Am Dienstag wurde die Vorsitzende der CDU Angela Merkel im Plenarsaal des Berliner Reichstagsgebäudes wie erwartet zur Bundeskanzlerin gewählt. Von den 448 Abgeordneten der Großen Koalition aus Union und SPD bekam sie 397 Stimmen. 51 Mitglieder der Regierungsfraktionen verweigerten ihr die Unterstützung.
Einer der ersten Gratulanten war Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD). Als er ihr anschließend das Kanzleramt übergab, bedankte sich Angela Merkel für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit in den vergangenen Wochen während den Koalitionsverhandlungen. Die SPD hatte in den Tagen vor der Kanzlerwahl eine intensive Kampagne organisiert, um sicherzustellen, dass möglichst alle sozialdemokratischen Abgeordneten für Merkel stimmen.
Der neue SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck, der bisherige Verteidigungsminister, hatte sich nach eigenen Angaben jeden schwankenden SPD-Abgeordneten "zur Brust genommen". Am Abend vor der Wahl hatte Struck sogar die Kanzlerkandidatin persönlich zu einer SPD-Fraktionssitzung eingeladen, um ihr noch einmal die Möglichkeit zur Eigenwerbung zu geben.
Merkel wusste, dass sie in ihrer eigenen Partei ebenso wie in der Schwesterpartei CSU keine uneingeschränkte Unterstützung hat. Der ehemalige CDU-Fraktionschef Friedrich Merz hatte den Koalitionsvertrag heftig kritisiert und erklärt, er vermisse darin vollständig die Handschrift der Union. Hinter vorgehaltener Hand kritisieren viele Unionspolitiker Merkels Wahlkampf, der dazu geführt hatte, dass die CDU/CSU ihren anfänglichen Vorsprung von mehr als zwanzig Prozent gegenüber der SPD fast vollständig einbüßte. Außerdem wird der Kanzlerin angelastet, dass sie jegliche parteiinterne Auseinandersetzung über das Wahlfiasko unterdrückt.
Angesichts dieser Situation war Merkel stark auf die Stimmen der SPD angewiesen und bekam sie auch. Weil die Abstimmung geheim durchgeführt wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, aus welchem Teil des Regierungslagers die 51 Neinstimmen und Enthaltungen kamen. Es ist aber durchaus möglich, dass mehr Unionsabgeordnete als Sozialdemokraten gegen Merkel stimmten.
Unmittelbar nach der Stimmauszählung und nachdem die neue Kanzlerin und alle Minister ihre Ernennungsurkunde aus der Hand von Bundespräsident Horst Köhler erhalten hatten, organisierte Merkel die erste Kabinettsitzung ihrer Regierung. Auch am Kabinetttisch sind die Sozialdemokraten in der Überzahl, zumindest wenn man die Ministerposten zählt.
Die SPD stellt neben dem Arbeitsminister und Vizekanzler Franz Müntefering auch den Finanzminister, Außenminister und Justizminister, wie auch die Minister für Verkehr, Gesundheit, Umwelt und Entwicklungshilfe. Acht sozialdemokratische Minister sitzen sechs Unionsministern gegenüber: Wirtschaft, Verteidigung und Inneres sowie Landwirtschaft, Familie und Bildung. Nur wenn man die Kanzlerin und den Chef des Kanzleramts mitzählt, ergibt sich eine paritätische Besetzung der Regierung.
Die Medien geben sich große Mühe, die Regierung Merkel im besten Licht erscheinen zu lassen. Einige Kommentatoren sprechen von großer Unterstützung in der Bevölkerung, ohne dies allerdings faktisch zu belegen. Andere preisen die Harmonie zwischen den beiden "großen Volksparteien" als "Beginn eines Neuanfangs". Die Tatschache, dass zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine Frau im Kanzleramt auf dem Chefsessel Platz nimmt, wird als Beweis für einen weniger aggressiven und humaneren Regierungsstil gewertet, als hätten dies Margret Thatcher in London und andere weibliche Regierungschefs nicht längst widerlegt.
In Wirklichkeit ist die Regierung Merkel die rechteste Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie knüpft dort an, wo die Regierung Schröder im Sommer stecken blieb. Ihre Aufgabe besteht darin, die von den nationalen und internationalen Wirtschaftverbänden geforderten "Reformen" - sprich Sozialabbau und Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen - gegen jeden Widerstand durchzusetzen.
Man muss sich nur den 200 Seiten starken Koalitionsvertrag ansehen. Als Merkel im Wahlkampf eine zweiprozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer ankündigte, stürzte sie in den Wählerumfragen ab. Jetzt sieht der Koalitionsvertrag eine dreiprozentige Mehrwertsteuererhöhung vor. Dazu kommen die Anhebung des Renteneintrittsalters von gegenwärtig 65 auf 67 Jahre, die Kürzung der Pendlerpauschale, die weitgehende Abschaffung des Kündigungsschutzes und viele andere, direkt gegen Arbeiter und Arbeitslose gerichtete Maßnahmen.
Mit der Amtseinführung von Angela Merkel schließt sich der Kreis. Nachdem die rot-grüne Regierung im Frühjahr mit der Agenda 2010 auf immer größeren Widerstand gestoßen war, was sich in der SPD-Wahlniederlage in Nordrhein Westfalen - der elften in Folge - äußerte, befürchteten Schröder und die hinter ihm stehenden Unternehmerverbände eine allgemeine politische Lähmung und setzten vorgezogene Neuwahlen durch. Dass sie sich dabei über Verfassungsnormen hinweg setzten, interessierte sie nicht.
Als Bundespräsident Köhler während der Ernennungszeremonie im Berliner Schloss Charlottenburg am Dienstag die neue Regierung ermahnte, auf ihrem "Weg der Reformen" immer "respektvoll mit der Verfassung" umzugehen, klang das wie Hohn. Denn das Staatsoberhaupt hatte im Sommer jeden Respekt gegenüber der Verfassung fallen gelassen, als er das Parlament auflöste, wohl wissend, dass Kanzler Schröder über eine zwar schmale aber stabile Mehrheit im Bundestag verfügte.
Ursprünglich strebte Merkel im Sommer eine schwarz-gelbe Koalition mit Guido Westerwelle als Partner an, doch die Wähler erteilten ihren neoliberalen Konzepten eine deutliche Absage. Daraufhin eilte die SPD Merkel zu Hilfe, um sie doch noch zur Kanzlerin zu machen. Gemeinsam setzen sie nun die Sozialkürzungen durch, die bisher auf erbitterten Widerstand stießen. Damit sind heftige soziale und politische Auseinandersetzungen vorprogrammiert.
Vor der Amtseinführung Angela Merkel wurde Alt-Kanzler Gerhard Schröder mit Großem Zapfenstreich und vielen Lobreden von allen Seiten verabschiedet. Nicht nur der Bundespräsident, auch Schröders Nachfolgerin bescheinigten ihm, er habe mit der Agenda 2010 eine "außerordentlich wichtige Arbeit für Deutschland" eingeleitet, auf der die neue Regierung nun aufbauen könne.
Im Anschluss an die erste Kabinettssitzung erklärte Merkel am Dienstagabend, Hauptziel ihrer Regierung sei die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Was davon zu halten ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen. Seit dem Wahltag im September reißen die Hiobsbotschaften aus den Chefetagen der Großkonzerne nicht ab. Siemens, Volkswagen, DaimlerChrysler und viele andere Betriebe kündigten einen massiven Arbeitsplatzabbau an. Alleine die Telekom gab die Vernichtung von 32.000 Stellen bekannt. Als Hauptgründe nennen die Unternehmensvorstände die Billigkonkurrenz aus Osteuropa und Asien. Der Wirtschafts- und der Finanzminister der Großen Koalition signalisierten Verständnis und kündigten Unterstützung an.
Unter diesen Bedingungen bedeutet "Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit" vor allem eine radikale Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und die Ausdehnung des Billiglohnsektors, der jetzt schon sechs Millionen Menschen umfasst. Die Hartz-IV-Gesetze werden deutlich verschärft werden. Noch stärker als bisher wird die Arbeitslosigkeit und die Drohung mit Entlassungen benutzt, um Beschäftigte zu zwingen, massiven Lohnkürzungen und schlechteren Arbeitsbedingungen zuzustimmen.
In dieser Frage lohnt sich ein Blick über den Atlantik. In den USA erzwingen Großkonzerne mit Hilfe der Konkursgesetze drastische Lohnsenkungen. Den Anfang machten die Fluggesellschaften, die oftmals Tarife durchsetzten, die um ein Viertel und mehr unter dem bisherigen Lohnniveau liegen.
Nun hat der größte Hersteller von Autoteilen, Delphi, einen Lohnabbau von 60 Prozent diktiert. Gleichzeitig gehen die Entlassungen ungemindert weiter. General Motors kündigte vor wenigen Tagen die Stilllegung von neun Werken und die Vernichtung von mindestens 30.000 Arbeitsplätzen an. Wer glaubt, derartige Entwicklungen seien hierzulande nicht oder noch nicht möglich, wird bald manche Überraschung erleben.
Die Regierung Merkel hat in vieler Hinsicht einen Übergangscharakter. Sie kann schnell autoritäre Züge annehmen, denn die rasch wachsende soziale Spaltung der Gesellschaft sprengt die traditionellen demokratischen Strukturen. Die Zerschlagung der Sozialsysteme erfordert immer deutlicher diktatorische Formen der politischen Herrschaft. Die Leichtfertigkeit, mit der die französische Regierung angesichts der Jugendrevolte in den Vorstädten den Notstand ausrief und die damit verbundene Einschränkung demokratischer Grundrechte auf drei Monate ausdehnte, ist diesbezüglich eine Warnung.
Das Parlament spielt in der kommenden Regierung ohnehin keine eigenständige Rolle mehr. Erstens verfügt die Große Koalition über eine derart große Parlamentsmehrheit, dass sie auf Überzeugungsarbeit im Parlament verzichten kann. Die Entscheidungen werden in Koalitionsausschüssen oder im Kreis der Parteivorsitzenden getroffen und im Parlament nur abgenickt. Zweitens kann Kanzlerin Merkel jederzeit das Parlament wieder auflösen und sich dabei auf das Bundesverfassungsgerichts-Urteil berufen, das die Rolle des Kanzlers in dieser Hinsicht gestärkt hat.
Hervorgegangen aus illegitimen Wahlen und einer politischen Verschwörung ist die Regierung Merkel aber auch von vielen Widersprüchen und Konflikten geprägt. Nachdem die Sozialdemokraten alles getan haben, um Merkel an die Macht zu bringen, sind sie nun entschlossen, sie an der Macht zu halten. Sie werden nichts unversucht lassen, um sie gegen Druck von unten zu verteidigen. Doch indem sie Merkel stärken, geben sie ihr gleichzeitig den Handlungsspielraum zurück, den ihr die Wähler entzogen hatten. Und so kann die Kanzlerin künftig - falls sie es für notwendig hält - eine politische Krise provozieren, die Koalition sprengen, doch noch eine Koalition mit FDP und Grünen oder Neuwahlen anstreben.
Die Linkspartei unter der Leitung von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi spielt in dieser ganzen Entwicklung eine ausgesprochen üble Rolle. Sie hatte von Anfang an die Große Koalition als "kleineres Übel" bezeichnet. Und obwohl sich die SPD geschlossen hinter Merkel gestellt hat, verbreitet die Linkspartei nach wie vor die Illusion, dass die SPD in der Regierung "die schlimmsten Angriffe auf Arbeitnehmerrechte" verhindern werde.