Die sogenannte Bush-Doktrin von 2002, die das Recht auf militärische Präventivschläge festschreibt, gilt zu Recht als Dammbruch beim Völkerrecht. Die seit dem Zweiten Weltkrieg anerkannte Regel, wonach der Einsatz militärischer Gewalt nur zu Verteidigungszwecken statthaft ist und Angriffskriege ein Verbrechen darstellen, wurde von den USA über Bord geworfen.
Die einseitige Unabhängigkeitserklärung Kosovos und die unverzügliche Anerkennung des neuen Staates durch die USA, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und andere europäische Staaten haben ähnliche Brisanz. Hier werden internationale Rechtsnormen gesprengt, die bisher für die friedliche Lösung von Konflikten von grundlegender Bedeutung waren. Die Folge wird sein, dass internationale Streitfälle in wachsendem Maße gewaltsam ausgetragen werden.
Die Unterstützung und Anerkennung der Abspaltung Kosovos durch die führenden Westmächte gegen den ausdrücklichen Willen Russlands und Chinas kennzeichnen einen weltpolitischen Wendepunkt. Die Behauptung, beim Kosovo handle es sich um einen Fall "sui generis", der politisch und historisch einzigartig sei, sich nicht mit anderen Fällen vergleichen lasse und daher keine Präzedenzwirkung entfalte, hält einer genaueren Überprüfung nicht stand.
Sowohl US-Außenministerin Condoleezza Rice wie die EU-Außenminister, die sich am Montag in Brüssel trafen, argumentieren so. Nirgendwo sonst seien die Rechte der einheimischen Bevölkerung derart missachtet und verletzt worden wie im Kosovo, behaupten sie. Belgrad und Moskau hätten sich jedem Kompromiss widersetzt, und daher sei die Anerkennung des Wunsches der Kosovaren nach staatlicher Unabhängigkeit unausweichlich.
Das ist Augenwischerei. Tatsächlich haben die Großmächte die ethnischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien aus eigenen Interessen anhaltend und gezielt geschürt. Die Lage im Kosovo ist weitgehend von ihnen selbst geschaffen worden.
Schon 1991 unterstützte die deutsche Außenpolitik das blutige Auseinanderbrechen des jugoslawischen Staates, indem sie Slowenien und Kroatien überstürzt als unabhängige Staaten anerkannte. Die USA zogen nach und forcierten die Unabhängigkeit von Bosnien und Herzegowina. Die Folge war der vierjährige, äußerst verlustreiche Bosnienkrieg, in den die Großmächte schließlich mit eigenen Truppen eingriffen.
Schließlich nutzte die Nato die von ihr selbst geschürten separatistischen Bestrebungen im Kosovo, um gegen Serbien vorzugehen. 1999 stellte US-Außenministerin Madeleine Albright der serbischen Regierung auf der Konferenz von Rambouillet ein unerfüllbares Ultimatum. Als diese ablehnte, reagierte die Nato mit Krieg.
Schon damals stützten sich Albright und ihre Kollegen Joschka Fischer (Deutschland) und Robin Cook (Großbritannien) auf Hashim Thaci, den heutigen Ministerpräsidenten Kosovos. Und dies, obwohl Thaci damals an der Spitze der UCK-Miliz stand, von den serbischen Behörden wegen terroristischen Anschlägen auf Sicherheitskräfte gesucht wurde und im Verdacht stand, Abtrünnige aus den eigenen Reihen liquidiert zu haben und Beziehungen zur Drogenmafia zu unterhalten.
Seit Kriegsende stand der Kosovo dann unter UN-Verwaltung, das heißt faktisch unter der militärischen und politischen Kontrolle der Mächte, die den Krieg geführt hatten. Der erste UN-Verwalter war von 1999 bis 2001 Bernard Kouchner, der nun als französischer Außenminister als einer der ersten die Republik Kosovo diplomatisch anerkannt hat.
Die UN-Verwaltung ließ den Ultranationalisten freie Hand. Ein kürzlich erschienener Bericht von Amnesty International stellt ihr ein miserables Zeugnis aus. "Die UN-Mission hat hunderte von Verbrechen wie Morde, Vergewaltigungen, Entführungen und Vertreibungen unzureichend oder gar nicht untersucht", erklärte Jan Digel, der Kosovo-Experte von Amnesty. Obwohl während des Kosovo-Konfliktes tausende Kriegsverbrechen verübt wurden, darunter Ermordungen, Vergewaltigungen, "Verschwindenlassen" und Entführungen, hat es bis heute lediglich 23 Verfahren wegen Kriegsverbrechen vor kosovarischen Gerichten gegeben.
Laut Schätzung des European Roma Rights Center in Budapest wurden nach dem Nato-Bombardement über zwei Drittel der etwa 120.000 im Kosovo lebenden Roma und Ashkali aus der Provinz vertrieben. Es war die umfassendste ethnische Säuberung von Roma nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch zahlreiche Serben mussten den Kosovo verlassen. Die verbliebenen 120.000 leben in isolierten serbischen Enklaven.
Mittlerweile bekennt sich die Regierung in Pristina zwar zum Schutz der nationalen Minderheiten - neben Serben und Roma auch Türken, Bosnjaken und mehrere kleinere Gruppen -, doch die Angriffe und Pogrome gegen sie hielten bis in die jüngste Zeit an.
Die Unabhängigkeitserklärung erfolgte schließlich in enger Abstimmung mit der so genannten Kontaktgruppe, bestehend aus den USA, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Italien. Sie wurde von langer Hand vorbereitet.
Bereits vor einem Jahr hatte der ehemalige finnische Präsident Martti Ahtisaari, von der UNO als Vermittler eingesetzt, einen Unabhängigkeitsplan vorgelegt, der in Serbien und Russland auf erbitterten Widerstand stieß. Obwohl Ahtisaaris Vorschlag schließlich abgelehnt wurde, diente er als Fahrplan für die Loslösung des Kosovo von Serbien. Dabei vereinbarte der kosovarische Ministerpräsident Thaci jeden Schritt, einschließlich des genauen Zeitpunkts, mit der Kontaktgruppe.
Die nun gegründete Republik Kosovo ist weder wirtschaftlich noch politisch lebensfähig. Sie ist nicht viel mehr als ein Protektorat der Großmächte. Die Europäische Union hat in Vorbereitung auf die Unabhängigkeit eine Mission von annähernd 2.000 Polizisten, Richtern, Gefängnisaufsehern und Zollbeamten zusammengestellt, die unterstützt von 1.000 lokalen Kräften das Land weitgehend verwalten sollen. Diese sogenannte Eulex-Mission steht unter dem Kommando eines französischen Vier-Sterne-Generals, Yves de Kermabon, der über langjährige Erfahrungen mit Kriseneinsätzen in Afrika und auf dem Balkan verfügt. Die Eulex soll von den 16.000 Soldaten der bereits jetzt im Kosovo stationierten KFOR-Truppe abgesichert werden, die von der Nato gestellt wird.
Die soziale Lage im Kosovo ist katastrophal. Fast die Hälfte der zwei Millionen Einwohner ist arbeitslos, und jedes Jahr suchen weitere 30.000 Jugendliche nach nicht vorhandenen Arbeitstellen. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt von weniger als 1,50 Euro am Tag. Der Durchschnittslohn beträgt 220 Euro im Monat.
Die Behauptung, der Kosovo sei ein Sonderfall, ein Fall "sui generis", in dem der Drang nach staatlicher Unabhängigkeit unabwendbar war, erweist sich also bei näherem Hinsehen als Lüge. Die Loslösung des Kosovos von Serbien ist in erster Linie ein Ergebnis der Machenschaften der Großmächte selbst, die die Nationalisten vor Ort gefördert und sich ihrer bedient haben.
Die Kontrolle über den Balkan ist sowohl für die USA als auch für die europäischen Mächte von großer strategischer Bedeutung. Die gezielt betriebene Auflösung Jugoslawiens, die mit der Abtrennung Kosovos ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat, bildet die Voraussetzung für diese Kontrolle.
Die USA unterhalten im Kosovo mit Camp Bondsteel bei Urosevac einen ihrer größten Militärstützpunkte auf europäischem Boden. Camp Bondsteel dient auch als Stützpunkt für die so genannten Renditions, bei denen Terrorverdächtige illegal entführt und gefoltert werden. Die militärische Präsenz auf dem Balkan und in Osteuropa ist Bestandteil der US-Strategie, Russland durch das Vordringen in die ehemaligen Einflussgebiete der Sowjetunion einzukreisen. Gleichzeitig dient sie dem Erhalt des amerikanischen Einflusses in Europa.
Die europäischen Mächte und vor allem Deutschland versuchen mit der Anwesenheit auf dem Balkan ihr Gewicht in Europa zu stärken. Dass die USA dort als Ordnungsmacht auftreten, wird von den europäischen Medien immer wieder als schmerzlicher Beweis für die eigene Ohnmacht empfunden.
Hinzu kommt, dass der Kosovo und der Balkan insgesamt einen wichtigen Zugang zum Schwarzen Meer und den Energieressourcen des Kaspischen Meers bilden. Derzeit gibt es Pläne für mehrere konkurrierende Gas- und Ölpipelineprojekte, bei denen der Kosovo eine wichtige Rolle spielt. Außerdem verfügt der Kosovo über Vorkommen an Gold, Blei, Zink und Braunkohle.
Bei der Verfolgung ihrer Interessen setzen sich die USA und die EU über grundlegende Bestimmungen des Völkerrechts hinweg. Der britische Guardian (19. Februar) gelangt in einer Analyse über die Auswirkungen auf die Weltordnung zum Schluss, dass "die Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos zur weiteren Aushöhlung zweier grundlegender Pfeiler des internationalen Systems führen wird - der Gleichberechtigung der Staaten und des Prinzips der Unverletzlichkeit der Grenzen."
Der Artikel widerlegt die Behauptung, die Menschenrechtsverletzungen unter Milosevic rechtfertigten die Unabhängigkeit, mit der Begründung, dass sie "erstens die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen ignoriert, die seit 1999 gegen Serben und Nicht-Albaner verübt wurden, insbesondere die Gewaltausbrüche vom März 2004", und "dass es zweitens wenig Grund zur Annahme gibt, die Menschenrechtsverletzungen, mit denen die Unabhängigkeit gerechtfertigt wird, würden sich wiederholen, wenn Alternativen zur Unabhängigkeit, wie eine weitgehende Autonomie, als Lösung vorgeschlagen würden."
Für noch gefährlicher hält der Guardian das Argument, "Serbiens Verlust der Kontrolle über den Kosovo, der seit 1999 unter internationaler Verwaltung stand, sei gleichbedeutend mit dem Verlust der Souveränität über die Provinz."
"Akzeptiert man diesen Präzedenzfall", warnt die Zeitung, "hätte dies verheerende Auswirkungen auf ähnliche friedensbildende Maßnahmen, da Länder kaum mehr Missionen autorisieren würden, die den Verlust der Kontrolle über ihr eigenes Territorium mit sich bringen."
"Hinzu kommt," fährt der Guardian fort, "dass Unmik aufgrund eines illegalen Gewaltseinsatzes der Nato dort ist und jede Grenzveränderung, die durch einen Kontrollverlust gerechtfertigt wird, einer Grenzveränderung mit militärischen Mitteln gleichkäme - was die UN-Charta ausdrücklich für illegal erklärt und die internationale Gemeinschaft während der gesamten Nachkriegsperiode stets abgelehnt hat."
Der Artikel gelangt zum Schluss: "Der Verzicht auf die wichtigsten Lehren, die seit dem Zweiten Weltkrieg die internationale Ordnung unterstützten, ist der gefährlichste Präzedenzfall bei der Anerkennung von Kosovos Unabhängigkeit. Wenn man die Gleichberechtigung der Staaten und das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen untergräbt, bricht die äußerst wichtige Unterscheidung zwischen Völkerrecht und Politik zusammen, mit nachteiligen Folgen für weltweiten Frieden und Sicherheit."
Sowohl Russland wie Serbien haben auf die Abtrennung Kosovos mit scharfen Warnungen reagiert.
Serbien drohte dem Kosovo Wirtschaftsanktionen an und der russische Präsident Wladimir Putin warnte in seiner Jahrespressekonferenz, an die Adresse der USA und der EU gerichtet: "Wenn man sich weiter von der so genannten politischen Zweckmäßigkeit leiten lässt und den politischen Interessen einzelner Staaten dienen wird, werden dadurch das Völkerrecht und die Weltordnung zerstört."
Gleichzeitig drohte er damit, einen Teil der russischen Atomraketen auf Europa auszurichten, falls Teile des US-Raketenabfangsystems in Polen und Tschechien errichtet würden oder die Ukraine der NATO beitreten sollte.