Berliner EU-Spektakel

Deutsche Großmachtpolitik hinter europäischer Fassade

Es war Kaiserwetter in Berlin am vergangenen Wochenende. Auf dem Boulevard Unter den Linden - zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule im Westen und Reiterdenkmal des "Alten Fritz" und Schlossbrücke im Osten - flanierten Zehntausende.

An unzähligen Ständen boten die 27 EU-Mitgliedsstaaten Landesspezialitäten, süße Leckereien und manch gutes Tröpfchen Wein. Aus Lautsprechern ertönte Beethovens Neunte. Am Sonnabend tauchten mächtige Scheinwerfer die Museumsinsel in ein "sphärisches Blau und umspielten klassische Klänge die klassizistischen Bauten" (Süddeutsche Zeitung), bevor die "Nacht der Schönheit" begann, zu der eine Vielzahl staatlicher Museen geladen hatten. Andere Besucher zog es in die "Europäische Clubnacht". Das Festtagsticket öffnete den Zugang zu über sechzig Tanz- und Nachtclubs.

Das offizielle Programm der 27 Staats- und Regierungschefs anlässlich des 50. Jahrestags der Unterzeichnung der Römischen Verträge begann in der Philharmonie. Auch hier Beethovens Ode an die Freude, diesmal unter der Leitung von Sir Simon Rattle. Die Staatsgäste erhoben sich feierlich und mit ihnen der ganze Saal beim Ertönen dieser "Europahymne". Anschließend großes Gala-Abendessen und am Sonntag feierliche Unterzeichnung der "Berliner Erklärung" im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums. Auch hier wieder Beethovens Ode, diesmal vom Jugendorchester der Europäischen Union.

Die Festtagsregie war bemüht, die Bürgerfeier mit der Staatsfeier zu verbinden, doch die großen Leinwände, auf denen Reden und Interviews der EU-Politiker übertragen wurden, fanden wenig Beachtung. Auch die Jubelberichte in den Medien "Berlin feiert die Europäische Union" konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass die beiden Veranstaltungen wenig gemein hatten.

Mehr als fünftausend Polizisten und Sondereinheiten schützten die offiziellen Feiern. Auf den Dächern der umliegenden Häuser um die Tagungsräume waren Scharfschützen postiert. Die Berliner Innenstadt glich einer Wagenburg. So groß ist die Angst der europäischen Machthaber vor der Bevölkerung.

Die große Party sollte davon ablenken, dass seit der Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden vor kapp zwei Jahren die Opposition der Bevölkerung gegen die Politik der EU zugenommen hat, während auf der anderen Seite die Staats- und Regierungschefs entschlossen, sind ihre Ziele mit allen Mitteln durchzusetzen. Unter Beethovens Klängen und Schillers Worten "Alle Menschen werden Brüder!" rüstet sich die Europäische Union für heftige Auseinandersetzungen im Innern und nach außen.

Die "Berliner Erklärung"

Die "Berliner Erklärung beginnt zwar mit den Worten "Im Namen der europäischen Völker", doch der Text wurde bis zum letzte Moment vor seiner Unterzeichnung geheim gehalten. Monatelang war über jedes Wort verhandelt und gefeilscht worden. Die Bundeskanzlerin hatte ihre 26 EU-Amtskollegen und auch den Präsidenten der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments bereits zu Jahresbeginn aufgefordert, den Namen eines "Konfidenten" nach Berlin zu melden, um in vertraulichen Gesprächen die Formulierungen der Erklärung zu verhandeln.

Herausgekommen ist dabei eine Ansammlung von Plattitüden, hohlen und verlogenen Phrasen, frommen Wünschen und Absichtserklärungen. Unter der Überschrift "Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint", werden zunächst die "gemeinsamen Ideale" gepriesen: "Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Seine Würde ist unantastbar. Seine Rechte sind unveräußerlich. Frauen und Männer sind gleichberechtigt."

Dann folgt das Streben der EU "nach Frieden und Freiheit, nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, nach gegenseitigem Respekt und Verantwortung, nach Wohlstand und Sicherheit, nach Toleranz und Teilhabe, Gerechtigkeit und Solidarität".

Im Punkt zwei heißt es: "Wir stehen vor großen Herausforderungen, die nicht an nationalen Grenzen halt machen." Doch anstatt auch nur eine dieser Herausforderungen zu nennen, folgt als nächster Satz: "Die Europäische Union ist unsere Antwort darauf. Nur gemeinsam können wir unser europäisches Gesellschaftsideal auch in Zukunft bewahren zum Wohl aller Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union."

Nach einem Appell an "wirtschaftlichen Erfolg und soziale Verantwortung" folgt: "Der Gemeinsame Markt und der Euro machen uns stark." Dem Kampf gegen "den Terrorismus" und "organisierte Kriminalität" wird der Kampf gegen "illegale Einwanderung" zur Seite gestellt und im selben Atemzug betont: "Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dürfen nie wieder eine Chance haben."

Dann heißt es, die Europäische Union wolle "eine führende Rolle" in der Welt einnehmen, allerdings wird diese Führungsrolle auf den Kampf gegen "Armut, Hunger und Krankheiten" in der Welt beschränkt.

Man ist verblüfft, wie viele Lügen auf anderthalb Seiten Platz finden. Die eigenen Analysen und Statistiken der EU zeigen ein diametral entgegengesetztes Bild. Vor nur einem Monat hat die EU-Kommission einen "Bericht über die Lebensqualität in Europa" vorgelegt, der vor wachsenden Gefahren für die Lebensqualität warnt und die schwerwiegenden Folgen von Arbeitslosigkeit und ‚ungelösten Problemen verbreiteter Armut’ hinweist.

Die Kluft zwischen Arm und Reich sei in vielen EU-Staaten gewachsen, heißt es in dem Bericht. Das steigere bei vielen Bürgern auch Stress, Fettleibigkeit und Drogenkonsum. Die Entwicklung verstärke zudem das Risiko psychischer Erkrankungen und von Verbrechen. 72 Millionen Bürger - das sind 15 Prozent der EU-Bevölkerung - leben mit einem Armutsrisiko, weitere 36 Millionen sind gefährdet. Dabei wächst die Gefahr, das Armut von einer Generation zur nächsten vererbt wird.

Erstarkender Nationalismus

Doch die Berliner Erklärung ist nicht nur interessant, weil sie deutlich macht, dass die herrschende Elite in Europa es nicht mehr wagt, der sozialen Realität ins Auge zu blicken. Sie ist selbst auch ein Dokument des wiedererstarkenden Nationalismus in Europa, der sich hinter dem pompösen Einheits-Spektakel des vergangenen Wochenendes verbirgt. Denn auf mehr als ein paar abgedroschene Phrasen konnten sich die 27 Regierungen auch nach wochenlangen Verhandlungen nicht einigen.

Großbritannien wollte bis zuletzt den Hinweis auf den Euro als Ursache für Wirtschaftswachstum und Wohlstand streichen, denn es gehört nicht zum Euro-Verbund. Spanien verlangte ultimativ, dass beim Kampf gegen Terror und organisierte Kriminalität auch die "illegale Einwanderung" genannt werde, um die Festung Europa auszubauen. Polen und Tschechien opponierten bis zum Schluss und ließen sich ihre "Zustimmung" teuer bezahlen. Und selbst diejenigen, die nicht öffentlich aufmuckten, erklärten hinter vorgehaltener Hand, unterschrieben hätten sie gar nichts, denn unterschrieben hat nur die Ratspräsidentin Merkel "im Namen aller", plus die Europäischen Parlaments- und Kommissionspräsidenten.

Paradoxerweise ist es gerade der wachsende Nationalismus in Europa und die damit verbundene Angst, die EU könnte wieder auseinanderbrechen, die das Berliner Phrasen-Manifest in den Händen der deutschen Regierung zu einem nützlichen Instrument macht. Der umstrittenste Satz steht ganz am Ende. Er lautet: "Deshalb sind wir heute, 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge, in dem Ziel geeint, die Europäische Union bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 auf eine erneuerte gemeinsame Grundlage zu stellen."

Berlin interpretiert dies als Freibrief, in der EU als stärkste Wirtschaftsmacht die Führung zu übernehmen, den gescheiterten Verfassungsprozess - der künftig zwar nicht mehr so genannt werden soll - wieder in Gang zu bringen und eine "gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" in der EU zu schaffen.

Nach den Verbrechen, die der deutsche Imperialismus und Militarismus im vergangenen Jahrhundert in Europa und weltweit begangen hat, tritt er heute nach außen zurückhaltend, gemäßigt, sozusagen mit Samthandschuhen auf. Als EU-Ratspräsidentin vermied Merkel jedes scharfe Wort. Nur am Rande wurde sichtbar, wohin die Reise geht. In einem Interview nannte Merkel als Ziel für die Zukunft der EU den Aufbau einer Europa-Armee und klarere EU-Strukturen. "Wir müssen einer gemeinsamen europäischen Armee näherkommen. Die EU-Kommission wird handlungsfähiger werden und zwar mit klar geregelten Zuständigkeiten."

Merkel sprach nicht wie Joschka Fischer (Grüne), der als Ex-Außenminister wenige Tage vor den Berliner Feierlichkeiten eine Europa-Rede an der Humboldt-Universität hielt und angesichts der "Selbstschwächung der Vereinigten Staaten durch ihre Politik des Unilateralismus" mehr europäische Eigenständigkeit in der Weltpolitik und mehr deutsche Führung in Europa forderte.

Die Kanzlerin überließ derartige Kommentare den Medien. So schrieb Martin Winter in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift "Schluss mit lustig", es sei nun genug gefeiert, Europa müsse jetzt entschlossen handeln oder es versinke in der Krise. In einer Welt, die sich schnell verändere, "in der neue Mächte aufsteigen, in der die alte Macht Russland wieder an Stärke gewinnt und in der die Supermacht USA sich selbst beschädigt, in dieser Welt können die Europäer es sich nicht leisten, immer erst dann gemeinsam zu handeln, wenn es gar nicht mehr anders geht."

Merkel deutete ihre Unterstützung für Fisches Humboldt-Rede nur an, als sie seinen Satz wiederholte: "Die Welt wartet nicht auf Europa."

Um sich längerfristig die Führung in Europa zu sichern, hat die Bundesregierung ihre auf sechs Monate befristete Europaratspräsidentschaft bereits auf 18 Monate verdreifacht, indem sie mit den beiden Nachfolgeländern Portugal und Slowenien eine "Trippelpartnerschaft" vereinbarte. In dieser Zeit sollen neue Strukturen in der EU geschaffen werden, die von den stärksten europäischen Mächten dominiert werden. Und wem das nicht schmeckt, der könne die Union ja auch wieder verlassen, wurde am Rande der großen Einheitsshow am vergangenen Wochenende verlautbart.

Siehe auch:
Ex-Außenminister Fischer plädiert für europäische Großmachtpolitik unter deutscher Führung
(22. März 2007)
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