Konferenz von Brighton:

Der politische Schiffbruch von New Labour

Der handgreifliche Rauswurf des 82-jährigen Walter Wolfgang aus dem Parteitag der Labour Party in Brighton ist ein beredtes Zeugnis für das Demokratieverständnis einer Regierung, die entschlossen ist, jede Opposition gegen ihre Kriegstreiberei, ihre rechte Wirtschaftspolitik und ihre Sozialkürzungen im Keim zu ersticken. Wolfgang war vor den Nazis aus Deutschland geflohen und ist seit 57 Jahren Labour-Mitglied.

Wolfgangs Verbrechen besteht darin, dass er "Unsinn!" gerufen hatte, als Außenminister Jack Straw den Irakkrieg verteidigte. Als Quittung wurde er von mehreren stämmigen Saalordnern gewaltsam von seinem Platz geholt. Später hinderte die Polizei ihn unter Berufung auf die Antiterrorgesetze daran, den Konferenzsaal wieder zu betreten.

Hinter Labours Vorgehen steckt ein Element der politischen Verzweiflung. Bei ihren Mitgliedern und den parteinahen Gewerkschaftsfunktionären stößt die Parteiführung kaum auf Opposition. Aber sie gerät - wie der Kaiser ohne Kleider - schon in Panik, wenn nur die Stimme eines alten Mannes die Lügen und Winkelzüge angreift, mit denen sie den Krieg rechtfertigt.

Die Medien haben die Behandlung Wolfgangs verurteilt, weil sie eine Katastrophe für Blairs Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit darstelle. Sie fürchten, das volle Ausmaß der Krise, die sich hinter der triumphalen Rhetorik der Labour Party verbirgt, könnte offenbar werden. Allenthalben ertönten warnende Stimmen, die Labour Party sei organisatorisch ausgelaugt und manövriere sich ins politische und gesellschaftliche Abseits.

Die bedeutendsten Kommentare dieser Art sind in Zeitungen erschienen, die die Blair-Regierung normalerweise verteidigen, wie dem Guardian. Dort heißt es in einem Leitartikel vom 26. September: "An dieser geschrumpften Partei schrumpft zur Zeit auch die Attraktivität. Am 5. Mai haben nur noch 9,5 Millionen Menschen Labour gewählt, vier Millionen weniger als 1997. In der modernen Ära hat Labour nur ein einziges Mal weniger Stimmen erzielt als in diesem Jahr, das war 1983 bei einer Wahl, bei der Labour kurz vor dem Aussterben stand."

David Clark, ein früherer Berater der Labour-Regierung, schrieb in der gleichen Zeitung drei Tage später: "Die Labour Party bedarf dringend einer Erneuerung, und das kann erst geschehen, wenn Blair gegangen ist. Die Partei, die sich in Brighton versammelt hat, ist sichtbar erschöpft. Über ein Drittel der Wahlkreise schickte nicht einmal mehr Delegierte, und die Anwesenden schienen verloren und demoralisiert. Die Partei hat weniger als 200.000 Mitglieder und nimmt weiter ab, und die verbliebene Basis altert und ist weitgehend inaktiv. Labour befindet sich in einem Zustand, da schon der organisatorische Kollaps eingesetzt hat. Mit Blair an der Spitze drohen die Kommunalwahlen nächstes Jahr zu einer Niederlage zu werden, von der sich Labour in großen Teilen des Landes nicht mehr wird erholen können."

Der Kommentar schloss mit der Warnung, Blairs politisches Erbe werde sich "für Labour als ähnlich tödlich erweisen, wie das Erbe Thatchers’ für die Konservativen".

Am 30. September schrieb Polly Toynbee im Guardian, Wolfgangs Rauswurf sei "das Sinnbild einer schwachen und erschöpften Partei, die nicht einmal in der Lage ist, über den Krieg zu diskutieren, in den sie hineingezogen wurde... Wahlkampfberichte zeigen eine ausgelaugte Partei, oftmals eine fast leere Hülle, in der sogar die ‚Aktivisten’ verärgert und inaktiv zu Hause bleiben."

Man könnte fragen: Warum diese Überraschung, Bestürzung und Empörung? Schließlich ist diese Partei schon seit 1997 an der Macht, und hat in dieser Zeit alle möglichen unverzeihlichen Verbrechen begangen. Labour hat sich an drei großen Kriegen beteiligt. Im Namen der Terrorismusbekämpfung hat sie Gesetze zur Abschaffung grundlegender demokratischer Rechte verabschiedet. Sie hat Sozialleistungen, von denen Millionen abhängen, systematisch zerschlagen. Und sie hat auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung die Wirtschaft bereichert.

Zwei Monate vor dem Labour-Parteitag wurde ein unschuldiger Brasilianer, Jean Charles de Menezes, auf der Straße erschossen. Zwei Jahre zuvor waren heimlich die Voraussetzungen für den legalen Todesschuss geschaffen worden. Am selben Tag, an dem Wolfgang aus der Labour-Konferenz geworfen wurde, kämpfte die Menezes-Familie in London gegen die Vertuschung des Verbrechens durch die Polizei.

Die Tötung von de Menezes selbst war das Ergebnis der kriminellen Entscheidung der Blair-Regierung, sich am US-geführten Krieg gegen den Irak zu beteiligen - einem Krieg, der auf der Grundlage von Lügen vorbereitet und befohlen, in Missachtung des Volkswillens ausgeführt und von einem Generalangriff auf Bürgerrechte begleitet wurde.

Weder der Irakkrieg noch die Erschießung de Menezes’ kamen auf der Konferenz zur Sprache, da weder die Ortsvereine noch die Gewerkschaften darin zentrale Fragen erblickten. Der Grund ist nicht, dass die Labour Party ganz plötzlich zu einer Hülle geworden ist, wie Toynbee es darstellt. Vielmehr geht Blairs "New-Labour"-Projekt auf eine über zwanzigjährige Vorgeschichte zurück, während der die Partei mit ihrer alten reformistischen Politik brach, der Arbeiterklasse mit Hilfe der Gewerkschaftsbürokratie eine Niederlage nach der andern beibrachte und eine wütende Hetze gegen Sozialisten betrieb.

Diese Methoden haben Labour "ausgelaugt" und in ein ideales Vehikel zur Verwirklichung eines politischen Programms verwandelt, das ausschließlich den Interessen der Finanzoligarchie dient. Darauf spielte Blair an, als er dem Parteitag erklärte, der große Erfolg von New Labour habe darauf beruht, "Ziele und Mittel auseinander zu halten" - d.h. die Partei von jeder politischen oder gesellschaftlichen Verbindung mit der Arbeiterklasse zu lösen.

Blairs verspätete Kritiker hatten diesen Prozess einst bejubelt. Heute machen sie sich Sorgen, weil New Labour diskreditiert und die Fähigkeit der Partei bedroht ist, weiterhin eine Bereicherungspolitik für die privilegierten Gesellschaftsschichten durchzusetzen, deren Sprachrohr sie sind.

Toynbee überschrieb ihren Artikel vom 30. September mit den Worten: "Das Abwürgen der Träume schafft eine Phantompartei". Aber welche Träume wurden in Brighton abgewürgt? Sowohl Toynbee als auch Clark unterstützen Schatzkanzler Gordon Brown. Ihr "Traum" bestand darin, dass der diesjährige Parteitag Blair Gelegenheit bieten würde, einen - früheren oder späteren - Zeitpunkt für seinen Rückzug zu nennen, damit Brown übernehmen kann.

Sie wissen, dass Labour die Unterstützung ihrer Wählerschaft in der Arbeiterklasse verloren hat und sich auch auf die Wechselwähler in den Mittelschichten nicht mehr verlassen kann, die sie 1997 unterstützt haben. Diese Schichten spüren nicht nur in finanzieller Hinsicht die wachsende Unsicherheit, viele von ihnen lehnen auch den Irakkrieg ab und haben deshalb mit der Regierung gebrochen. Die wachsende soziale Not, kriegsfeindliche Stimmungen und die Sorge über die systematischen Angriffe auf demokratische Grundrechte sind die Faktoren, die zusammenfließen und die Regierung bedrohen.

Die im Guardian geäußerten Befürchtungen werden durch die immer deutlichere Wende der internationalen Arbeiterklasse nach links genährt. Drei Ereignisse sind dabei besonders wichtig: New Orleans, die Bundestagswahlen in Deutschland und eine wachsende Opposition gegen die britische Besetzung von Basra im Südirak.

Anfang September beobachteten die britischen Medien entsetzt die Auswirkungen von Hurrikan Katrina. Das Wirtschafts- und Politikmodell, das sie gemeinsam mit Blair als nachahmenswertes Beispiel hingestellt hatten, wurde durch die Gleichgültigkeit der Bush-Regierung gegenüber dem Leid der Armen bis ins Mark erschüttert. In erster Linie sorgten sie sich dabei über die mögliche soziale und politische Instabilität in den USA und den unvermeidlichen Widerhall, den das in Großbritannien auslösen würde.

Dann mussten sie mit ansehen, wie in den deutschen Wahlen vom 18. September das rechte CDU-Modell eine Abfuhr erhielt. Sämtliche britische Medien hatten auf einen Sieg Angela Merkels gesetzt, nicht zuletzt weil sie sich davon eine Stärkung der Achse Bush-Blair in Europa erhofften.

Nur einen Tag später explodierte Basra nach der Gefangennahme von zwei Special Air Service Offizieren, die an einer verdeckten Operation beteiligt gewesen waren. Das Bild von Hunderten Irakern, die sich offene Schlachten mit britischen Soldaten lieferten, widerlegte den angeblich breiten Erfolg der neuen "Demokratie" im Irak und zeigte, wie verhasst die britische Besatzung in Wirklichkeit ist.

Clark warnte in seinem Kommentar ausdrücklich: "Wenn die unschlüssigen deutschen Wahlen in einem Punkt einen Schluss zulassen, dann dass Europas größtes Land keinen Blairismus will. In der Irakfrage ist Blair nicht bloß diskreditiert: sein persönlicher Stolz ist zum grundlegenden Hindernis für jede vernünftige Diskussion darüber geworden, was jetzt geschehen muss."

Gordon Brown wird seit langem als jemand dargestellt, der engere Beziehungen zur alten Labour-Bewegung hat, der sich mit Arbeitern besser versteht und nicht so direkt mit dem Irakkrieg in Verbindung steht. Die Hoffnung vieler Labour-Apologeten richtete sich darauf, dass seine Übernahme der Parteiführung dieser ein "sauberes Hemd" verschaffen könnte, während sie im wesentlichen mit der gleichen Politik weitermacht.

Solche Hoffnungen sind aber schon geplatzt, bevor sich Labour mit dem Rauswurf von Wolfgang selbst ins Knie schoss.

In seiner Parteitagsrede lieferte Brown den Beweis, dass noch so viele PR-Tricks Labour nicht wieder weiß waschen können. Ihr Programm wird von Großunternehmern und Investoren bestimmt, und es ist unmöglich, ihm einen populären Anstrich zu verschaffen. Browns Rede bekräftigte die Blair’sche Orthodoxie und gipfelte im Bekenntnis zu einer "Demokratie der Haus- und Aktienbesitzer" - ganz im Stile Thatchers.

Es werde keine Rückkehr geben "zu den alten Tage der inflationären Gehaltserhöhungen und Arbeitskämpfen, den alten Tagen, in denen Teilinteressen vor die nationalen Interessen gestellt wurden, und wir werden und müssen das fortsetzen, was wir in unserem Manifest versprochen haben: Stabilität im Wirtschaftsmanagement, Stabilität in der Industriepolitik, Stabilität in den Arbeitsbeziehungen, und Stabilität in den öffentlichen Finanzen und in unserer Forderung nach Effizienz und Wert für Geld."

Dies bedeutet das Festhalten an gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen und weiteren Privatisierungen mit "dem privaten Sektor als Partner der öffentlichen Interessen", wie er sagte.

Die Brown-Anhänger rechtfertigten dies mit dem Argument, diese Lobhudelei für das New-Labourtum werde eine ordnungsgemäße Machtübergabe sicherstellen. Tatsächlich hat sie Blair von der Schwäche seines Rivalen überzeugt. In seiner eigenen Rede machte der Premierministers seine Absicht deutlich, mindestens bis zum Vorabend der nächsten Wahl im Amt zu bleiben. Es werde keinen "Rückzug" geben, weder im Irak noch zuhause. Stattdessen werde er immer schärfere Angriffe auf Löhne und Sozialleistungen führen, um mit China, Indien, Vietnam und Thailand konkurrieren zu können, die "einen Bruchteil unserer Arbeitskosten haben". "Jedes Mal, wenn ich eine Reform eingeführt habe, wünsche ich im Nachhinein, ich wäre weiter gegangen", erklärte Blair.

Wenn Blair betont, es könne keinen Rückzug vom rechten Kurs New Labours geben, übersetzt er die wesentlichen Forderungen des Unternehmertums in die Sprache der Sound Bites. Er besteht darauf, dass die Angriffe auf den Lebensstandard und auf die demokratischen Rechte der Arbeiter unvermindert fortgesetzt werden müssen, weil der Kapitalismus es so verlangt.

Dies trifft jedoch noch in einem weiteren Sinn zu: Es ist unmöglich, zum Labour-Reformismus der alten Schule zurückzukehren. Die politische Leiche der Labour Party kann nicht wieder auferstehen. New Labour ist die organisierte Verkörperung der Diktatur der phantastisch reichen Elite über alle Aspekte des politischen Lebens. Der Niedergang der Partei ist eine Funktion des vorsätzlichen und anhaltenden Versuchs, die Arbeiterklasse zu entmündigen, der zu einem beispiellosen Anwachsen der sozialen Ungleichheit geführt hat.

Der Erfolg des Projektes New Labour ist auch die Ursache für seinen politischen Schiffbruch. Die Bevölkerungsmehrheit kann sich mit einer Politik, die ihre systematische Verarmung zum Ziel hat, nicht abfinden, und gleichzeitig ist für Labours Hintermänner im Unternehmermilieu kein anderer Kurs akzeptabel. Das Fehlen einer wirklichen Opposition gegen Blairs rechten Kurs innerhalb der Labour Party beweist, dass die Degeneration der Partei nicht einfach das Produkt einer falschen Führung ist. Sie hat ihre Wurzel im Scheitern der alten Labour-Perspektive, die versuchte, mithilfe diverser nationaler Wirtschaftsregulierungen den Klassenantagonismus abzumildern.

Heute zwingen die globale Integration von Produktion, Verteilung und Austausch und die beispiellose internationale Mobilität des Kapitals jede einzelne kapitalistische Regierung dazu, die Löhne ständig zu senken, die Ausbeutung zu verschärfen und die Steuern zu kürzen, um Investitionen anzuziehen und konkurrenzfähig zu bleiben. Die alten nationalen Arbeiterorganisationen, die das Profitsystem für unantastbar halten, übersetzen dies in politische Gebote, die nicht verletzt werden dürfen.

Dies stellt eine ernste Bedrohung für Arbeiter dar. Es wird kein Nachlassen geben, weder bei der Zerstörung von Arbeitsplätzen, noch bei der ständigen Forderung nach Lohnsenkung und Produktionssteigerung, militärischen Abenteuern wie dem Irakkrieg oder repressiven Gesetzen im Innern. Kein Teil der Labour Party oder der Gewerkschaftshierarchie wird sich gegen diese Regierungspolitik stellen. Eine vollkommen andere Führung ist nötig.

Die Millionen, denen eine politische Vertretung verweigert wird, haben ihre Unzufriedenheit und Entfremdung bisher zum Ausdruck gebracht, indem sie ihrer alten Partei den Rücken kehrten. Aber die Arbeiter brauchen eine neue Partei, die ihre unabhängigen Klasseninteressen verteidigt. Wie vor hundert Jahren, als Labour gegründet wurde, ist das auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, eine objektive Notwendigkeit.

Erforderlich ist eine Partei qualitativ anderer Art, die sich auf das Programm des sozialistischen Internationalismus stützt. Ihr Ziel muss die Ersetzung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Überwindung der Spaltung der Welt in antagonistische Nationalstaaten sein. Ihre Methode muss die politische und organisatorische Einigung der internationalen Arbeiterklasse sein. Dies ist die politische Perspektive der Socialist Equality Party.

Siehe auch:
Polizei erschießt Arbeiter in der Londoner U-Bahn
(29. Juli 2005)
Die soziale Lage in Blairs England
( 1. Juli 2005)
Blair macht Stimmung gegen das alte Europa
( 22. Juni 2005)
Labour gewinnt die Wahl büßt aber gewaltig Stimmen ein
( 10. Mai 2005)
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