Weltweite Umfrage belegt wachsende Wut über soziale Ungleichheit

Die Tatsache, dass sich eine schmale Finanzelite schamlos bereichert, während gleichzeitig das Realeinkommen der großen Mehrheit der Weltbevölkerung zurückgeht, ruft in wachsendem Maße Unzufriedenheit und Empörung hervor. Das ist das Ergebnis einer Umfrage, die von der Londoner Financial Times und dem Meinungsforschungsinstitut Harris in Europa, Asien und den Vereinigten Staaten durchgeführt wurde.

"Einkommensungleichheit ist in vielen Ländern zu einer politisch hoch brisanten Frage geworden, weil die letzte Globalisierungswelle zur Entstehung einer ‚Super-Klasse’ von Reichen geführt hat", schrieb die Financial Times zu den Umfrageergebnissen, die am Montag veröffentlicht wurden.

Die FT /Harris-Umfrage fand heraus, dass große Mehrheiten in ganz Europa der Meinung sind, die soziale Kluft zwischen der Finanzelite und der übrigen Bevölkerung sei zu groß geworden. In Spanien sagten z.B. 76 Prozent, dass die soziale Ungleichheit zu sehr angewachsen sei. In Deutschland waren es 87 Prozent.

In China sind 80 Prozent der Meinung, die Einkommensungleichheit sei zu groß. China ist zur Niedriglohnwerkbank der Welt geworden. Millionen Arbeiter werden dort ausgebeutet, und gleichzeitig entsteht eine neue Klasse von Milliardären und Multimillionären.

In den Vereinigten Staaten, dem sozial ungleichsten Land unter den entwickelten kapitalistischen Ländern, glauben 78 Prozent, dass die Kluft zu groß geworden sei.

In allen acht Ländern, in denen die Umfrage durchgeführt wurde, ging eine deutliche Mehrheit der Befragten davon aus, dass die soziale Spaltung in den nächsten fünf Jahren noch weiter zunehmen werde. Genauso viele Menschen waren dafür, die Steuern für die Reichen zu erhöhen und für die Armen zu senken.

Angesichts der Krise, die das amerikanische und internationale Finanzsystem erschüttert, wird das Anhäufen obszönen Reichtums durch die winzige Finanzelite für die Masse der Bevölkerung immer unerträglicher. Sie ist mit sinkendem Lebensstandard, dem Verlust von Arbeitsplätzen und in weiten Teilen der Welt mit wachsendem Hunger konfrontiert.

Der UN-Welternährungsorganisation (FAO) zufolge sind die weltweiten Nahrungsmittelpreise alleine in den letzten neun Monaten um 45 Prozent gestiegen. Die Preise einiger der wichtigsten Lebensmittel sind sogar noch viel stärker gewachsen: Weizen um 130 Prozent und Reis um 74 Prozent in nur einem Jahr. 2,5 Milliarden Menschen, das sind 40 Prozent der Weltbevölkerung, müssen von weniger als zwei Dollar am Tag leben. Für sie bedeutet diese Preisspirale bei Lebensmitteln, dass Hunderte Millionen unmittelbar von Hunger bedroht sind.

In einer Erklärung bezeichnete FAO-Generaldirektor Jacques Diouf das Problem der Finanzspekulation als eine der Schlüsselursachen für die heraufziehende Katastrophe. "Investment Fonds spekulieren an den Futures Märkten und treiben die Warenpreise, wie auch die Lebensmittelpreise, hoch", sagte er.

Die Entscheidung der Financial Times, der anerkannten Stimme der City of London, eine Umfrage zur Einkommensverteilung durchzuführen, ist bezeichnend für die wachsende Angst von Teilen der herrschenden Eliten, die beispiellose soziale Polarisierung werde in Verbindung mit einer Wirtschaftskrise zu einer Verschärfung des Klassenkampfs führen.

So wurden bei dem Treffen der 27 europäischen Finanzminister in Brüssel in der vergangenen Woche die unverhältnismäßig ansteigenden Gehälter und Boni von Wirtschaftsführern als "skandalös" und als eine "gesellschaftliche Geißel" kritisiert.

"Die Exzesse von Wirtschaftskapitänen, die wir in mehreren Ländern und Bereichen des Euroraumes erleben mussten, sind wirklich ein Skandal, und wir prüfen noch, was hinsichtlich ethischen Verhaltens und Besteuerung getan werden kann, um gegen diese Exzesse vorzugehen", sagte Jean-Claude Juncker, der Vorsitzende der Eurogruppe.

Ein Sturm der Entrüstung brach jüngst in der Öffentlichkeit los, als ein holländischer Vorstandschef Aktienoptionen und einen Bonus im Gesamtwert von 124 Millionen Dollar einsackte. Für amerikanische Verhältnisse ist das kaum ungewöhnlich, aber in den Niederlanden beträgt die durchschnittliche Entlohnung eines Vorstandschefs gerade mal ein Viertel dessen, was in den USA gezahlt wird.

Juncker, Premierminister und Finanzminister Luxemburgs, kündigte an, die Europäische Kommission werde ihre Mitgliedsländer zu einer Aussage verpflichten, "was sie gegen diese gesellschaftliche Plage zu tun gedenken". Mehrere europäische Regierungen haben Gesetzesmaßnahmen auf den Weg gebracht, die hohe Steuern auf übertriebene Vorstandsgehälter vorsehen.

Was die europäische Bourgeoisie wirklich umtreibt, machte Junckers Warnung deutlich, der Durchschnittsbürger werde "nicht verstehen, dass wir ihn auffordern, seine Lohnforderungen zu mäßigen, wenn wir nicht auch klar machen, dass wir Gehälter für Topmanager, die in keinerlei Verhältnis zu ihrer Leistung stehen, und goldene Handschläge nicht länger akzeptieren". Anders gesagt: Allzu offenes Prassen an der Spitze der Gesellschaft könnte in Verbindung mit Aufforderungen an die unteren Schichten, den Gürtel noch enger zu schnallen, das soziale Pulverfass in die Luft sprengen.

In ähnlichem Sinne veröffentlichte die Financial Times vergangene Woche einen mahnenden Artikel von David Rothkopf, dem Autor von "Die Super-Klasse: Die Welt der internationalen Machtelite". Rothkopf war Ex-Staatssekretär im Handelsministerium der Clinton-Regierung.

"Die Kreditkrise verstärkt die Empörung über die Exzesse der Wirtschaft", schreibt er. "Die Eliten machen Milliarden an den Märkten, ob sie steigen oder fallen, und ihre Institute werden von der Regierung herausgehauen, während der kleine Mann sein Haus verliert. Konzernbosse verdienten vor 30 Jahren 35 Mal soviel wie ein durchschnittlicher Angestellter, heute sind es mehr als 350 Mal so viel. Die Krise hat das Augenmerk auf die obszöne Ungleichheit dieser Ära gelenkt - die reichsten 1.100 Personen besitzen fast zweimal soviel wie die ärmsten 2,5 Milliarden."

Rothkopf schloss seinen Artikel mit der Warnung, die Finanzoligarchie müsse ihre Exzesse zügeln, wenn sie sich retten wolle. "Wenn sie erkennt, dass sie auf öffentliche Belange Rücksicht nehmen muss, dann kann die finanzielle Super-Klasse dem Schicksal früherer Eliten entgehen", schreibt er. "Dafür muss sie ihre arrogante ‚Der-Markt-wird’s-richten’-Haltung zur Ungleichheit, die sie selbst mit geschaffen hat, aufgeben."

Diese Warnung vor dem "Schicksal früherer Eliten" ist zweifellos starker Tobak, zumal in den Seiten der führenden Finanzzeitung Großbritanniens. An wen denkt der Autor dabei? An die französische Aristokratie? An die russische Romanow-Dynastie? Klar ist, dass die Gefahr von sozialen Unruhen und sogar Revolution angesichts massiver Unzufriedenheit mit der sozialen Ungleichheit von den herrschenden Kreisen ausgesprochen ernst genommen wird.

Rothkopfs Rat an die herrschenden Eliten, das "öffentliche Interesse" nicht aus dem Blick zu verlieren und weniger arrogant aufzutreten, wird das Problem aber kaum lösen können. Denn es wurzelt nicht einfach in der zweifellos vorhandenen Raffgier und Arroganz der Profiteure der Finanzspekulationen, die weite Teile des Globus mit Hungerkatastrophen bedrohen, sondern in der Funktionsweise des Kapitalismus selbst.

Karl Marx erklärte schon vor 140 Jahren in seiner "Verelendungstheorie" diese Eigenschaft der kapitalistischen Produktionsweise. "Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol", schrieb er, "ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf der Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert."[1]

Kein Element der Marx’schen Analyse des Kapitalismus ist von den Verteidigern des Profitsystems schärfer und andauernder kritisiert worden als diese These. Die Ausdehnung des Kapitalismus und die Akkumulation von Reichtum, argumentieren sie, würden unvermeidlich zu steigendem Lebensstandard für die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung führen.

Der Trugschluss dieses Arguments und die Korrektheit von Marx’ Analyse wird erneut bestätigt, und zwar nicht nur in der kalten Sprache der Statistik, sondern in den zunehmend explosiveren Kämpfen der Massen. Für sie wird es immer unmöglicher, die grundlegendsten Mittel zum Überleben zu erlangen, denn dieses System, das auf der Produktion für den privaten Profit beruht, verweigert sie ihnen.

Anmerkung:

[1] Karl Marx, Kapital Bd. 1, Kapitel 23, Abschnitt 4, S. 675

Siehe auch:
Angesichts der Lebensmittelkrise fürchten Regierungen eine Revolution der Hungrigen
(17. April 2008)
Tiefste Krise seit der Großen Depression kündigt sich in Bear Stearns Zusammenbruch an
(22. März 2008)
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