Noch immer sind die Werkstore in Brüssel-Forest besetzt. Nach wie vor halten Arbeiter rund um die Uhr am Feuer vor dem Werkstor Wache. Über Weihnachten versuchten die Betriebsräte mehrfach, die Blockade des Werks zu beenden und die Arbeiter nach Hause zu schicken, aber ohne Erfolg.
Auch am Tor wird viel über die hohen Abfindungen diskutiert. Dies kam auch in unsern Gesprächen zum Ausdruck, zum Beispiel in den Worten von Philip und Christian, zwei Angestellten, die das Ergebnis ablehnen, weil die Zukunft der Angestellten völlig ungeklärt ist. Man sei gezwungen, über einen "Blankoscheck" abzustimmen.
Philip: "Für mich findet hier eine gewaltige Manipulation statt, es ist ein Kinofilm, aber mit schlechtem Szenario. Im April und Anfang Mai [vor den Parlamentswahlen] werden wir erleben, dass Politiker und Gewerkschafter im Fernsehen auftreten und behaupten, wir hätten gewonnen. (...)
Die Gewerkschaften haben sich vor allem für die Abfindungen stark gemacht. Diese Prämien sollten doch ursprünglich für die Leute sein, die schon einen andern Arbeitsplatz haben und sowieso gehen wollten. Jetzt, mit diesen großen Summen, melden sich all jene, die Zweifel über die Zukunft des Betriebs haben; sie nehmen lieber das Geld und gehen. Es ist eine große Versuchung, man manipuliert die Leute damit. Über 1.900 wollen die Prämie nehmen. Die haben doch keine andere Arbeit, das glaube ich nie.
Die Gewerkschaften sind nicht auf ihrem Posten, weder die deutschen noch die belgischen. Die Prämien sind dazu da, um zu verhindern, dass es zum Bruch kommt; sie sollen die Basis ruhig stellen. Was der Patron will, wird durchgesetzt, aber so, dass kein Schaden entsteht. Eine solche Gewerkschaft ist wirklich schändlich. Die Gewerkschaften und die Direktion - jeder spielt seine Rolle."
Christian:"Jetzt sind viele schon gegangen, vor allem die Älteren, die mit Erfahrung. Wenn man alle über 50-Jährigen eliminiert, wo bleibt dann die ganze Erfahrung, die in diesem Werk enthalten ist?"
Die beiden waren besonders frustriert darüber, dass sie immer nur bruchstückhaft, im Nachhinein über den Stand der Gespräche informiert werden, und forderten, sämtliche Verhandlung öffentlich abzuhalten.
Philip: "Wenn der Betriebsrat Verhandlungen mit der Direktion führt, dann schlag ich vor, dass man das öffentlich macht."
Christian: "Wie bei den politischen Diskussionen im Parlament: Man darf zuhören, auch wenn man selbst nichts sagen kann. Bei einem so großen Unternehmen müssten die Verhandlungen in einem öffentlichen Saal stattfinden. Wir haben diese Leute gewählt, damit sie für uns sprechen, denn es können ja nicht alle gleichzeitig reden. Aber es müsste möglich sein, ihre Verhandlungen unmittelbar zu verfolgen.
Das Problem besteht darin, dass wir nach jedem Treffen die Delegierten fragen, was diskutiert wurde, und sie sagen immer: Ja, ihr bekommt einen Bericht. Aber dann dauert es Tage und Wochen, bis wir den Inhalt erfahren. Manchmal gibt es ein Protokoll, aber dann geht eine Kopie an die Direktion, eine an den Betriebsrat und eine an die Presse - und wir? Es ist verrückt, aber wir werden zuletzt informiert."
Auch Alain Desmet(Bild) will am Freitag mit "Nein" stimmen. Er sagt: "Sie haben die Belegschaft seit 1985 von 8.400 auf heute 2.000 reduziert - und wir haben doch hier hervorragende Qualität produziert, oft besser als in Wolfsburg. Jetzt hat man einfach Geld investiert, um Leute loszuwerden und eine kompetente Fabrik zu erhalten mit reduziertem, aber qualifiziertem Personal. Viele nehmen die Abfindung, weil sie genau wissen, dass sie - wegen Krankheit oder aus andern Gründen - sowieso nicht lange bleiben könnten."
Alain ist seit 19 Jahren bei Volkswagen, seit fünf Jahren kontrolliert er Armaturenbretter und andere Anlagen. Er liebt seine Arbeit und sieht es als seine Verantwortung, gute Qualität zu leisten: "Die Leute geben für so einen Wagen mindestens 15.000 Euro aus, da muss jede Schraube genau richtig sitzen."
Mario Mailis(Bild) sorgte sich darüber, dass vielleicht zu wenige das Verhandlungsergebnis ablehnen würden. "Wir müssen sechsundsechzig Prozent Nein-Stimmen erreichen. Sonst wird das nicht anerkannt", sagte Mario. Er arbeitet schon 37 Jahre bei Volkswagen und berichtet:
"Die IG Metall ist schon vor zwei Jahren hier nach Brüssel gekommen und hat uns unter Druck gesetzt. Sie haben uns gesagt, sie hätten in Deutschland dieser oder jener Verschlechterung zugestimmt, und das müssten wir in Belgien auch tun. Wir haben gedacht, wenn schon die IG Metall das akzeptiert, dann müssen wir es auch akzeptieren. Wir wussten nicht, dass sie alle gekauft sind."
Unter den VW-Arbeitern am Tor stehen auch zahlreiche Beschäftigte von Subunternehmen, die teilweise noch härter betroffen sind, weil es für sie keine Abfindungen gibt. Zum Beispiel hat der Produzent von Autositzen, Johnson Controls, die Entlassung von 230 Arbeitern seiner 580-köpfigen Belegschaft angekündigt. Der belgische Minister für Arbeit und Wirtschaft, Benoît Cerexhe (CDH), hat errechnet, dass bei den 35 Zulieferern in Belgien, die bisher für die Golf-Produktion tätig waren, bis zu 2.300 Beschäftigte von Entlassung betroffen sein könnten.
Kilauli Najim(links im Bild) arbeitet seit 17 Jahren für die dänische Reinigungsfirma ISS, die im VW-Werk die industrielle Reinigung erledigt. Kilauli harrt mit einer ganzen Gruppe von Kollegen vor dem Werk aus und solidarisiert sich mit der VW-Belegschaft. Er sagt: "Wir sitzen hier nicht für eine Abfindung, sondern für unsere Arbeitsplätze. Die schließen die Fabrikhallen, wo ich arbeite. Davon sind fast hundert Leute betroffen. Von uns werden sie nur noch zwanzig weiterbeschäftigen.
Wir arbeiten da drin mit unglaublich gesundheitsschädlichen Materialien. Unsere Gesundheit ist denen ganz egal. Deshalb sind viele schon gegangen, die wollten es gar nicht weiter machen. Uns haben sie ganz am Anfang sogar einmal einen Arbeitsplatz bei VW am Band versprochen, aber daran glaube ich nicht mehr."
Auch Jessica(Bild) gehört nicht direkt zu VW, sondern zu einem Subunternehmen, der Firma Arvin Meritor, die im VW-Werk Brüssel-Forest Türen für den Golf und den Polo montiert. Jessica berichtet, sie sei bereits entlassen worden: "Unsere Belegschaft ist parallel zu Volkswagen im Streik, denn bei uns haben sie schon die Zeitarbeiter und die befristeten Arbeiter entlassen, außerdem dreißig von den unbefristeten Arbeitern. Von den 33 Angestellten können nur 14 bleiben. Das nennen sie kollektive Massenentlassungen’. Ich würde gerne bei VW arbeiten, aber im Moment weiß ich nicht, was aus mir wird."
Die stalinistische PTB (Parti du Travail de Belgique) verteilte einen Offenen Brief, in dem sie einen Kampf zur Verteidigung der Arbeitsplätze rundheraus ablehnt. Sie will lediglich erreichen, dass es für VW teurer wird, die Belegschaft auf 2.200 zu reduzieren, als wenn 3.000 Stellen erhalten blieben.
Die PTB fordert den belgischen Staat deshalb auf, von VW Forest fast eine Milliarde Euro an Steuererleichterungen und Subventionen der letzten zwanzig Jahre zurückzuverlangen, falls die Arbeitsplätze in Forest die Zahl 3.000 auch nur um einen Arbeitsplatz unterschreiten würden.
Dann zerbricht sich die PTB den Kopf von VW, welche Produktion nach Brüssel verlagert werden sollte. Sie tritt nicht für die Erhaltung des Golf in Brüssel ein, sondern für eine Konzentration anderer Einheiten in Brüssel, wie zum Beispiel des Polo, der bisher vor allem im Werk Pamplona in Spanien gefertigt wird.
Die PTB ist sich natürlich bewusst darüber, dass eine solche Politik bedeutet, einen Standort gegen den andern auszuspielen. Als Rechtfertigung argumentieren sie - in Anlehnung an Bernd Osterloh, der mit fast den gleichen Worten die Konzentration des Golf in den deutschen Standorten gerechtfertig hatte: "Wenn man [die Produktion von] mehr Wagen fordert, um ein Maximum an Arbeitsplätzen in Forest sicherzustellen, dann ist das nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit einer Verschlechterung an andern Standorten".
Im gleichen Brief wird die IG Metall gegen Kritik in Schutz genommen; es heißt da: "Die jüngste Verlängerung der Arbeitszeit auf 33,6 Stunden kann nicht als Verrat’ der IG Metall erklärt werden, wie man am Streikposten zuweilen hören konnte. Wie wir, versuchen auch die deutschen Arbeiter, das Kräfteverhältnis gegen die Angriffe des gleichen Kapitalisten zu verbessern, manchmal mit großem und manchmal mit geringerem Erfolg."