Im Bestreben, eine langanhaltende amerikanische Besetzung des Irak zu rechtfertigen, hat die Bush-Administration schon häufig vor Chaos und sogar Völkermord bei einem Abzug ihrer Truppen gewarnt. Ein aktueller Bericht legt allerdings die Schlussfolgerung nahe, dass ein Völkermord unter der Führung Amerikas praktisch bereits stattfindet.
Das britische Meinungsforschungsinstitut ORB (Opinion Research Business) meldete am 13. September, die Zahl der Todesopfer seit Beginn der US-Invasion 2003 habe die Millionengrenze überschritten.
Mit ermittelten 1,2 Millionen durch Gewalteinwirkung getöteten Menschen weist der von den USA besetzte Irak nach Angaben des ORB eine "Tötungsziffer auf, die den Völkermord in Ruanda im Jahr 1994 (800.000 Tote) inzwischen übertrifft". Hinzu kommen im Irak noch eine Million Verwundete und mehrere Millionen, die Flüchtlinge im eigenen Land geworden sind oder das Land verlassen haben.
Das ORB, das im Irak seit 2005 Umfragen durchführt, veröffentlichte die Ergebnisse auf Basis einer landesweiten Befragung von 1.461 Erwachsenen. Eine Frage unter anderen lautete: "Wie viele Mitglieder ihres Haushalts sind seit 2003 als Ergebnis des Kriegs im Irak gestorben (d.h. als Ergebnis von Gewalt im Unterschied zu einem natürlichen Tod, etwa aus Altersgründen)? Bitte beachten Sie, dass nur die Personen gemeint sind, die tatsächlich mit ihnen unter einem Dach lebten."
78 Prozent der Befragten gaben an, in ihrem Haushalt hätte es keine Toten durch Gewalt gegeben, 16 Prozent gaben einen Toten an, 5 Prozent zwei und ein Prozent drei oder mehr Getötete. Bei der Gesamtzahl der Haushalte im Land - nach Volkszählungsergebnissen aus dem Jahr 2005 sind dies 4.050.597 Millionen - kommt man damit auf annähernd 1,2 Millionen Tote.
Bagdad weist den bei weitem höchsten Anteil an Getöteten auf. Hier beklagte beinahe die Hälfte aller Befragten wenigstens einen Getöteten in ihrem Haushalt. In der Provinz Dijala (Hauptstadt: Bakuba) betraf dies 42 Prozent und in der Provinz Ninewa (Mosul) 35 Prozent der Haushalte.
Die Befragung ergab, dass 48 Prozent der durch Gewalteinwirkung Getöteten durch Schüsse umkamen, 20 Prozent durch Autobomben, 9 Prozent durch Luftangriffe, 6 Prozent durch andere Kampfmittel oder Explosionen und 6 Prozent durch Unfälle.
Bemerkenswert ist vor allem die Zahl der durch Luftangriffe Getöteten - laut ORB-Studie weit über 100.000 - da über diese Toten in den amerikanischen Medien praktisch überhaupt nicht berichtet wird. Das liegt natürlich daran, dass diese Toten ausschließlich auf das Konto der amerikanischen und britischen Besatzungstruppen gehen, weil nur sie über Hubschrauber und Kampfflugzeuge verfügen.
Die ORB-Befragung kam auf eine wesentlich höhere Anzahl von Getöteten als die westlichen Medien, die US-gestützte irakische Regierung in Bagdad und die UNO. Die neuesten Ergebnisse decken sich jedoch mit einer Studie, die im letzten Jahr Wissenschaftler der John Hopkins University durchführten und über die in der britischen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet berichtet wurde. Die Zahl der Opfer (zu Beginn des Jahres 2006, also vor fast 18 Monaten) wurde darin auf etwa 655.000 geschätzt.
Die amerikanische und irakische Regierung wiesen ebenso wie die US-Medien die im Lancet veröffentlichen Zahlen zurück. Den ORB-Ergebnissen droht das gleiche Schicksal. In den Freitagsausgaben der amerikanischen Zeitungen (14. September) wurden die Ergebnisse der Studie nur am Rande erwähnt, eine kurze Erwähung fanden sie in der Los Angeles Times und dem Boston Globe, überhaupt keine Meldung waren sie der New York Times und der Washington Post wert.
Keine der Nachrichtensendungen in den Vereinigten Staaten erwähnte den ORB-Bericht.
Opinion Research Business ist keine linke Organisation oder mit Kriegsgegnern verbunden, sondern ein anerkanntes Meinungsforschungsinstitut, das 1994 von Gordon Heald gegründet wurde, der von 1980 bis 1994 Gallup Britain leitete. Zu den Kunden des Instituts gehören der riesige Bergbaukonzern Anglo American, die Bank of Scotland und die Konservative Partei Großbritanniens. Der beratende Direktor des Instituts ist Geoffrey Martin, Träger des britischen Ritterordens, der gegenwärtig auch Sonderberater des Generalsekretärs für strategische Beziehungen des britischen Commonwealth ist.
Die Daten der ORB-Studie stammen aus persönlichen Befragungen, die zwischen dem 12. und 19. August bei einer repräsentativen nationalen Stichprobe von 1.720 Erwachsenen (von denen 1.461 teilnahmen) durchgeführt wurden, und für die ein Fehlerspielraum von 2,4 Prozent veranschlagt wurde. Die Befragten wurden mit dem Zufallsauswahlverfahren aus 15 der 18 irakischen Provinzen ermittelt.
Aus Sicherheitsgründen wurden in den Provinzen Al Anbar und Karbala keine Befragungen durchgeführt, ebenso nicht in der Provinz Irbil, wo die kurdischen Behörden keine persönlichen Befragungen zuließen. Da Anbar und Karbala zu den umkämpftesten Kriegsgebieten zählen und Irbil zu den ruhigsten Gegenden, bedeutet ein Ausschluss dieser drei Provinzen im Ergebnis eher eine zu optimistische Einschätzung der Opferzahlen als eine zu hohe.
Die Ergebnisse der ORB-Studie wurden am selben Tag veröffentlicht, als Präsident Bush im nationalen Fernsehen die Verhältnisse im Irak in einer Weise darstellte, die vollkommen an der Realität vorbeiging. Trotz einer Million toter Iraker, eine Million Verwundeter und vier bis fünf Millionen Flüchtlingen hob Bush hervor, das "normale Leben" würde in das verwüstete Land zurückkehren. "Sektiererische Morde nehmen ab, und das normale Leben stellt sich allmählich wieder ein", behauptete Bush.
Am folgenden Tag traten Bush und Vizepräsident Cheney vor ein handverlesenes Publikum, um energisch ihr Ziel einer unbegrenzten US-Präsenz im Irak zu propagieren. Bush sprach auf dem Marinestützpunkt Quantico im Bundesstaat Virginia und Cheney im Gerald Ford Museum in Michigan sowie im Hauptquartier des Zentralkommandos in Florida.
Cheney behauptete, ein schneller Rückzug der US-Truppen würde zu "Chaos" und "Gemetzel" führen: "Alle, die den Abzug der USA aus dem Irak fordern, haben diese negativen Folgen nicht wirklich bestritten, sie haben sie schlicht ignoriert."
Cheney malte das Schreckgespenst einer iranischen Intervention in einen Irak nach Ende der US-Besatzung an die Wand, wodurch ein "umfassender Krieg entfesselt und die Gewalt nicht nur im Irak wüten würde. Das nachfolgende Gemetzel würde den Nahen Osten weiter destabilisieren und die Bedrohung für unsere Freunde in der gesamten Region um ein Vielfaches erhöhen."
Bush erklärte vor 250 Marines und ihren Familien in Quantico: "Wir haben für mehr Sicherheit gesorgt und bringen unsere Soldaten wieder nach Hause."
Am gleichen Tag gab das Außenministerium einen Bericht frei, in dem es hieß, die Freiheit der Religionsausübung im Irak sei seit einem Jahr drastisch eingeschränkt infolge der Zunahme des sektiererischen Mordens. Dabei würden vor allem religiöse Minderheiten (Sunniten in schiitisch bewohnten Gebieten, Schiiten in sunnitischen Gebieten, weltliche Iraker, Christen und kleinere Minderheiten in allen Gebieten) systematisch verfolgt.
Der Bericht sprach von "häufigen religiös motivierten Gewalttaten, darunter Angriffen auf religiöse Stätten", und von "Schikanen, Einschüchterung, Entführungen und Morden". Außerdem seien "Nicht-Muslime dem Druck und der Gewalt besonders schutzlos ausgeliefert, da sie eine Minderheit sind und nicht unter dem Schutz des Stammes stehen."
Die Demokratische Partei hat an der Herbeiführung eines Quasi-Völkermordes im Irak in umfassender Weise mitgewirkt, da ihre Führung im Kongress sich weigert, die weitere Finanzierung eines Krieges zu stoppen, der bereits mehr als eine Million Iraker und über 3.700 amerikanische Soldaten das Leben gekostet hat.
Führende Demokraten im Senat reagierten auf Bushs Rede vom 13. September, indem sie erneut ihre Machtlosigkeit betonten. Barack Obama, der als Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten seine Antikriegshaltung hervorhebt, sagte, der von den Demokraten kontrollierte Kongress könne Bush nicht zwingen, einen Zeitpunkt für die Beendigung des Krieges zu akzeptieren.
"Eine Möglichkeit, den Krieg zu beenden, wäre es, einen Zeitplan dafür festzulegen", sagte er bei einer Rede in Iowa. "Dazu fehlen uns etwa 15 Stimmen. Gegenwärtig sieht es nicht danach aus, als ob wir so viele zusätzliche Stimmen bekommen können."
Obama meinte die 67 im Senat benötigten Stimmen, um ein Veto des Präsidenten zu überstimmen. Er verschweigt dabei, dass es andere verfassungsmäßige Mittel zur Beendigung des Krieges gibt, etwa die Verweigerung weiterer Finanzmittel für den Krieg, was die Führung der Demokraten im Kongress jedoch ablehnt.
Senator Kent Conrad aus North Dakota, Vorsitzender des Haushaltsausschusses im Senat, sagte gegenüber der Publikation Congressional Quarterly : "Tatsache ist, wir haben nicht die Stimmen, den Krieg zu beenden." Die Demokraten im Senat, meinte er, bemühten sich, "die Dinge voranzubringen, die wir in der Innenpolitik voranbringen können", um "sichtbare Erfolge vorzuweisen", statt sich in Debatten über den Irak festzubeißen.
Weitere Senatoren äußerten sich zustimmend, auch Charles Schumer aus New York, der zu dem im nächsten Jahr bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf feststellte: "Bei diesem Wahlkampf kristallisiert sich das Thema Wechsel heraus. Nicht nur Wechsel im Irak, sondern auch in den USA." Senator Ken Salazar aus Colorado meinte: "Die Wahlbotschaft der Demokraten muss sich auf die Dinge konzentrieren, die gut für die Mittelklasse sind. Der Krieg sollte nicht das einzige Thema sein."
Im Repräsentantenhaus hat die Sprecherin Nancy Pelosi von der Demokratischen Partei für diesen Monat keine Abstimmung über die Irakkriegspolitik angesetzt, obwohl das Gesetz zur Bewilligung des Verteidigungshaushalts (defense authorization bill) für das Haushaltsjahr, das am 1. Oktober beginnt, noch verabschiedet werden muss. Alles deutet darauf hin, dass die Demokraten im Kongress diesem Gesetz und dem Gesetz zur Bewilligung zusätzlicher Kriegsausgaben, das die Bush-Regierung noch nicht an den Kongress weitergeleitet hat und bei dem es um wohl annähernd 200 Milliarden Dollar geht, ihren Segen erteilen werden.
Das massenhafte Töten und die gesellschaftlichen Verwüstungen im Irak, die durch die jüngste Studie einmal mehr an die Öffentlichkeit dringen, sind eine direkte Folge des kolonialen Krieges, den die Vereinigten Staaten im Nahen Osten führen, und ihrer Besatzung des Iraks. Das Schweigen der Demokraten wie der Republikaner und der Medien wirft ein Schlaglicht, wie sehr die gesamte herrschende Elite in den Vereinigten Staaten und all ihrer etablierten Institutionen in diese gewaltigen Kriegsverbrechen verstrickt sind.