Sieben Minuten dauerte der Beifallssturm, den der britische Premierminister Tony Blair nach seiner letzten Rede vor einem Labour-Parteitag erhielt. Daran lassen sich zwei Dinge ablesen: Erstens, dass Speichellecker und Karrieristen sich mit allem abfinden, und zweitens, dass Blair dem, was einmal die Labour Party war, tatsächlich den Todesstoß versetzt hat.
Kein anderes Publikum in Großbritannien hätte sich diese Selbstbeweihräucherung Blairs ohne Protest gefallen lassen.
Blair erklärte, er habe getan, was getan werden musste. Die Umwandlung der Labour Party in eine bekennende Partei der Großkonzerne und der Finanzelite hätte nach Blair in Wirklichkeit schon in den 1960er Jahren stattfinden sollen. Als Labour-Premierminister Harold Wilson damals sein rechtes Manifest "In Place of Strife" ("Anstelle von Konflikten") vorlegte und für eine Beschränkung militanter Arbeitskämpfe eintrat, wurde ihm entgegengehalten, dies sei "spalterisch, unnötig und verprelle die Kernwählerschaft".
Wilson gab nach, und es blieb Margret Thatcher und den Konservativen vorbehalten, die organisierte Arbeiterklasse anzugreifen und zu bezwingen: "In den 1980er Jahren wurden einige für das Land notwendige Dinge getan. Das ist die Wahrheit", sagte Blair.
Sein Loblied auf die Zerschlagung des Sozialstaats, das brutale staatliche Vorgehen gegen die Bergarbeiter und andere Teile der Arbeiterklasse und die Schaffung eines Millionen umfassenden Heeres von Arbeitslosen und Armen stieß bei Blairs Parteitagspublikum auf keine Opposition. Alle stimmen überein, dass dies der notwendige Preis war, um Großbritannien in ein Billiglohnland und eine Spielwiese für die Reichen zu verwandeln.
Als der Hass in der Bevölkerung auf Thatcher und die Tories so weit angewachsen war, dass sie keine Wahl mehr gewinnen konnten, war Blairs Stunde gekommen. Er vollendete den Bruch der Labour Party mit der Arbeiterklasse und verwandelte sie in Partei, die der globalen Finanzoligarchie genauso gut diente wie die Tories.
Blair teilte den Parteitagsdelegierten mit, "Wir haben uns über konventionelles politisches Denken hinweggesetzt und es dadurch verändert", und meinte damit die Abkehr von der reformistischen Vergangenheit der Labour Party. Dies bereitete den Weg für eine von ihm so genannte "neue politische Koalition". Gemeint ist das Bündnis mit Teilen der gehobenen Mittelschichten, die in die Labour Party strömten, und die Ausrichtung der Partei auf die Superreichen.
"Die Kernwähler dieser Partei kommen heute nicht mehr aus den alten Industrieregionen oder den Innenstädten und repräsentieren keineswegs die Interessen einer bestimmten Schicht" - womit Blair die Arbeiterklasse meint. Die Labour Party repräsentiere nunmehr "das ganze Land".
Dies habe New Labour drei Amtsperioden beschert, behauptete Blair. Der Opposition in der Bevölkerung kann darum auch nicht nachgegeben werden, weil die Unterstützung Rupert Murdochs und anderer Milliardäre von der Bereitschaft der Labour Party abhängt, die Diktate der Finanz- und Wirtschaftselite auch weiterhin umzusetzen.
Was bedeutet es, wenn man Blair folgt? Ihm zufolge besteht Gefahr nicht darin, dass die Partei von ihrer Marktpolitik abrückt, sondern dass sie nicht die Notwendigkeit erkennt, noch viel weiter zu gehen.
Vor allem aber solle niemand auf die Idee kommen, wegen dem Irak oder einem anderen Grund mit den USA zu brechen.
"Ja, es ist manchmal nicht einfach, der stärkste Verbündete Amerikas zu sein", gab Blair zu. Aber "die Wahrheit ist: nichts von alledem, was wir erreichen wollen, von den Welthandelsgesprächen über globale Erwärmung bis hin zu Themen wie Terrorismus und Palästina, kann ohne Amerika erreicht werden oder [beinahe hätte er es vergessen zu erwähnen] ohne Europa. ... Wenn man erst auf Abstand gegangen ist, könnte es schwer werden, einander wieder nahe zu kommen."
Kaum ein Auge blieb trocken im Saal. Delegierte zerflossen in Tränen, einige hielten sogar Plakate mit der Aufschrift hoch: "Geh nicht!". Eine Handvoll blieb ruhig sitzen - ein Ausdruck ihres höchst erbärmlichen Protests.
Angesichts der Stimmung auf dem Parteitag in Manchester konnte man sich mit Recht fragen, warum in der Partei in den vergangenen Monaten so heftig darüber gestritten wurde, ob Blair baldmöglichst zurücktreten solle oder nicht.
Die politische Wirklichkeit, dass Blair und die Labour Party zutiefst unpopulär sind, drang nur einmal in den Saal vor - und nur, weil er selbst diese Frage ansprach.
Blair wich von der allgemeinen Linie seiner Rede ab, um eine Anekdote zu erzählen. Seine Söhne hatten Wahlkampf für die Labour Party gemacht, als ein Mann sie anschrie: "Ich hasse diesen Tony Blair!" "Das übliche Zeug", sagte er unter Gelächter.
Blair kann eine solche Geschichte ohne Scham erzählen, weil er seine Gleichgültigkeit gegenüber der öffentlichen Meinung mit Stolz vor sich herträgt. Zwölf Jahre lang hat das auch seine Partei getan. Solange Macht und Amt ihr gesellschaftliches Fortkommen garantierten, gab es kein Prinzip und keinen politischen Standpunkt, die von den Labour-Funktionären nicht geopfert worden wären.
Deswegen erhoben sie sich in Solidarität mit einem Parteivorsitzenden, der erklärte; "Die Leute sagen, ich würde die Partei und ihre Traditionen verachten. Das stimmt nicht. Ich liebe diese Partei. Die einzige Tradition, die ich verachtet habe, waren die Wahlniederlagen."
Aber nun droht Labour der Verlust der Ämter und Posten, und dies ist der einzige Grund, warum seine einstige Gefolgschaft Blair loswerden will. Ihre Tränen waren eine Mischung aus Nostalgie angesichts der goldenen Jahre unerschütterlicher Mehrheiten, als sie tun konnten, was sie wollten, und der Angst vor dem, was jetzt kommt.
Der Abgeordnete Sion Simon, einer der fünfzehn Blair-Anhänger, die den Premierminister kürzlich mit einem Offenen Brief zum Rücktritt aufgefordert hatten, überschlug sich geradezu: "Es war eine große Rede. Er ist der größte Premierminister, den wir je hatten."
Nur das Fehlen jeder echten Opposition innerhalb der Labour Party ermöglichte es Blair, eine Rede zu halten, die Murdochs Sun als die "beste seines Lebens" beschrieb. Gleichfalls hieß es in dem rechten Boulevardblatt, dass Blair immer noch das "stärkste Pfund" seiner Partei sei: "Den in Tränen aufgelösten Delegierten wurde ihre ungeheure Undankbarkeit unmissverständlich klar gemacht."
Vor dem Parteitag gab es Spekulationen, wie grob Blair angefasst und wie nachdrücklich der Führungswechsel eingefordert werde, ob dies seinen Amtsverzicht beschleunigen und zu einem Politikwechsel bei der Labour Party führen könnte. Aber insofern es überhaupt Opposition innerhalb der Partei gab, hatte sie sich schon lange vor Blairs Auftritt in Luft aufgelöst.
Zwei Ereignisse verdienen besondere Erwähnung.
Das erste ist der kriecherische Auftritt von Schatzkanzler Gordon Brown, der seit Jahren als natürlicher Nachfolger Blairs gilt. Von Browns Rede war erwartet worden, dass er darin seine Absicht der Amtsübernahme bekannt geben werde, doch der langjährige Finanzminister nutzte die Gelegenheit am Montag, um sich bei Blair für die aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten zu entschuldigen und ihm zu versichern, welche Ehre es bedeute, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Das zweite ist die aufschlussreiche Reaktion der Delegierten auf die außenpolitische Debatte, d.h. über die Fragen, bei denen die Feindseligkeit der Öffentlichkeit gegen Blair am stärksten ist. Der Tagungssaal war halb leer und nur ein einziger Delegierter kritisierte den Irakkrieg.
Im Angesicht ihrer Krise wird sich die Labour Party nur in eine Richtung bewegen, und zwar in die von Blair vorgezeichnete. Sein "Rat" lautet, die konservativen Tories von rechts anzugreifen.
Blair verspottete den Parteichef der Tories David Cameron, "der sich beim Anti-Amerikanismus anbiedert, indem er auf Abstand zu Amerika geht. ... Britischen Einfluss aus parteitaktischen Gründen zu opfern, ist eines Premierministers unwürdig", stellte Blair fest. Außerdem warf er Cameron Nachgiebigkeit in Fragen der illegalen Einwanderung und Kriminalität vor, und griff ihn an, weil er sich gegen die Einführung von Personalausweisen ausspricht und die Erklärung einer Grundrechtecharta vorschlägt.
Sicher ist auch, dass die Fraktionskämpfe in der Partei nicht aufhören werden. Blair vermied es ein weiteres Mal, Brown als seinen Nachfolger zu benennen. Er behandelt seinen Rivalen mit der gleichen Verachtung, die diesem auch von Blairs Verbündeten und Teilen der Bourgeoisie entgegenschlägt.
Berüchtigt sind die Worte eines engen Mitarbeiter Blairs, der Brown einst als "psychisch defekt" bezeichnete. Wenn die beiden auch sonst keine Meinungsverschiedenheiten haben, besteht für das Lager der Blair-Anhänger die Schwäche des Schatzkanzlers vor allem darin, dass es ihm an dem Killerinstinkt mangelt, der den jetzigen Premierminister auszeichnet. Brown überließ Blair einst die Parteiführung - wird er nicht, fragen sie sich, als Premierminister ebenso wenig standhaft sein, wenn er auf Widerstand trifft?
Es gibt klare Anzeichen, dass von den Blair-Anhängern eine alternative Führungsfigur gegen Brown aufgebaut wird. Kandidaten dafür sind solche Gestalten wie Bildungsminister Alan Johnson und Innenminister John Reid.
Das Problem der Labour Party besteht darin, dass Blair beim Umbau der Partei so überaus erfolgreich war. Labour genießt in der Tat keine Unterstützung mehr unter der alten Wählerschaft in den Industriezentren und Innenstädten. Das bedeutet aber auch, dass die Partei keine wirkliche Basis mehr "im ganzen Land" hat.
Labour und Tories kämpfen um die Unterstützung der Wirtschaft und einer schmalen kleinbürgerlichen Schicht. Beide Parteien vertreten eine Politik, die den Interessen der großen Bevölkerungsmehrheit widerspricht. Die Labour Party steht dabei in vielen Fragen rechts von den Tories.
Das ist eine historisch beispiellose Situation und bedeutet für den britischen Kapitalismus eine Krise seiner Herrschaftsform.
New Labour ist das Produkt einer unglaublichen politischen Kurzsichtigkeit. Die Labour Party hat, als Regierungspartei oder in der Opposition, für die Stabilität des britischen Imperialismus immer eine entscheidende politische Rolle gespielt. Sie war eine Alternative zu den Tories und vermittelte der arbeitenden Bevölkerung den Eindruck, sie könne, zumindest innerhalb gewisser Grenzen, die sozialen Interessen der Arbeiter vertreten. Sie war der politische Flügel einer nach Millionen zählenden Gewerkschaftsbewegung, die versprach, die schlimmsten Exzesse des Kapitalismus zu verhindern und dadurch anständig bezahlte Arbeitsplätze, eine kostenlose Ausbildung und Gesundheitsversorgung sowie eine auskömmliche Rente zu garantieren.
Heute stehen die Labour Party und die Gewerkschaften für die Zerschlagung von allem, was sie selbst einmal erreicht hatten. Millionen haben sich von Labour abgewendet, weil sie feststellen mussten, dass diese Partei nicht mehr für sie spricht. Gegenwärtig nimmt das die Form einer enormen Wahlenthaltung und einer generellen Ablehnung des gesamten politischen Systems an. Aber das kann und wird nicht das Ende vom Lied sein.
Die Delegierten in Machester hoffen, dass ein neuer Vorsitz und eine neue politische Verpackung das Projekt "New Labour" retten können. Die Enttäuschung wird ihnen nicht erspart bleiben.
Niemand lässt sich mehr hinters Licht führen, wenn versucht wird, eine rechte Gruppierung als "Arbeiterpartei" zu verkaufen. Blair mag glauben, eine neue Epoche eingeläutet zu haben. Doch seine Regierungszeit bedeutete vielmehr das Ende einer Epoche, in der Sozialreformen und anderer Maßnahmen eingesetzt wurden, um den Klassenkampf zu dämpfen.
Die sozialen Impulse, die einst zur Entstehung der Labour Party führten, müssen auf anderem Wege Ausdruck finden: durch den Aufbau einer wirklich sozialistischen Partei. Nur durch eine solche Partei kann die Arbeiterklasse ihre Arbeitsplätze, ihren Lebensstandard und ihre demokratischen Rechte verteidigen und gegen die imperialistische Gewalt kämpfen, die sich gegen die Menschen weltweit richtet.