Trotz starkem Druck einiger osteuropäischer Länder, die von westeuropäischen Mächten wie Großbritannien und Schweden unterstützt wurden, verzichtete das EU-Außenministertreffen am Mittwoch in Brüssel auf jede Kritik an Russland.
Das EU-Treffen war gegen einen offenen Konflikt mit Russland und entschied, keine Truppen in die Region zu entsenden. Stattdessen folgte die Mehrheit der Außenminister dem Vorschlag Deutschlands, die Zahl der OSZE-Beobachter in Georgien von 100 auf 300 zu erhöhen und die humanitäre Hilfe zu verstärken.
Die Haltung gegenüber Russland und die von der Mehrheit der Minister in Brüssel beschlossenen begrenzten Maßnahmen stehen in starkem Kontrast zum Säbelrasseln der amerikanischen Regierung. Diese weist Russland in den fünftägigen heftigen Kämpfen zwischen georgischen und russischen Truppen die Rolle des Aggressors zu. Unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe schickt die Bush-Regierung selbst Truppen in die Region.
Der Ton, den Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und sein französischer Kollege Bernard Kouchner in der Vorbereitung des Treffens anschlugen, unterschied sich deutlich von der anti-russischen Propaganda, die aus dem Weißen Haus drang und von den engsten Partnern Amerikas in Europa aufgenommen wurde.
Vor dem Brüsseler Treffen machte Steinmeier unmissverständlich klar, dass er gegen eine einseitige Verurteilung Russlands sei. "Ich halte nichts davon, dass wir uns heute in sehr langen Diskussionen über Verantwortung und Urheberschaft der Eskalation der letzten Tage verlieren", sagte er: Die EU müsse sich fragen, welche Rolle sie in Zukunft spielen wolle, etwa bei der Absicherung des Waffenstillstands und der weiteren Stabilisierung.
Steinmeiers Position wurde bei dem EU-Treffen von Frankreich, Italien und Finnland unterstützt. Der finnische Außenminister Alexander Stubb, dessen Land gegenwärtig die Präsidentschaft der OSZE innehat, fasste die Position der Mehrheit der Außenminister mit den Worten zusammen: "Die Schuldzuweisung und die harten Worte werden später kommen."
Nach dem Treffen betonte Steinmeier erneut, dass "Stabilität im Kaukasus" nur in Zusammenarbeit mit Russland zu erreichen sei.
Steinmeiers Haltung hat auch die offizielle Unterstützung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Am Donnerstag sagte ihr Sprecher Thomas Steg zu der Frage, wie Deutschland auf Russlands Rolle in dem Konflikt reagiere, es sei wichtig, nicht "überzureagieren". Er sagte, die Kanzlerin sehe ihrem Besuch beim russischen Präsidenten Medwedew am Freitag im Schwarzmeerbadeort Sotschi "mit Optimismus" entgegen.
Der Konsens auf dem EU-Treffen für eine versöhnliche Politik gegenüber Russland kam zustande, nachdem mehrere der engsten Verbündeten der USA in Europa mehrere Tage lang entschlossen die Rolle Russlands in dem Konflikt verurteilt hatten. Einige osteuropäische Länder forderten sogar Sanktionen gegen Russland. Die anti-russische Propagandaoffensive begann Anfang der Woche, als das Waffenstillstandsabkommen bekannt gegeben wurde
Das Waffenstillstandsabkommen war vom französischen Präsidenten Nicholas Sarkozy und seinem Außenminister Kouchner vermittelt worden. Am Dienstag schüttelte der russische Präsident Medwedew Sarkozy die Hand und erklärte seine Zufriedenheit mit dem Abkommen, das eine Rückkehr zum Status Quo zwischen Russland und Georgien vorsieht, wie er vor der georgischen Intervention in Südossetien am 7. August herrschte.
Nach dem Treffen ließ der russische Außenminister Sergei Lawrow durchblicken, die russische Regierung werde das Abkommen respektieren, aber solange nicht direkt mit Georgien verhandeln, wie Präsident Michael Saakaschwili im Amt sei.
Das Moskauer Abkommen wurde sofort vom georgischen Präsidenten kritisiert. Er wandte sich gegen den Punkt sechs, der besagt, dass der künftige Status der Provinzen Südossetien und Abchasien in internationalen Verhandlungen geklärt werden solle. Saakaschwili bekräftigte den Anspruch Georgiens auf die Provinzen und wies jede internationale Einmischung zurück.
Um ihre Solidarität mit dem georgischen Präsidenten zu demonstrieren, reisten die Präsidenten der EU-Mitgliedsstaaten Polen, Estland, Lettland und Litauen am Dienstag nach Tiflis, wo der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko bereits eingetroffen war. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 haben alle diese Länder enge Beziehungen zu Washington aufgenommen. Die konzertierte Aktion zur Unterstützung Saakaschwilis war ein klares Signal der Solidarität mit der Bush-Regierung.
Auf einer Kundgebung am Dienstag in Tiflis unterstützte der polnische Präsident Lech Kaczynski den Appell des georgischen Präsidenten, eine gemeinsame Front gegen Russland zu bilden. Er erklärte: "Wir sind hier, um den Kampf aufzunehmen." Kaczynski rief der Menge zu: "Unser Nachbar im Osten zeigt zum ersten Mal seit längerem wieder das Gesicht, das wir seit Jahrhunderten kennen. Dieser Nachbar meint, dass die Länder in seiner Nachbarschaft sich ihm unterordnen sollen. Wir sagen Nein!"
Am nächsten Tag forderten die gleichen Länder die NATO auf, Georgien aufzunehmen. In einer vom litauischen Präsidenten Valdas Adamkus verlesenen Erklärung hieß es: "Die einzige Option, um solche Aggressionsakte und die Besetzung Georgiens in Zukunft zu verhindern, besteht darin, Georgien in den NATO Mitgliedschaftsaktionsplan (MAP) aufzunehmen."
Der britische Außenminister David Miliband unterstützte den Standpunkt, der in Russland den Aggressor sieht. Er erklärte auf dem EU-Treffen in Brüssel, die Europäische Union solle ihre Haltung gegenüber Russland nach dessen "aggressivem" Vorgehen in Georgien überprüfen.
Im BBC-Hörfunk verfiel auch Miliband in die Rhetorik des Kalten Kriegs und sagte: "Der Anblick russischer Panzer, die in Teile eines Nachbarlandes einmarschieren, hat vielen einen kalten Schauer den Rücken heruntergejagt". Auf diese Weise könnten internationale Beziehungen im 21. Jahrhundert nicht betrieben werden, sagte er.
Kurz vor dem Treffen in Brüssel meldete sich NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer zu Wort und unterstützte indirekt die pro-georgische Lobby unter den europäischen Staaten. Am Dienstag forderte de Hoop Scheffer Russland auf, die Souveränität Georgiens zu respektieren, und betonte, die NATO werde Georgien "eines Tages" als Mitglied aufnehmen.
Die Mehrheit der westeuropäischen Mächte, mit Großbritannien als prominentester Ausnahme, wies jedoch den Konfrontationskurs der US-Administration zurück und bestimmte das Ergebnis der Außenministerkonferenz. Der Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Georgien und Russland hat erneut die tiefen Spannungen zwischen Europa und den USA an die Oberfläche gebracht, die schon beim Ausbruch des Irakkriegs offenbar wurden.
Die Tatsache, dass mehrere europäische Kernländer entschlossen sind, selbst auf Kosten einer Verschlechterung ihrer Beziehungen mit Washington gute Arbeitsbeziehungen mit Russland aufrecht zu erhalten, weist darauf hin, dass es hier um fundamentale ökonomische und geopolitische Interessen geht.
Ökonomisch gesprochen hängt Europa stark von russischem Öl und Gas ab. Russland wird außerdem als Absatzmarkt für europäische und besonders deutsche Waren immer wichtiger. Die deutschen Exporte nach Russland sind im ersten Halbjahr 2008 um mehr als 50 Prozent auf 19,4 Milliarden Euro gewachsen. Der Ökonom Christian Dreger vom Deutschen Wirtschaftsforschungsinstitut in Berlin schreibt: "Russland macht eine sehr starke Wirtschaftsentwicklung durch. Es hilft schwächeres Wachstum in anderen Regionen auszugleichen."
Für die europäischen Autoproduzenten Daimler, Renault und Fiat und vergleichbare Firmen hat sich Russland zu einem zunehmend wichtigen Markt entwickelt, während gleichzeitig die Verkäufe in der EU selbst wegen des Wirtschaftsabschwungs nachlassen.
Allgemein gesprochen, wird das aggressive Vorgehen der USA im Kaukasus und auf dem Balkan als Bedrohung der europäischen Interessen in der Region wahrgenommen.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schauten die westeuropäischen Länder lange zu, als die USA versuchten, ihren schwindenden wirtschaftlichen Einfluss durch massive Verstärkung ihrer Militärpräsenz in den Satellitenstaaten der ehemaligen Sowjetunion zu verstärken. Nach den katastrophalen Kriegen im Irak und in Afghanistan sehen politische Kreise in Westeuropa die USA inzwischen als wichtigste Quelle von Instabilität und Spaltung auf dem Kontinent.
Der Plan der USA, ein Raketenabwehrsystem in Polen und der tschechischen Republik aufzustellen, hat Russland in Rage versetzt und droht Europa in ein potentielles atomares Schlachtfeld zwischen Washington und Moskau zu verwandeln. Schon 2006 warnte die rechte Konrad-Adenauer-Stiftung in Deutschland, die USA zielten darauf ab, "weitere pro-amerikanisch orientierte Länder in das Bündnis zu bringen", um dort die eigene Dominanz auszudehnen.
Auf dem NATO-Gipfel im April in Bukarest traf Präsident Bush auf den vereinten Widerstand Europas unter Führung Deutschlands gegen seinen Plan für die schnelle Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO. Erst ein Kompromiss in letzter Minute, die Entscheidung über die NATO-Mitgliedschaft der beiden Länder auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, erlaubte dem amerikanischen Präsidenten das Gesicht zu wahren.
Nach der noch frischen Entscheidung der Vereinigten Staaten und der EU-Länder, die Unabhängigkeit Kosovos anzuerkennen, warnte der deutsche Außenminister, dass die Geduld Russlands überstrapaziert werde. Steinmeier sagte der deutschen Presse, dass wir nach "der schwierigen Entscheidung, den Kosovo anzuerkennen, mit unserer Außenpolitik die Toleranzgrenze Russlands erreicht haben".
Man erinnert sich in Europa noch gut an die Aussage des ehemaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld in 2003. Rumsfeld verurteilte damals Deutschland und Frankreich, weil sie den Irakkrieg nicht unterstützt hatten. Frankreich und Deutschland, sagte er, repräsentierten das "alte Europa", und fügte hinzu, dass die Erweiterungen der NATO in den letzten Jahren bedeuteten, dass sich das "Gravitationszentrum nach Osten verschoben hat".
Führende europäische Politiker sind zwar nicht bereit, den USA offen die Stirn zu bieten, sie machen aber zunehmend deutlich, dass sie eine Rückkehr zur den Frontstellungen des Kalten Krieges ablehnen, die von der politischen und militärischen Dominanz der USA in Westeuropa bestimmt waren.
Der sichtbare ökonomische und politische Niedergang der USA wurde von der französischen Wirtschaftstageszeitung Les Echos als eine Möglichkeit für Europa ausgemacht, seinen Einfluss zu vergrößern.
In einem Leitartikel schrieb die Zeitung am Mittwoch: "Präsident Sarkozys Pendeln zwischen Moskau und Tiflis ist eine hochriskante Aufgabe." Aber dann umriss sie die Möglichkeiten, die sich den Europäern bieten, wenn sie die Schwachstellen der USA ausnutzen: "Die Schwäche des Präsidenten Bush am traurigen Ende seines Mandats lässt der Europäischen Union die wichtigste Rolle bei der Durchsetzung von Diplomatie gegen Waffen in Georgien zukommen.... Die 27 [Mitgliedsstaaten] verfügen über echte Trümpfe, um sich bei den Kreml-Herren Gehör zu verschaffen. Vor allem im wirtschaftlichen Bereich..... Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Europäer diese Trümpfe ausspielen werden, was voraussetzt, dass sie mit einer Stimme sprechen. Und nichts ist weniger sicher."
Auch wenn das EU-Außenministertreffen in Brüssel gezeigt hat, dass die EU-Länder nicht in der Lage sind, "mit einer Stimme zu sprechen", zeichnete sich doch ein wachsender Konsens zwischen den westeuropäischen Ländern über die Notwendigkeit ab, ihre eigenen außenpolitischen Instrumente und die militärischen Kapazitäten zu schaffen, die es ihnen ermöglichen, auf Augenhöhe mit den USA umzugehen.