Der Libanon steht wieder kurz vor einem Bürgerkrieg. Ein Generalstreik der führenden Gewerkschaft gegen steigende Preise und für eine Anhebung des Mindestlohns mündete in bewaffneten Auseinandersetzungen. Dabei steht die von den pro-westlichen Sunniten und den Drusen gestützte Regierung unter Ministerpräsident Fouad Siniora der überwiegend schiitischen Hisbollah und den mit ihr verbündeten Amal-Milizen gegenüber.
In den letzten beiden Tagen hat der Konflikt an Schärfe zugenommen. Am Mittwoch blockierten Anhänger der Hisbollah Straßen in der Hauptsstadt Beirut. Ungefähr ein Dutzend Personen wurden durch Steinwürfe rivalisierender regierungsfeindlicher und regierungsfreundlicher Jugendbanden verletzt.
Am Donnerstag kam es in dem Dorf Saadnayel in der östlichen Bekaa-Ebene zu Feuergefechten zwischen Sunniten und Schiiten. Das Dorf liegt an einer strategischen Kreuzung, die die Hisbollah-Hochburg Baalbeck mit dem Zentrallibanon und Beirut verbindet.
Anhänger der Hisbollah blockierten die Straße zum einzigen Flughafen des Landes und legten diesen dadurch lahm. Barrikaden aus brennenden Reifen und Erde wurden errichtet und die Hauptstadt stillgelegt.
Im Stadtteil al-Mazraa in Westbeirut brachen schwere Kämpfe zwischen Sunniten und Schiiten aus. Mitglieder der Opposition beschossen ein Büro der regierungsfreundlichen Zukunftsbewegung und zerstörten es. Die darin gelagerten Waffen und Munition wurden beschlagnahmt.
Die Armee nahm Positionen an wichtigen Durchfahrtsstraßen und Kreuzungen von Beirut ein und trennte dadurch die schiitischen Vororte im Süden von der Stadt ab. Truppen in Kampfausrüstung trennten im gemischt sunnitisch-schiitischen Stadtteil Mazraa rivalisierende Jugendbanden, die sich mit Steine bewarfen.
Das libanesische Armeekommando warnt, dass eine Fortsetzung der Auseinandersetzungen die Einheit der Streitkräfte bedroht.
Der Konflikt ist der Höhepunkt einer siebzehnmonatigen Konfrontation zwischen der von den USA und Saudi-Arabien unterstützten Regierung und der Hisbollah, die vom Iran und von Syrien Rückendeckung erhält. Die Präsidentschaftswahl im Libanon ist achtzehn Mal verschoben worden. Parlamentssprecher Nabih Berri hatte für den 13. Mai einen weiteren Versuch der Präsidentenwahl festgesetzt, nachdem diesen Monat ein Vermittlungsversuch der Arabischen Liga und ihres Generalsekretärs General Amr Moussa gescheitert war.
Die regierende Gruppe des 14. März, zu der auch die Freie Patriotische Bewegung der Christen unter Michel Aoun zählt, scheint oberflächlich betrachtet das Opfer einer Offensive der Hisbollah zu sein, aber tatsächlich hat sie seit Monaten auf einen offenen Konflikt mit der Hisbollah hingearbeitet. Dabei hatte sie die Unterstützung der USA und Israels, die zweifellos die Feindseligkeiten gegen die Hisbollah wieder aufnehmen wollen und dem Iran sowie Syrien drohen.
Im Libanon spielt sich seit Langem ein regionaler Machtkampf zwischen den USA und ihren Verbündeten Israel, Saudi-Arabien und Frankreich auf der einen Seite und andererseits Syrien, dem Iran und ihren örtlichen Verbündeten Hisbollah und Amal ab. Washington hat mehrfach einen Kompromiss mit der Hisbollah torpediert, weil es den Libanon auf dem Status eines Protektorats und einer zweiten Machtbasis neben Israel halten will. Die USA sehen hierin auch einen Schritt zum Regimewechsel in Syrien und im Iran und zur Festigung der amerikanischen Vorherrschaft in der ölreichen Nahostregion.
Die israelischen Truppen zogen sich im Jahr 2000 aus dem Libanon zurück. Aber Israel ließ nicht ab von dem Nachbarland und erklärte im Juli 2006 dem Libanon den Krieg, um gegen die Hisbollah vorzugehen. Bei dem Feldzug wurden mehr als 1.200 Menschen getötet, viele mehr verwundet und ein großer Teil der Infrastruktur des Landes zerstört.
Israels Unfähigkeit, die Hisbollah zu besiegen, löste in Jerusalem eine tiefe politische Krise aus, während die Hisbollah ihre Unterstützung unter den schiitischen Massen weiter ausbauen konnte.
Seitdem drängen die USA auf einen Konflikt mit der Hisbollah, Syrien und letztlich dem Iran. Sie blockieren erste vorsichtige Friedensgespräche zwischen Israel und Syrien und sorgten immer wieder für Provokationen gegen Damaskus und Teheran. Im vergangenen September griffen israelische Kriegsflugzeuge Syrien an und zerstörten angeblich einen im Bau befindlichen Atomreaktor.
Am 28. Februar wurde die USS Cole vor die libanesische Küste verlegt, später stieß dann die Kampfgruppe Nassau mit sechs Schiffen hinzu, darunter einem amphibischen Landungsboot und einem Kontingent von über 2.000 Marines. Ein hoher US-Sprecher erklärte damals: "Die Vereinigten Staaten glauben, dass eine Demonstration der Stärke der regionalen Stabilität dienlich ist. Wir machen uns Sorgen um die Lage im Libanon. Sie schleppt sich schon zu lange hin."
Im gleichen Monat gab die Bush-Regierung weitere Sanktionen gegen Syrien bekannt, die sich gegen nicht genannte Personen richteten, die angeblich den Widerstand im Irak unterstützt hätten.
Am 24. April gab die Bush-Regierung Geheimdienstinformationen frei, nach denen Damaskus angeblich mit Unterstützung Nordkoreas an der Stelle einen Atomreaktor baute, die im Jahr zuvor von der israelischen Luftwaffe angegriffen wurde. Aus dem Weißen Haus hieß es drohend, Syriens angeblicher geheimer Reaktorbau sei "eine gefährliche und potentiell destabilisierende Entwicklung für die Region und die ganze Welt".
Die amerikanische Rechtfertigung für die israelischen Bombenangriffe bereitet ähnliche Maßnahmen andernorts vor. Die Vorwürfe liegen auf einer Linie mit den permanenten Vorwürfen, der Iran verfolge ein Atomwaffenprogramm.
Auf Israels Luftangriff vom September 2007 folgte die Ermordung des hohen Hisbollah-Führers Imad Mughniyah in Damaskus am 12. Februar diesen Jahres. Beobachter nehmen an, dass dieser Mord einen Gegenschlag provozieren sollte, der den Vorwand für einen erneuten Krieg Israels im Libanon geliefert hätte.
Parallel zu der Eskalation des Konflikts im Libanon gab Präsident George Bush bekannt, er werde die US-Sanktionen gegen Syrien um ein Jahr verlängern, weil Syrien weiter heimlich an einem Atomreaktor baue. Unter den Sanktionen sind syrische Konten eingefroren und zahlreiche Importgüter unterliegen einem Embargo. Bush wirft Damaskus vor, den Terror zu unterstützen, sich weiter im Libanon und Irak einzumischen sowie nach Massenvernichtungswaffen und Raketenprogrammen zu streben.
Das provokative Vorgehen der Siniora-Regierung gegen die Hisbollah kann nur als Fortsetzung der amerikanisch-israelischen Offensive verstanden werden. Am 10. Februar drohte Drusenführer Walid Dschumblatt in einer Fernsehansprache der Hisbollah: "Ihr wollt Chaos? Ihr sollt es bekommen. Ihr wollt Krieg? Ihr sollt ihn bekommen. Wir haben keinen Mangel an Waffen oder Raketen. Wir werden es euch beweisen."
Vergangene Woche wurden zwei Schritte in eben dieser Richtung unternommen.
Am Wochenende beschuldigte Dschumblatt Hisbollah, den Beiruter Flughafen in Vorbereitung auf einen Terroranschlag oder eine Entführung mit Sicherheitskameras auszuspionieren. Am Dienstag befahl die Regierung den Kommandeur der Flughafensicherheit Brigadegeneral Wafiq Shuqeir zurück ins Armeehauptquartier und beschuldigte ihn der Sympathie mit der Hisbollah. Sie warf ihm vor, sich nicht um die geheime Kamera gekümmert zu haben, die Hisbollah angeblich zur Überwachung der Hauptlandebahn installiert habe.
Shuqeir steht Nabih Berri nahe, dem Parlamentssprecher und Führer vom Hisbollah- Bündnispartner Amal. Die Maßnahme gegen Shuqeir führte dann zur Sperrung der Straßen Richtung Flughafen.
In der gleichen Rede warf Dschumblatt der Hisbollah vor, ihr eigenes Telekommunikationsnetz aufgebaut zu haben, um den Telefonverkehr im Libanon überwachen zu können. Die Regierung erklärte daraufhin am Dienstag, das Telefonnetz der Hisbollah sei "rechts- und verfassungswidrig" und eine Bedrohung der nationalen Sicherheit. Akten zu dieser Frage wurden an die Justiz weitergeleitet.
Ein Angriff auf das Telefonnetz musste eine scharfe Reaktion provozieren. Die Hisbollah verfügt in der Tat über ein ausgedehntes Festnetz.
Time-CNN berichtet: "Schon vor einiger Zeit hat die Hisbollah ein eigenes internes Glasfasertelefonnetz aufgebaut, das ihre Zentrale in den südlichen Vororten von Beirut mit ihren Büros, militärischen Posten und Kadern im ganzen Land bis nahe der israelischen Grenze verbindet. Während des Krieges im Sommer 2006 störte Israel die Mobilfunksignale in ganz Südlibanon und überwachte das libanesische Telefonnetz, aber die internen Nachrichtenkanäle der Hisbollah hielten dank ihrem privaten Glasfasersystem den Attacken stand.
Seit dem Krieg hat Hisbollah das Netz auf ihre neue militärische Frontlinie nördlich des von den Vereinten Nationen patrouillierten südlichen Grenzgebiets und in das Baekaa-Tal im Osten ausgedehnt. In manchen Gegenden hat sie auch ein WiMAX-Netz integriert, dass drahtlose Internet- und Handyverbindungen über lange Strecken ermöglicht.
In jüngerer Zeit hat Hisbollah begonnen, auch in der überwiegend christlichen und drusischen libanesischen Bergregion und im Norden Libanons Glasfaserkabel zu vergraben, wie der libanesische Telekommunikationsminister Marwan Hamade berichtet."
Ein Angriff auf dieses Netz würde die Fähigkeit der Hisbollah, sich gegen eine israelische Aggression oder gegen ihre inneren Feinde zu verteidigen, schwer beeinträchtigen. Die Provokation hatte den gewünschten Effekt. Am Donnerstag gab Scheich Hassan Nasrallah seine erste Pressekonferenz seit 2006. Er stellte fest, dass die Entscheidung, das private Telekommunikationsnetz der Organisation zu schließen, einer "Kriegserklärung" gleichkomme.
Er nannte das Netz die wichtigste Waffe gegen ausländische Aggressoren: "Die Entscheidung ist in erster Linie eine Kriegerklärung und der Beginn eines Krieges der Regierung im Dienste Amerikas und Israels ... gegen den Widerstand und seine Waffen. Wenn jemand uns den Krieg erklärt, gegen uns einen Krieg beginnt, auch wenn er unser Vater oder unser Bruder ist, oder einfach nur ein politischer Gegner, dann haben wir das Recht, uns zu verteidigen, unsere Waffen zu verteidigen, unsren Widerstand zu verteidigen und unsere Existenz zu verteidigen."
Er verlangte von der Regierung, ihre Entscheidung zurückzunehmen, und auch Brigadegeneral Wafiq Shuqeir wieder auf seinen Posten zurückzuversetzen.
Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats in den USA Gordon Johndroe verlangte gestern von der Hisbollah, "ihre Störmanöver zu beenden" und sich zu entscheiden, ob sie "eine Terrororganisation oder eine politische Partei" sei.
Bush will Siniora Ende nächster Woche im ägyptischen Badeort Scharm el Scheik treffen. Vorher wird er an den Feiern zum 60. Jahrestag der Gründung Israels teilnehmen und Saudi-Arabien besuchen, wo die 75 jährigen Beziehungen zwischen den USA und dem Königreich gefeiert werden. Saudi-Arabien hat ungenannte "ausländische Extremisten" für den aktuellen Konflikt verantwortlich gemacht.