prozess sozialer Sensibilisierung. Wahre Kunst ist weit davon entfernt, nur ein Werkzeug für die Erweiterung des individuellen Horizonts zu sein, umso weniger zur Selbstzerfleischung. Sie ist zutiefst kritisch gegenüber der bestehenden Gesellschaftsordnung und ihrem menschenfeindlichen Charakter. Das macht ihre gestaltende Kraft aus. (In Billy Elliot argumentierte Daldry, Kultur sei das Mittel, durch das ein Einzelner der physischen und emotionalen Zerstörung einer Bergarbeitergemeinde in Yorkshire entkommen könne - aber nicht, um sie zu verstehen oder dagegen zu kämpfen.)
Der Vorleser ist der jüngste einer Reihe von Filmen über den Holocaust oder die Nazi-Ära. Ihre Schwäche veranlasste vor kurzem den Filmkritiker der [linksliberalen Zeitschrift] The Nation, Stuart Klawans, zu dem Kommentar: "Indem sie die Vergangenheit ständig wieder aufführen und umwerten und neu erfinden, beginnen diese Filme die Geschichte zu verschleiern, der zu gedenken sie behaupten."
Die Lösung besteht jedoch nicht in einem "Moratorium für Holocaustfilme", wie Klawans halb scherzhaft und "mit Verlaub" vorschlägt, sondern darin, tiefere, reichere und genauere Werke zu schaffen.
Anmerkungen:
1) Francis L. Carsten, "Widerstand gegen Hitler. Die deutschen Arbeiter und die Nazis", Frankfurt/ Main u. Leipzig, 1996, S. 262f
David North, "Antisemitismus, Faschismus und Holocaust: Eine kritische Besprechung des Buchs 'Hitlers willige Vollstrecker' von Daniel Goldhagen", Arbeiterpresse Verlag, 1997