Am Montag legten in Baden-Württemberg mehrere Tausend Beschäftigte im Öffentlichen Dienst die Arbeit nieder. Bei der Müllabfuhr, in Krankenhäusern, Kindertagesstätten, Bibliotheken, Hallenbädern sowie in vielen anderen kommunalen Einrichtungen und Behörden wurde gestreikt. Der Ausstand im Südwesten soll als Auftakt für einen unbefristeten Streik im ganzen Bundesgebiet dienen.
In der kommenden Woche werde der Streik auf Hamburg und Niedersachsen ausgeweitet, teilte die zuständige Gewerkschaft Verdi mit. Darüber hinaus finden gegenwärtig Urabstimmungen in Bayern, Sachsen, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland statt. Die Beschäftigten der Kommunen wollen durch den Arbeitskampf vor allem die Verlängerung der Wochenarbeitszeit von 38,5 auf 40 Stunden und die damit verbundenen Lohnabstriche verhindern.
Der letzte große bundesweite Streik im Öffentlichen Dienst fand zur Zeit der Kohl-Regierung statt und liegt bereits 14 Jahre zurück.
Bei den kommunalen Arbeitgebern, Wirtschaftsverbänden, einigen Politikern und Medienvertretern löste der Streik sofort heftige Kritik und Widerspruch aus. Niedersachsens Finanzminister Hartmut Mölling (CDU), der den Vorsitz der Tarifgemeinschaft der Länder (ZdL) inne hat, forderte, alle - auch die Beschäftigten auf kommunaler Ebene - müssten angesichts der desolaten Finanzlage der öffentlichen Kassen Einschränkungen hinnehmen. Sein Amtskollege in Baden-Württemberg Gerhard Stratthaus (CDU) warnte vor einer Ausdehnung des Streiks auf die Landesbediensteten.
Der Vorsitzende des Sachverständigenrates der Bundesregierung Bert Rürup sagte im Deutschlandfunk, ihm falle es sehr schwer, einen Grund für den Streik zu erkennen. In allen Bereichen der Wirtschaft müsse länger gearbeitet werden. Außerdem befürchte er, dass der Streik negative Auswirkungen auf die ohnehin noch immer schwache Konjunktur habe.
Der Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände Dieter Hundt forderte die Gewerkschaft auf, den Streik sofort zu beenden. Die Arbeitsniederlegung sei unverantwortlich und schade Deutschland, erklärte Hundt. In dasselbe Horn stieß der CSU-Politiker Max Straubinger, der in der Berliner Zeitung erklärte, angesichts der sicheren Arbeitsplätze im Öffentlichen Dienst habe er kein Verständnis für den Streik, der umgehend beendet werden müsse.
Einige SPD-Politiker, wie der arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Klaus Brandner, versuchten zu beschwichtigen und erinnerten daran, dass die Gewerkschaft in den vergangenen Jahren sehr große Lohnzurückhaltung habe walten lassen.
Die Behauptung, der Streik sei illegitim, weil die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst ohnehin über Privilegien und sichere Arbeitsplätze verfügten, ist völlig haltlos. Abgesehen von Beamten gibt es für Arbeiter und Angestellte im Öffentlichen Dienst schon lange keine Arbeitsplatzsicherheit mehr. Seit Anfang der neunziger Jahre wurde jede dritte Stelle in den Kommunen abgebaut - eingespart, verlagert oder privatisiert. 2,2 Millionen Arbeitsplätze sind im Öffentlichen Dienst in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten vernichtet worden.
Dazu kommt, dass bei vielen Neueinstellungen nur noch befristete Verträge abgeschlossen oder Beschäftigte in Teilzeitjobs gezwungen werden, die extrem arbeitsintensiv und schlecht bezahlt sind.
Schlaglichtartig wirft der Streik ein Licht auf den sozialen Zustand des Landes.
In den vergangenen sieben Jahren, unter der rot-grünen Bundesregierung, haben die sozialen Angriffe, die schon unter der Kohl-Regierung begannen, deutlich zugenommen. Die leeren Kassen der Länder und Kommunen, die gegenwärtig zur Begründung immer neuer Kürzungen und Sparmassnahmen angeführt werden, sind ein Ergebnis der systematischen Umverteilung von unten nach oben. Die Steuergeschenke für Besserverdienende und Reiche wie auch für Unternehmen führten zu ständig sinkenden Steuereinnahmen der öffentlichen Hand, während gleichzeitig immer größere finanzielle Belastungen vom Bund auf die Länder und Kommunen abgewälzt wurden.
Viele Unternehmen brüsten sich damit, dass sie nicht einen einzigen Cent Steuern bezahlen. Die wachsende Finanzkrise der Länder und Kommunen wurde seit Jahren systematisch auf die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst abgewälzt. Das ist der Grund, warum der Streik auf große Unterstützung stieß. Bei der Urabstimmung in Baden-Württemberg stimmten 95 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder für Streik.
Nahezu jeder Streikende, der in den Medien zu Wort kommt, betont, dass sich der Arbeitskampf nicht nur gegen die 18 Minuten Mehrarbeit pro Tag richte, sondern dass die entsprechende Entscheidung der öffentlichen Arbeitgeber nur das Fass zum Überlaufen gebracht habe. Seit Jahren gehe es bei den Löhnen und Arbeitsbedingungen nur noch abwärts.
"Irgendwann ist Schluss. Wir können nicht alles hinnehmen", erklärte Uko Gran, der seit vielen Jahren bei der Müllabfuhr in Mannheim beschäftigt ist, auf dem Weg zur Gewerkschaftskundgebung gegenüber einem Fernsehreporter. Und sein Kollege beschrieb, wie sich die Arbeit in den vergangenen Jahren verändert hat. Statt früher vier, arbeiten jetzt nur noch drei Beschäftigte in einem Team zur Entsorgung der Müllcontainer. Die Pausen seien immer weiter gekürzt worden, obwohl die Arbeitsbelastung ständig zunehme.
"Fast 95 Prozent Zustimmung erzielt ein Streik nur bei real existierender Wut", kommentiert Astrid Hölscher in der Frankfurter Rundschau die Entwicklung und betont: "Das ist vielleicht der größte Fehler der Arbeitgeber, dass sie die Missstimmung in der Belegschaft sträflich unterschätzt haben. Nach Jahren der Reallohnverluste, der Arbeitsverdichtung, des Stellenabbaus waren diese 18 Minuten genau eine Zumutung zu viel."
Aber nicht nur die öffentlichen Arbeitgeber und die Regierung haben die wachsende Wut in der Bevölkerung unterschätzt, sondern auch die Gewerkschaft, die in den vergangenen Jahren jeden Sozialabbau mitgetragen hat. Im vergangenen Herbst hat Verdi einen Tarifvertrag unterzeichnet, den sie nur mit großer Mühe gegenüber den Mitgliedern durchsetzen konnte.
Die Gewerkschaft stimmte zu, dass erstmals leistungsbezogene Entgelte eingeführt und eine Vielzahl von Zulagen gestrichen wurden. Die Löhne und Gehälter wurden praktisch bis 2007 eingefroren. Mit dem Argument, einem weiteren Outsourcing vorbeugen zu wollen, akzeptierte Verdi die Einführung einer neuen Niedriglohngruppe und führte damit Billiglohnarbeit per Tarifvertrag ein.
Der Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds Gerd Landsberg pries damals den Vertrag mit den Worten: "Der Weg ist frei für einen zukunftsfähigen öffentlichen Dienst in den 13.000 Städten und Gemeinden." Verdi war sogar bereit, die eigentlich festgelegte Arbeitszeit von 38,5 Stunden (West) und 40 Stunden (Ost) durch eine Öffnungsklausel in Frage zu stellen.
Diese Nachgiebigkeit der Gewerkschaft ermutigte die öffentlichen Arbeitgeber nun, nach wenigen Monaten den Tarifvertrag auszuhebeln und gestützt auf die Öffnungsklausel eine Verlängerung der Arbeitszeit durchzusetzen.
Nun ist die Gewerkschaft darauf konzentriert, die wachsende Radikalisierung, die mit dem Streik begonnen hat, unter Kontrolle zu halten. Während sie auf Kundgebungen mit markigen Worten den "Vertragsbruch" der öffentlichen Arbeitgeber anprangern und davon sprechen, dass der Streik heftigere Formen als 1992 annehmen werde, versuchen die Verdi-Funktionäre gleichzeitig den Streik auf einzelne Schwerpunkte zu beschränken und einen bundesweiten Arbeitskampf zu verhindern.
Vor allem befürchten sie, dass angesichts der Massenentlassungen in vielen Industriebetrieben, die bereits bei AEG in Nürnberg zu einem Streik geführt haben, ein flächendeckender Streik im Öffentlichen Dienst zum Auslöser für eine branchenübergreifende Mobilisierung werden könnte.
Die Bundesregierung hat sich bisher in offiziellen Verlautbarungen zurückgehalten. Es gibt aber nicht den geringsten Zweifel daran, dass Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU), der bereits angekündigt hat, die Bundeswehr im Sommer zum Schutz der Fußballweltmeisterschaft einzusetzen, zu härtesten Maßnahmen greifen wird, falls die Streikbewegung der Kontrolle der Gewerkschaften entgleitet.