Mit einer Mischung aus Entsetzen und Empörung hat die internationale Presse auf das Ergebnis der deutschen Bundestagswahl reagiert.
Die Botschaft des Wählervotums wurde klar verstanden. Das Ergebnis war eine Absage an die Politik des Sozialabbaus und der marktwirtschaftlichen Reformen, wie sie von allen europäischen Regierungen betrieben wird.
In Deutschland hätten die "Ängste vor dem wirtschaftlichen Verfall und dem Verlust des Sozialstaates gewonnen", schreibt der Mailänder Corriere della Sera. Und die spanische Zeitung El País meint: "Die Deutschen neigen eher nach links. Sie scheinen einer gemäßigten Reform im Stil der Agenda 2010 den Vorzug zu geben vor einer radikalen Änderung des Sozialsystems, wie sie die Rechte anstrebte."
Zum zweiten Mal nach dem Scheitern des EU-Referendums in Frankreich haben die Wähler in einem großen europäischen Land den Plänen der herrschenden Eliten, Europa nach strikt marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten umzukrempeln, eine empfindliche Abfuhr erteilt.
"Die Europapolitik, die schon seit dem Nein zur EU-Verfassung in Frankreich in der Krise steckt, droht nun mehr denn je gelähmt zu sein," klagt der Pariser Figaro. Ähnlich sieht es der Corriere della Sera, der befürchtet, am Ende "werden es Deutschland und ganz Europa sein, die dafür bezahlen müssen".
Der britische Daily Telegraph gelangt zum Schluss: "Weil die schwarz-gelbe Partnerschaft nicht zustande kommt, wird es bestenfalls wenige Fortschritte bei den bescheidenen Reformen aus Schröders zweiter Amtszeit geben. Das wiederum wird Reformen in Ländern wie Frankreich und Italien verlangsamen. Ganz Europa ist der Verlierer dieses absolut unbefriedigenden Wahlausgangs."
Und die dänische Jyllands-Posten seufzt: "Der Ausgang der Wahlen in Deutschland war so ziemlich das Letzte, was Europas größte und wichtigste Nation jetzt braucht."
Die eindeutige Absage der Wähler an die CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel und eine schwarz-gelbe Koalition, die als klare Favoriten galten und schließlich nur 45 Prozent der Stimmen erhielten, wird weithin als illegitim betrachtet.
Aus Stockholm lamentiert Dagens Nyheter : "Das Signal für Europas Reformfreunde ist schlecht: Jene die es wagen, Verantwortung für notwendige Schritte zu übernehmen, laufen ein großes Risiko, dass sie bestraft werden."
Aus Zürich mahnt die stockkonservative Neue Zürcher Zeitung die deutschen Wähler: "Die Tatsache, dass die jetzt entstandene Situation keine wirklich zukunftsfähige Option offen lässt, ist eine Kalamität sondergleichen. Man ist versucht zu sagen, dass dieses Faktum nun zunächst einmal tief ins allgemeine Bewusstsein eindringen muss. Das Volk muss in den Spiegel gucken und sich fragen, was es eigentlich will."
Auch andere Zeitungen üben sich in Wählerbeschimpfung. Am übelsten treibt es dabei die Pariser Libération, die einst - wie die deutschen Grünen und deren Leibblatt taz - aus der 68er Protestbewegung hervorgegangen ist und sich seither zu einer verlässlichen Stütze der bürgerlichen Ordnung entwickelt hat.
"Aus dieser merkwürdigen Wahl in Deutschland (...) wird Europa noch unentschlossener hervorgehen," schimpft Libération. "Deutschland tritt nun dem Club der Länder bei, in denen die Protestler und Radikalen solchen Schaden anrichten können, dass dies einen normalen politischen Wechsel blockiert und langfristige Politiken lähmt."
Einen ähnlichen Ton schlägt nahezu einhellig die britische Presse an. Sie wirft den deutschen Wählern vor, sie seien zu dumm, die Notwendigkeit von Reformen zu verstehen.
So klagt der Labour-nahe Guardian, Angela Merkel sei "zwar viel mit Margaret Thatcher verglichen worden, aber Angie’ hat weder das Charisma der britischen Eisernen Lady’ an den Tag gelegt noch deren Art radikaler Politik, die nötig wäre, um Deutschland aus dem Trübsinn herauszuholen, in dem das Land in den vergangenen sieben Jahren gesteckt hat. Die Wahl wurde bestimmt durch tiefen Pessimismus, gewaltige Ernüchterung über die großen Parteien und durch unsichere Wähler, die zwar die Notwendigkeit von Reformen begriffen, aber deren Auswirkungen fürchteten. Es wird noch viel Geschachere geben, bis das außerordentliche Ergebnis verdaut ist. Die Deutschen wollen wohl Reformen. Jetzt aber droht Lähmung, weil die Nerven sie im Stich gelassen haben."
Auch der konservative Daily Telegraph meint: "Die deutschen Wähler haben die Chance für Reformen verpasst, die ihnen die Christdemokraten unter Angela Merkel geboten haben."
Sowohl der britische Regierungschef Tony Blair wie die konservative Opposition hatten vor der Wahl keinen Hehl aus ihren Sympathien für Merkel gemacht. Blair hatte sogar für einen kleineren diplomatischen Affront gesorgt, als er bei seinem letzten Berlinbesuch im Juni demonstrativ erst die Oppositionsführerin aufsuchte, bevor er sich zu seinem Amtskollegen ins Kanzleramt begab. Umso größer ist nun die Enttäuschung über Merkels Wahldebakel.
Fast alle internationalen Zeitungen warnen vor einer großen Koalition, die - so ihre Meinung - zu wirtschaftlichem Stillstand und Stagnation führen würde.
Die Londoner Financial Times beruft sich auf Warnungen von Ökonomen,, dass es "eine derartige Koalition für die größte Volkswirtschaft Europas schwierig machen würde, die notwendigen Strukturreformen zur Überwindung von Stagnation und Rekordarbeitslosigkeit durchzuführen". Sie zitiert einen BMW-Manager mit den Worten: "Genau das braucht das Land nicht - eine lange Periode der Unsicherheit und Verhandlungen. Wir werden alle Verlierer sein."
Ähnliches schreibt das amerikanische Wall Street Journal : "Das verworrene Ergebnis, bei dem keine der größeren Parteien eine stabile Mehrheit zustande bringen kann, bedeutet, dass Deutschland in der nächsten Zeit seinen schwerfälligen Sozialstaat nicht entschlossen reformieren wird, der zu einer Arbeitslosenrate von elf Prozent und einem Null-Wachstum beigetragen hat. Das wird nicht gut für die Welt sein...."
Auch die New York Times ist der Ansicht: "In einer großen Koalition wäre jede Reform der deutschen Wirtschaft nahezu sicher auszuschließen, ebenso wie eine schnelle Annäherung an die Vereinigten Staaten, wie sie Merkel angedeutet hat."
Die Vehemenz, mit der die gesamte internationale Presse das Wahlergebnis kritisiert und angreift, muss als Warnung verstanden werden. Die herrschende Elite ist zunehmend weniger bereit, demokratisch zustande gekommene Entscheidungen zu akzeptieren, wenn sie ihren eigenen ökonomischen und politischen Interessen im Wege stehen.
Das gilt nicht nur für die internationale Presse, sondern auch für die deutsche, deren Kommentare sich nicht von denen der ausländischen Blätter unterscheiden.
So beschwert sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter der Überschrift "Ein Debakel": "Um die Einsicht der Bürger in die Notwendigkeit grundlegender Änderungen und die Bereitschaft zu Kursänderungen scheint es doch nicht so gut bestellt zu sein, wie mancher behauptete."
Und der Spiegel betrachtet am Ende eines langen Kommentars, der alle Parteien einer bissigen Kritik unterzieht, das Wahlergebnis am Ende doch noch als "große Chance": Endlich können alle Grundsätze und Wahlversprechen zugunsten eines hemmungslosen Pragmatismus über Bord geworfen werden. "Denn jenseits der Wahlkämpfe können in der politischen Arena längst alle miteinander", meint der Spiegel. "Was die Parteien heute im Grunde noch unterscheidet, sind vor allem kulturelle Differenzen und historische Bezugspunkte. (...) Rot-grüne Projekte und geistig-moralische Wendemanöver könnten nach dieser Wahl endlich zugunsten eines fröhlichen Pragmatismus auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden."