Türkisches Gericht begründet Urteil zum Kopftuchverbot

Die lange erwartete Begründung für die Aufhebung zweier Verfassungsänderungen durch das türkische Verfassungsgericht ist am 22. Oktober im Staatsanzeiger veröffentlicht worden. Im letzten Juni hatte das Gericht den Artikel 10 - für Gleichheit vor dem Gesetz - und den Artikel 42 - für das Recht auf Lernen und Bildung - annulliert, die es Studentinnen erlaubt hätten, das muslimische Kopftuch an Universitäten zu tragen.

Das Gericht hatte am 5. Juni entschieden, das türkische Parlament habe durch die Verabschiedung diese beiden Verfassungsänderungen das Prinzip des Säkularismus verletzt. Neun von elf Mitgliedern des Gerichts sprachen sich für die Aufhebung der Verfassungsänderungen aus und begründeten dies damit, dass sie eine unmittelbare Gefahr für den laizistischen Charakter der Türkei darstellten, der laut Verfassung unantastbar sei.

Zwar war das Kopftuch nicht ausdrücklich in den Verfassungsänderungen erwähnt worden, die von der überwiegenden Mehrheit des Parlamentes am 29. Januar angenommen worden waren. Dennoch war für alle Beteiligten klar, dass sie das Ziel verfolgten, das Kopftuchverbot an Universitäten aufzuheben.

Präsident Abdullah Gül, der zu den führenden islamistischen Persönlichkeiten der Türkei gehört, bestätigte die Verfassungsänderungen am 22. Februar, nachdem sich gezeigt hatte, dass die kemalistisch-nationalistische Minderheit im Parlament zu keinem Kompromiss bereit war.

Kurz darauf gingen zwei kemalistisch-nationalistische Oppositionsparteien, die sich als sozialdemokratisch bezeichnen - die CHP (republikanische Volkspartei) und die DSP (demokratische Linkspartei) - vor das Verfassungsgericht und verlangten die Rücknahme der Verfassungsänderungen.

Das Verfassungsgericht brauchte dreieinhalb Monate, um die Begründung für seine höchst kontroverse Entscheidung auszuarbeiten, die auch im Verbotsverfahren des türkischen Generalstaatsanwalts gegen die regierende islamistische AKP (Justiz- und Entwicklungspartei) eine wichtige Rolle spielte.

In dem 20 Seiten langen Dokument haben neun der elf Mitglieder des Gerichts ihre Entscheidung damit begründet, dass die Verfassungsänderung einen politischen und religiösen Bezug habe und die soziale Polarisierung verstärken werde.

Am 23. Oktober zitierte Today´s Zaman folgende Passage aus der Begründung: "Diese Regelung über die Verhüllung des Körpers aus religiösen Gründen könnte Druck auf Gläubige und Ungläubige, auf Kopftuchträger und Nicht-Kopftuchträger ausüben, wenn diese Kleidungsstücke als politisches Symbol gebraucht werden. Personen könnten sich verpflichtet fühlen, das Kopftuch zu tragen, was gegen die Gewissensfreiheit verstößt. In einer Staatsordnung einer souveränen Nation kann es keinen Raum für den göttlichen Willen auf religiöser Grundlage geben."

In dem Dokument heißt es weiter: "In der modernen Rechtsordnung gründet sich die Souveränität auf das menschliche Leben. Veränderungen rechtlicher Regelungen sind weltliche Angelegenheiten, keine religiösen Angelegenheiten. Es ist unakzeptabel, Freiheiten zu benutzen um Freiheiten einzuschränken. Eine Freiheit, die dem Laizismus widerspricht, kann nicht aufrechterhalten und verteidigt werden. Das Kopftuch ist nicht mit dem laizistischen Wissenschaftsumfeld vereinbar."

Die Begründung des Gerichts nahm auch auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom November 2005 bezug, die das Kopftuchverbot nicht in Frage stellt und die verfassungsmäßige Beschränkung des muslimischen Kopftuches für rechtmäßig hält. Es war eine entscheidende Erfahrung für die Führung der AKP, die unmittelbar nach diesem Gerichtsurteil ihren Enthusiasmus für die Europäische Union verlor. Nachdem sie sich lange Zeit geweigert hatten, dies öffentlich einzugestehen, gestehen AKP-Führer nun ihre Ernüchterung über die EU freimütig ein.

So meinte zum Beispiel der der AKP angehörende Präsident Abdullah Gül gegenüber dem Spiegel, die Türkei habe keine Eile, Mitglied der EU zu werden. Diese Vorbehalte zeigen, dass die Demokratisierungsbemühungen, mit denen die AKP zwischen 2002 und 2005 versuchte, die Mitgliedschaft in der EU zu erlangen, vor allem ein taktischer Zug der Partei waren, um das muslimische Kopftuch zu legalisieren. Sie wollten die legalen Hindernisse umgehen, die das kemalistische Establishment errichtet hatte.

Es gibt auch weitere Gründe, die Haltung der AKP gegenüber Grundrechten und Freiheiten zu hinterfragen. Dass sie der Kopftuchfrage Priorität gegenüber allen anderen Rechts- und Freiheitsfragen sowie zahlreichen sozialen Missständen einräumt, bestätigt ihre scheinheilige Haltung gegenüber Rechtsfragen.

Die Liste der Verstöße der AKP gegen die Grundrechte ist groß und nimmt ständig zu. Neben der Verfolgung der kurdischen Minderheit in der Türkei hat der Staat zahlreiche repressive Maßnahmen gegen Atheisten, Homosexuelle und ihre Organisationen sowie gegen Flüchtlinge ergriffen, die unter Zwangsabschiebung und Misshandlungen zu leiden haben. Gleichzeitig schlugen die Polizei und paramilitärische Einheiten mit maßloser Gewalt auf friedliche Demonstranten ein. Auch hält die Regierung die gesetzlichen Einschränkungen von Gewerkschaften und Arbeiterrechten aufrecht. Sie hat außerdem schwerwiegende Beschränkungen der friedlichen Meinungsäußerung verordnet und willkürliche Verhaftungen durchgeführt.

Kürzlich bezeichnete Premierminister Recep Tayyip Erdogan (AKP) die kurdische nationalistische Partei DTP (Demokratische Partei) als Unterstützerin des Terrorismus. Diese Bemerkung, die bekannt wurde, als das Verfassungsgericht seine Entscheidung zum Verbot der AKP fällte, zeigt, dass die Partei die Kurdenfrage vorwiegend als terroristisches Problem ansieht, und nicht als eine Frage der Grundrechte oder des Rechts auf Freiheit.

Erdogans oft zitierte und berüchtigte Äußerung "Demokratie ist ein Zug, aus dem du aussteigst, wenn du die gewünschte Station erreicht hast", offenbart die wirkliche Einstellung des Regierungschefs und seiner Partei zu demokratischen Grundrechten. Letztlich reflektiert dieser Standpunkt den wesentlichen Klassencharakter der AKP als politische Vertretung eines bestimmten Flügels der türkischen Bourgeoisie, des islamistischen Großkapitals.

Auch wenn die World Socialist Web Site die Ziele der AKP und der islamistischen Bewegung insgesamt ablehnt, betrachtet sie das Kopftuchverbot in Universitäten als eine Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit sowie anderer Grundrechte, einschließlich des Rechts auf Bildung, freie Meinungsäußerung und auf die Privatsphäre des Einzelnen. Es ist nicht akzeptabel und unmenschlich, junge Frauen vor die Entscheidung zu stellen, zwischen ihrem Glauben und Ausbildungschancen zu wählen.

Die Entscheidung des Gerichts hatte bereits schlimme Auswirkungen für Studentinnen, die ein muslimisches Kopftuch aus Gewissensgründen und als einen Ausdruck ihres Glaubens tragen möchten. Mit anderen Worten, es handelt sich um ein Verbot des Rechts, seine Religion zu praktizieren. Da diese antidemokratische Beschränkung sich nur auf Frauen bezieht, ist sie auch eindeutig diskriminierend.

Anders als das Verfassungsgericht behauptet, stützt sich die kemalistische Version des so genannten Säkularismus auf eine institutionalisierte, vom Staat interpretierte und kontrollierte Version des Islam. Die türkische Religionsbehörde wurde 1924 gegründet und hat die Aufsicht über 80.000 türkische Moscheen und Tausende von Koranschulen. Sie ernennt Imame und konzipiert Predigten zum Freitagsgebet. Sie steht in offenkundigem Widerspruch zu der in der Verfassung postulierten Trennung von Staat und Religion - der Verbannung der Religion aus dem politischen Bereich. Diese kemalistische Version des Säkularismus, auf die sich die Mehrheit der Mitglieder des Verfassungsgerichtes beruft, hat den Weg für die Politisierung des Islam in der Türkei während des gesamten 20igsten Jahrhundert geebnet.

Da sie einen einflussreichen Teil des kemalistischen Lagers repräsentiert, glaubt die Mehrheit des Gerichtes, eine Entschärfung des Verbotes werde immer mehr junge Frauen zwingen, ein Kopftuch zu tragen und sich islamisch zu verhalten.

Diese Auffassung ignoriert die sozialen Fragen, die hinter dem Konflikt stehen. Die aussichtslose Lage in den Slumvorstädten rund um die türkischen Großstädte - in Verbindung mit der Rolle der Gewerkschaften, der Sozialdemokraten und der Stalinisten, die Millionen Menschen im Stich gelassen haben - hat einen Teil der Jugend in die Arme des politischen Islam getrieben. Sie betrachten ihn fälschlicherweise als eine radikale Alternative zum existierenden System.

Anders als das Verfassungsgericht behauptet, wird eine solche diskriminierende Gesetzgebung "eine weitere Polarisierung der Gesellschaft" nicht verhindern, sondern verschärfen. Religiöse Rückständigkeit und Reaktion können nur im Kampf für sozialistische Gleichheit überwunden werden, die sich auf ein echtes internationalistisches Programm für die Arbeiterklasse stützt.

Siehe auch:
Verfassungsgericht lehnt Verbot von türkischer Regierungspartei AKP ab
(2. August 2008)
Verhaftungen wegen Putschplänen verschärfen politische Krise
( 9. Juli 2008)
Verfassungsgericht der Türkei führt Kopftuchverbot an Universitäten wieder ein
( 19. Juni 2008)
Generalstaatsanwalt will regierende AKP verbieten
( 4. April 2008)
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