Große Koalition schreibt Rentner ab

Der Vizekanzler der Großen Koalition, Bundesminister für Arbeit und Soziales Franz Müntefering (SPD) war deutlich: "Von der gesetzlichen Rente alleine kann der Lebensstandard im Alter künftig nicht mehr gehalten werden." Das erklärte er bei der Vorstellung der beiden Berichte zur Entwicklung der Rentenfinanzen, die das Bundeskabinett am Mittwoch abgesegnet hat.

Erst vor wenigen Wochen hatte Müntefering rigoros durchgesetzt, dass das Renteneintrittsalter früher als geplant von 65 auf 67 Jahre erhöht wird. Nun prophezeien der "Rentenversicherungsbericht" und der "Alterssicherungsbericht", dass sich das Rentenniveau für die rund 16 Millionen Rentner bereits bis 2009 spürbar verringert.

Der Durchschnittsrentner, der in diesem Jahr in den Ruhestand geht, kann mit einem "Sicherungsniveau" von 52,2 Prozent des durchschnittlichen Bruttoeinkommens rechnen. Der Wert bezieht sich auf die Durchschnittseinkommen nach Abzug der Sozialabgaben aber vor Steuern. Schon 2009 sinkt dieser Wert auf nur noch 49,9 Prozent, 2019 dann auf 46,3 Prozent. Bis 2030 soll das Niveau dem Rentenbericht zufolge sogar nur noch 43 Prozent betragen.

In den Modellrechnungen ergibt sich daraus eine monatliche Bruttostandardrente von 1.176 Euro für das laufende Jahr. Angesichts geplanter Nullrunden verändert sich der Wert in den Modellrechnungen für 2007 und 2008 nicht und steigt dann auf 1.180 Euro. 2014 soll er mit 1.263 Euro kaum spürbar darüber liegen. Für 2019 sind 1.414 Euro in Aussicht gestellt.

Real - unter Berücksichtigung der Inflationsrate - wird die Rente also selbst nach diesen Modellrechnungen stagnieren oder sinken. Dabei gehen die Rechnungen immer noch von einem durchschnittlichen Lohnzuwachs von 2,5 Prozent pro Jahr und einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent aus.

Diese Zahlen sind in den letzten Jahren eher selten erreicht worden, in den Jahren 2003 und 2004 lag die durchschnittliche Lohnerhöhung bei jeweils 1,6 Prozent. Es ist bei den derzeitigen Angriffen auf die Löhne überhaupt nicht einzusehen, warum dies in der Zukunft besser werden sollte. So sind weitere Rentenkürzungen vorprogrammiert.

Der zwölfköpfige Sozialbeirat der Bundesregierung unter Leitung des Wirtschaftsweisen Bert Rürup (SPD) plädiert nach Informationen des Handelsblatts dafür, die Renten notfalls auch absolut - also nicht nur real, unter Berücksichtigung der Preissteigerung - zu kürzen.

Die Aufforderung Münteferings, ein jeder solle privat für das Alter vorsorgen, ist ein Schlag ins Gesicht von Millionen Arbeitern, die schon jetzt keinen Cent übrig haben, um etwas für ihre Altersversorgung beiseite zu legen, ganz zu schweigen von den Millionen Arbeitslosen, denen ständig die Arbeitslosen-Unterstützung und ab nächstem Jahr größtenteils auch noch die Rentenbeiträge gekürzt werden.

Ab dem 1. Januar 2007 verringert die Regierung die Rentenbeiträge für die Bezieher des Arbeitslosengeldes II (Hartz IV) von monatlich 78 auf 40 Euro. Dies mindert die Einnahmen der Rentenkasse um jährlich etwa 2,2 Milliarden Euro. Auch dies und die bereits im Koalitionsvertrag getroffene Entscheidung, den jährlichen staatlichen Zuschuss in die Rentenkasse nicht zu erhöhen (und wenn möglich zu kürzen), wird zusätzliche Löcher in die Rentenkasse reißen und den Vorwand für weitere Kürzungen liefern.

Es lässt sich also keineswegs voraussagen, ob der Durchschnittsrentner im Jahre 2019 tatsächlich monatlich 1.414 Euro Rente erhalten wird. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass es auf keinen Fall mehr sein wird, wenn Müntefering und Co. nicht das Heft aus der Hand genommen wird.

Bisher haben alle Bundesregierungen den wirklichen Zustand der Altersvorsorge verschleiert und bei den Rentenprognosen gelogen, um die Wählerstimmen der Rentner nicht zu verlieren. Sie sind von Wirtschafts- und Lohnentwicklungen ausgegangen, die unrealistisch waren und nicht erreicht wurden. Die Große Koalition behauptet nun, damit Schluss zu machen. In ihrer aktuellen Langfristeinschätzung verkündet die Bundesregierung, dass die so genannte Standardrente im Jahr 2009 um fast 22 Prozent niedriger liegen wird, als dies Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) noch vor zehn Jahren angekündigt hatte.

Während Franz Müntefering die erbarmungslosen Zahlen aus seinem Ministerium als neue Offenheit und Ehrlichkeit preist, steckt etwas völlig anderes dahinter. Der ehemalige SPD-Vorsitzende und Vizekanzler schreibt die Rentner und damit einen Großteil ehemaliger SPD-Wähler ab. Er macht damit deutlich, dass er auf Wahlen und den Wählerwillen keinerlei Rücksicht mehr nimmt. Sein aggressives und rücksichtsloses Vorgehen gegen die eigene Wählerbasis in der Rentenfrage ist symptomatisch für eine Regierung, die aus einem parlamentarischen Betrugsmanöver hervorgegangen ist und sich immer deutlicher auf autoritäre Herrschaftsformen zu bewegt.

Müntefering verkörpert etwas zutiefst Krankhaftes und Reaktionäres in der SPD. Immer dann, wenn sich die soziale Krise verschärfte, hat sich diese Partei den Profitinteressen der Konzerne, Banken und Wirtschaftsverbände untergeordnet, diese zum nationalen Interesse erklärt und ohne Rücksichtnahme auf die eigene Partei bis zur Selbstaufgabe für diese nationalen Interessen gekämpft.

Als vor mehr als neunzig Jahren die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den Kriegskrediten des Kaisers zustimmte, tat sie das im Namen des Vaterlands und der Nation. Als vier Jahre später das bis dahin beispiellose Morden des Krieges eine Revolution auslöste, die den Kaiser stürzte und die kapitalistische Herrschaft bedrohte, erklärte der spätere SPD-Reichswehrminister Gustav Noske: "Einer muss den Bluthund machen", und ließ den Aufstand im Blut ersticken. 1932 unterstützte die SPD die Wahl des Weltkrieggenerals Hindenburg zum Reichspräsidenten, der kurz darauf Hitler zum Kanzler ernannte. Und als die Konzentrationslager wieder offen waren, kämpfte die SPD unter Kurt Schumacher, der selbst zehn Jahre im KZ gesessen hatte, für den Erhalt der deutschen Nation auf kapitalistischer Grundlage.

Müntefering verkörpert diese Tradition weniger aufopferungsvoll, dafür mit einem Übermaß an bürokratischer Arroganz und Zynismus. In einem Interview verband er seine Drohung, dass Beschäftigte auch nach jahrelanger Beitragszahlung nicht auf staatliche Rente hoffen dürften, mit dem Hinweis, wenn sie keine private Vorsorge träfen, könnten sie im Alter auf der Straße Balalaika spielen oder "Lotto spielen".

Seit die französische Königin Marie Antoinette am Vorabend der französischen Revolution auf die Nachricht, dass das Volk in Paris hungere, lapidar antwortete: "Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen", hat man derartige Kaltschnäuzigkeit nicht mehr gehört.

Siehe auch:
Rente mit 67: Altersarmut vorprogrammiert
(1. März 2006)
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