Die Zahl der Toten in Gaza hat mittlerweile die Tausend erreicht. Fast 4.500 Menschen wurden verwundet, davon etwa die Hälfte Zivilisten. Jetzt steht die israelische Armee kurz davor, in die am dichtesten besiedelten Stadtviertel von Gaza-Stadt einzudringen.
Reporter von Al Dschasira, dem einzigen internationalen Sender, der aus Gaza berichtet, meldeten am Dienstag den Ausbruch heftiger Kämpfe in Tal al-Hawa im Süden von Gaza-Stadt. Zusammenstöße gab es auch in Beit Lahiya im Norden und in Khan Younis im Osten. Die städtischen Elendsgebiete sind von israelischen Panzern abgeriegelt, Kriegsschiffe kreuzen vor der Küste, und F-16 Bomber werfen weiter ihre tödliche Fracht ab.
Israel hat die Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen, an der Grenze zu Ägypten, heftig bombardiert, um die Tunnelsysteme zu zerstören, durch die die palästinensische Bevölkerung angesichts der israelischen Wirtschaftsblockade mit dem Nötigsten versorgt wurde. Dabei wurden so genannte Bunker brechende Bomben aus den USA eingesetzt.
Zehntausende Palästinenser mussten aus der Stadt fliehen, und jetzt werden ihre Häuser von Panzerfahrzeugen und Bulldozern zerstört.
"Ein großer Teil von Rafah ist nur noch ein einziger Trümmerhaufen... Einige Augenzeugen, mit denen wir gesprochen haben, bezeichnen den Ort als die Hölle auf Erden", berichtete Ayman Mohyeldin, ein Al Dschasira-Korrespondent in Gaza.
Amira Hass, Reporterin der israelischen Tageszeitung Haaretz, berichtete derweil, dass eine größere Anzahl Palästinenser in ländlichen Gebieten des Gazastreifens in ihren Häusern festsitzen. Sie sind von israelischen Truppen umzingelt, die dort Stellung bezogen haben. "Die Truppen, die das Gebiet umzingeln, schießen auf jeden, der zu entkommen versucht", berichtet sie. Den Eingeschlossenen, darunter Verwundete, Kranke und Alte, gingen Lebensmittel, Wasser und Medikamente aus.
Als die Luftangriffe am Dienstagabend stärker wurden, fielen zwei palästinensische Kinder in ihrem Haus in der Stadt Jabaliya, im Norden des Gazastreifens, einer Bombe zum Opfer.
Ein hoher israelischer Militärsprecher sagte der Londoner Times : "Die israelischen Truppen hatten den Befehl, in den letzten 24 Stunden mit voller Kraft anzugreifen." Israelische Reservisten strömten in den Gazastreifen, um schon besetzte Gebiete zu übernehmen und reguläre Kräfte für die intensiveren Kämpfe freizusetzen.
Die so genannte "dritte Phase" des israelischen Angriffs stehe nun unmittelbar bevor, schrieb der bekannte israelische Kommentator Alex Fishman von der Zeitung Yedioth Ahronoth. "Die Armee wird jetzt mit starken Kräften, mit Zehntausenden Soldaten, in die Kerngebiete der palästinensischen Bevölkerung des Gazastreifens eindringen", schrieb er am Montag. "Es wird nicht mehr nur Bodenkämpfe am Rande und Zerstörung aus der Luft geben. Jetzt reden wir über gepanzerte Divisionen, die auf ihrem Weg in die Flüchtlingslager und das Herz einer der am dichtesten besiedelten Städte der Erde keinen Stein auf dem anderen lassen."
Mit anderen Worten: Das schlimmste Blutvergießen steht erst noch bevor.
Weltweit wird die israelische Offensive immer stärker verurteilt. Am Montag nahm der UN-Menschenrechtsrat (UNHRC) eine Resolution an, in der Israel schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, und forderte die Einsetzung einer Kommission, die die Lage vor Ort untersuchen soll. Die Resolution wurde mit 33 zu einer Stimme angenommen, bei dreizehn Enthaltungen westlicher Länder.
Der UN-Ausschuss für Kinderrechte warnte in einer Erklärung vom Dienstag vor den schlimmen Auswirkungen, die der seit achtzehn Tagen dauernde israelische Angriff auf Gaza vor allem für die Kinder haben werde. Nach Angaben von Ärzten sind bisher 311 Kinder getötet worden.
In der Erklärung dieses UN-Gremiums heißt es: "Auch die humanitäre Hilfe erreicht die Kinder oft nur schwer. Die emotionalen und psychologischen Auswirkungen dieser Ereignisse auf eine ganze Generation von Kindern werden schwerwiegend sein." Der Ausschuss fordert Israel auf, seine Verletzungen internationalen Rechts zu stoppen. Vor allem müsse es aufhören, "bei bewaffneten Konflikten auf Kinder zu zielen und Ziele, die von internationalem Recht geschützt sind, wie zum Beispiel Gebäude wie Schulen und Krankenhäuser, in denen eine signifikante Anwesenheit von Kindern zu erwarten ist, direkt anzugreifen".
Christer Zettergren, Generalsekretär des schwedischen Roten Kreuzes, klagte am Dienstag die israelische Armee an, sie habe in der vergangenen Woche sieben Krankenwagen des Roten Halbmondes in Gaza angegriffen. Das Rote Kreuz enthält sich normalerweise offen kritischer Äußerungen über die Beteiligten an einem bewaffneten Konflikt. Zettergren behauptete sogar, die Beschießung der medizinischen Notfallmannschaften sei "mit voller Absicht" geschehen.
Der Chef des Hilfsprogramms der Europäischen Union verurteilte Israel am Dienstag für die Verletzung internationalen Rechts und für den Einsatz "völlig unverhältnismäßiger" Gewalt beim Angriff auf Gaza.
"Anerkannte Experten auf diesem Gebiet bestätigen und verurteilen, dass Israel die internationalen Menschenrechte nicht respektiert", erklärte der EU-Kommissar für internationale Hilfe, Louis Michel, gegenüber der belgischen Zeitung La Libre Belgique. "Die erste Verpflichtung einer Besatzungsmacht besteht darin, das Leben der Bevölkerung zu schützen, die Ernährung sicher zu stellen und für sie zu sorgen. Das ist hier ganz offensichtlich nicht der Fall... Das kann ich nicht akzeptieren."
Israelische Sprecher geben sich von solcher Kritik unbeeindruckt. Israel kann seine mörderische Operation gegen Gaza vor allem deswegen ziemlich ungestört und ungestraft durchziehen, weil es die offene Unterstützung Washingtons hat und die europäischen Mächte still halten.
Der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert kündigte an, die Schläge gegen Gaza würden "mit eiserner Faust" geführt.
"Wir werden solange weitermachen, wie nötig, um diese Bedrohung auszumerzen", sagte er am Montag. "Wir können uns keine Weichheit erlauben. Es geht darum: Wir oder sie... Wir werden weiter mit aller Macht, mit aller Kraft zuschlagen, bis Ruhe ist."
Der israelische Kommandeur General Gabi Aschkenasi sagte vor dem Außen- und Verteidigungsauschuss der Knesset, Israel habe der Hamas in Gaza schweren Schaden zugefügt, aber: "Wir haben noch ein Stück des Weges vor uns."
Der israelische Regierungssprecher Mark Regew beteuerte, die Hamas erleide "schwere Schläge", und Israel "nähere sich dem Endkampf".
Was das Ziel dieses "Endkampfs" eigentlich ist, ist nicht so klar. Genau dieser Mangel an Klarheit der strategischen Ziele in Gaza führt bei den anfänglichen Sympathisanten des israelischen Vorgehens zu wachsender Unruhe.
So schrieb Anthony Cordesman vom Zentrum für strategische und internationale Studien am 9. Januar. "Die wachsende humanitäre Tragödie in Gaza wirft immer ernstere Fragen auf, ob die taktischen Vorteile, die Israel sich gerade sichert, wirklich ein solches Elend rechtfertigen."
Die massiven Zerstörungen und die humanitäre Katastrophe, die angerichtet werde, "wird für die 1,5 Millionen Menschen, die den aktuellen Konflikt überleben werden, das Leben enorm verschlimmern". Er wies auch auf die wachsende Entrüstung in der arabischen und muslimischen Welt über Israel und die USA hin und fuhr fort:
"Das wirft die Frage auf, die sich Israel und alle seine Freunde stellen müssen. Was ist das strategische Ziel dieser Kämpfe?... Ist Israel in einen Krieg gestolpert, der sich ständig ausweitet, ohne ein klares strategisches Ziel zu haben oder zumindest eines, das realistischerweise erreicht werden kann? Wird Israel im Endeffekt seinen Feind strategisch stärken, den es in taktischer Hinsicht vielleicht besiegt hat? Wird Israels Vorgehen die US-Position in der Region und jede Hoffnung auf Frieden ernsthaft beschädigen, und die moderaten arabischen Regimes und Stimmen gleich dazu? Um offen zu sprechen: Im Moment sieht es so aus, als laute die Antwort: Ja.
... Falls Israel einen realistischen Waffenstillstandsplan hat, der Gaza wirklich befrieden könnte, dann ist er jedenfalls nicht ersichtlich. Wenn Israel einen Plan haben sollte, wie es die Hamas wirkungsvoll vernichten und ersetzen kann, dann ist er nicht ersichtlich. Wenn Israel einen Plan haben sollte, wie es den Bewohnern von Gaza helfen und sie auf den Weg des Friedens zurückbringen könnte, dann ist er nicht ersichtlich. Wenn Israel einen Plan haben sollte, den Einfluss der USA oder anderer Freunde produktiv zu nutzen, dann ist auch das nicht ersichtlich."
Cordesman schließt mit den Worten, die israelische Führung habe "Schande über sich gebracht und ihr Land und ihre Freunde beschädigt".
Mit der Fortsetzung und Verschärfung des Massakers in Gaza wird immer klarer, dass das Ziel der militärischen Operationen Israels nicht darin besteht, die überwiegend harmlosen Raketenangriffe der Hamas zu beenden, die sowieso weitergehen. Auch hat Israel, wie Cordesman deutlich machte, keine klare oder realistische politische Strategie für eine Veränderung des politischen Status Quo in der Region.
Stattdessen herrscht die irrationale Vorstellung vor, die von führenden Elementen im politischen Establishment der USA geteilt wird, dass das Töten und Verwunden Tausender palästinensischer Zivilisten irgendwie die Bevölkerung gegen die Hamas aufbringen und größere Unterstützung für ein pro-israelisches Regime in den besetzten Gebieten schaffen werde.
In Washington wird das noch durch die ideologische These ergänzt, dass Israel mit seinem Angriff auf die Hamas einen Krieg gegen "Extremismus" und "Terrorismus" und gegen den Einfluss des Iran führe, und dass dadurch "Gemäßigte" gestärkt und US-Interessen gefördert würden. In Wirklichkeit hat der Krieg die Bevölkerung des ganzen Nahen Ostens mit gewaltigem Hass nicht nur auf Israel, sondern noch stärker auf die so genannt "gemäßigten" Regimes erfüllt. Diese "Gemäßigten" sind die angestaubten Polizeistaaten und königlichen Familien, die der US-Imperialismus in der Region aushält.
In der israelischen Presse wird auch häufig die Idee kolportiert, der Krieg in Gaza werde das Ansehen der Armee wieder aufmöbeln, das nach der demütigenden Niederlage im Südlibanon im Jahre 2006 auf einen Tiefpunkt gesunken war. Nach dieser Logik beweist die Entfesselung massiver militärischer Gewalt gegen die weitgehend wehrlose und eingesperrte Bevölkerung des Gaza die militärische Kraft Israels gegen jeden potentiellen Feind.
All diese Argumente verraten eine erstaunliche Irrationalität und moralische Degeneration, die zurzeit die politische Atmosphäre in Israel durchdringt.
Das nimmt immer krankhaftere und gefährlichere Formen an, die sich nicht nur im Gaza, sondern auch in Israel selbst auswirken.
Aus diesem Grund beschloss das israelische Wahlkomitee am Montag, gerade als die israelische Armee den Befehl zur drastischen Verschärfung des Angriffes auf Gaza erhielt, zwei arabische Parteien von den Wahlen am 12. Februar auszuschließen. Diese Parteien sind die Vereinigte Arabische Liste und die Balad-Partei. Beide Parteien sind bisher in der Knesset vertreten und werden von den palästinensischen Einwohnern Israels unterstützt.
Beide Parteien wurden jetzt als ungeeignet für öffentliche Funktionen eingestuft, da sie angeblich das Verbot in der israelischen Verfassung, das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen, verletzt hätten. Als Begründung für diesen Vorwurf diente die Teilnahme der Führungen dieser Parteien an Massendemonstrationen von Palästinensern in Israel gegen den Gaza-Krieg.
Als die extrem rechten Parteien Beitenu und die National Union vorschlugen, diese Parteien auszuschließen, stimmten Kadima und Labor, die Parteien der Regierungskoalition, ihnen zu. Beitenu und die National Union treten beide dafür ein, die arabischen Bewohner Israels auszubürgern, entweder durch eine Verlegung der Landesgrenzen, oder durch den so genannten "Transfer" von Palästinensern in das besetzte Westjordanland.
Ironischerweise ist die letzte Partei, gegen die ein solcher Ausschluss von den Wahlen verfügt wurde, die Kach-Partei des rechtsextremen Rabbi Meir Kahane. Der Grund war, dass seine Befürwortung eines "Transfers" israelischer Palästinenser als rassistisch eingeschätzt wurde. Zwanzig Prozent der Bevölkerung Israels sind Palästinenser. Heute wird genau diese Politik Kahanes in der einen oder anderen Art und Weise von weiten Teilen der politischen Führungsschicht Israels vertreten.
Der Vorsitzende von Beitenu, Avigdor Liebermann, der den Kampf für den Ausschluss der zwei Parteien anführte, hielt am Dienstag eine Rede in der Bar-Ilan Universität, wo er durchblicken ließ, die Lösung der Probleme Israels läge in einem Nuklearschlag.
"Wir müssen genauso gegen die Hamas weiterkämpfen, wie die Vereinigten Staaten gegen die Japaner im Zweiten Weltkrieg", sagte er. "Auch damals erübrigte sich die Besetzung des Landes." Japan ergab sich im Jahr 1945 nach den Abwürfen von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.
Obwohl laut Medienberichten der Krieg in Israel große öffentliche Unterstützung genießt, tritt die verfahrene Situation des ganzen zionistischen Projekts immer deutlicher zutage. Vor allem fällt der scharfe Rechtsschwenk des gesamten politischen Establishments auf, sowie die Einschüchterung und Demoralisierung jener Elemente, die früher israelische Aggressionen kritisierten.
In diesem Umfeld kommen auch wachsende Verstörung und Opposition zum Ausdruck.
"Israel hat sich das Ansehen eines Irrsinnigen geschaffen, der die Kontrolle über sich verloren hat", kommentierte der Reporter Yossi Melman von Haaretz.
Die israelischen Journalisten Etgar Keret und Shira Geffen verfassten in einem Artikel mit der Überschrift "Um der Kinder Willen" ein leidenschaftliches Plädoyer für die Einstellung der Militäroperationen der israelischen Armee, die die Kinder von Gaza umbringt.
Die beiden schrieben: "Es ist erst ein paar Jahre her, dass jeder chirurgisch geführte Militärschlag, bei dem Nachbarn getötet wurden, eine öffentliche Debatte auslöste. In den vergangenen Wochen sind bei Schlägen der Luftwaffe hunderte Zivilisten umgekommen, und es gab nicht einen Anflug von Verunsicherung. Wie es scheint, bewegt sich der allgemeine Konsens allmählich in eine Richtung, die es uns relativ leicht macht, all das zu akzeptieren, was uns vor ein paar Jahren noch unverdaulich war. Die große Frage lautet, warum: Ist die Bedrohung unserer Existenz derart angewachsen, oder sind wir frustrierter und gleichgültiger geworden?"
Dem explosiven Ausbruch des israelischen Militarismus in Gaza liegen tief greifende Widersprüche sozialer, wirtschaftlicher, politischer und demographischer Art zu Grunde, die die israelische Gesellschaft selbst zu sprengen drohen. Letztendlich kann die Lösung der derzeitigen Krise nur in der Entfaltung des Klassenkampfs und in der Vereinigung der israelischen und palästinensischen Arbeiterklasse auf der Grundlage einer gemeinsamen sozialistischen Perspektive gefunden werden.