Das Wahlmanifest der SPD ebenso wie ihr Wahlkampf erscheinen auf den ersten Blick bizarr. "Wir stehen für soziale Gerechtigkeit", prangt es auf Plakatwänden der Regierungspartei die den größten Sozialabbau und die höchste Arbeitslosenzahl seit dem Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat.
"Vom langfristigen Ziel der Vollbeschäftigung lassen wir nicht ab", heißt es schon fast dreist im SPD-Wahlmanifest. Und weiter: "Wir erstreben eine menschliche Gesellschaft, die sich der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität verpflichtet fühlt." Die Zyniker im Parteivorstand kennen keine Hemmungen. Ständig ist die Rede von "sozialer Gerechtigkeit", "Teilhabe", "Mitbestimmung", "Solidarität" und "Vollbeschäftigung".
Der Text liest sich streckenweise wie ein Oppositionsprogramm gegen die eigene Regierungspolitik. Doch die Ansammlung sozialer Phrasen dient nicht nur dazu, die SPD auf eine mögliche Wahlniederlage und den Gang in die Opposition vorzubereiten. Die Sozialdemokraten machen in ihrem Wahlprogramm deutlich, dass sie sich für die wirklichen Probleme mit denen Millionen Menschen tagtäglich zu tun haben nicht mehr im Geringsten interessieren.
Hinter den Phrasen und leeren Worthülsen über mehr "soziale Gerechtigkeit" verbirgt sich dieselbe Arroganz mit der Schröder und Müntefering in der Vergangenheit angesichts großer Wahlniederlagen erklärten, es gäbe zur Agenda 2010 und Hartz IV keine Alternative und daher auch keinen Kurswechsel.
Ein genauerer Blick in das Wahlmanifest zeigt, dass die SPD auch jetzt unbeirrt an ihrem höchst unpopulären Kurs festhält. Alles Gerede von "Solidarität" und "Stärkung des Sozialstaats" ist nichts als Augenwischerei, die den wahren Kern des SPD-Programms verschleiern soll.
Mit den Worten "Wir haben den Stillstand überwunden", bilanziert die SPD stolz ihre sieben Regierungsjahre. "Wir haben mit Entschlossenheit und Durchsetzungskraft gehandelt, auch gegen Widerstände." In der Tat gab es Widerstände bei der Umsetzung der Sozialkürzungen. Diese Widerstände gingen vor allem von Arbeitern, Arbeitslosen und Rentnern aus, die nach jahrzehntelanger Arbeit ihr Leben nicht mit einem monatlichen Taschengeld oder in einem Ein-Euro-Job fristen möchten.
Schon bei seiner Ankündigung von Neuwahlen und in seiner Rede am 1. Juli vor dem deutschen Bundestag als er die Auflösung des Parlaments beantragte, machte Bundeskanzler Gerhard Schröder deutlich, dass es sich bei seiner Initiative um ein Ultimatum gegenüber der Bevölkerung handelt. Angesichts des massiven Widerstands soll die vorgezogene Wahl dazu dienen die begonnenen Sozialkürzungen durch neue Mehrheiten, entweder in Form einer konservativ geführten Regierung, oder einer Großen Koalition, oder - was eher unwahrscheinlich ist - durch ein erneutes Mandat für eine rot-grüne Regierung durchgesetzt werden.
Inhaltlich weicht das SPD-Wahlmanifest daher keinen Zentimeter von der politischen Linie ab, die in den letzten sieben Jahren zum umfassendsten Sozialabbau seit Bestehen der Bundesrepublik und fünf Millionen Arbeitslosen geführt hat.
Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik
"Die Agenda 2010 ist das wichtigste Reformprojekt seit langem", heißt es in dem Manifest. "Es ist die richtige politische Antwort auf globales Wirtschaften und das Älterwerden unserer Gesellschaft. [...] Die Agenda 2010 wirkt. Wir setzen sie konsequent um und entwickeln sie weiter."
Die Schaffung von hunderttausenden von Niedriglohnjobs und die damit verbundene Selbstausbeutung wird glorifiziert: "Unsere Arbeitsmarktpolitik beginnt zu wirken. Neue Wege aus der Arbeitslosigkeit sind durch, Ich-AGs’ und,Mini-Jobs’ eröffnet worden."
Wider besseren Wissens wird behauptet: "Besonders die Jungen haben bessere Chancen am Arbeitsmarkt. Die Jugendarbeitslosigkeit sinkt. Der Ausbildungspakt funktioniert." In Wirklichkeit ist die Spanne zwischen Ausbildungsplätzen und Ausbildungsbewerbern selten so groß gewesen wie in diesem Jahr. Nach den Feststellungen der Bundesagentur für Arbeit belief sich die rechnerische Lücke von Ausbildungsplätzen und Bewerbern im Juli auf fast 170.000. Sie liegt damit noch um 5,2 Prozent höher als im Juli vergangenen Jahres. Insbesondere das Angebot an betrieblichen Lehrstellen ist zurückgegangen. Über 629.000 der unter 25jährigen sind arbeitslos.
Gleichzeitig werden die neuen "Zumutbarkeitskriterien" verteidigt. "Wer trotz aller Hilfen und Förderung nicht den angestrebten Arbeitsplatz findet, muss auch bereit sein, eine andere Arbeit anzunehmen. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass Deutschland bei hoher Arbeitslosigkeit in bestimmten Berufen in hohem Maß auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - oft saisonal - aus dem Ausland angewiesen sind." Mit anderen Worten: Wenn ein arbeitsloser Stahlarbeiter nicht den "angestrebten Arbeitsplatz" findet, ist er gezwungen, etwa auch bei der Spargelernte eingesetzt zu werden.
In der gleichen Art und Weise werden auch der Abbau der Gesundheitsversorgung und die Rentenkürzungen gepriesen. "Die Gesundheitsreform hat die Eigenverantwortung gestärkt, die Versorgung aller gesichert und verbessert und das Solidarprinzip gewahrt." In Wirklichkeit sind mit der Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal und der Erhöhung der Zuzahlungen bei Medikamenten die Kranken geschröpft worden.
Auch der Zusatzbeitrag, den Arbeiter ab 1. Juli zur Krankenversicherung zahlen, ist das Gegenteil der Wahrung des Solidarprinzips. Die Kassen senkten ab 1. Juli ihre Beiträge - weil vom Gesetz zur Gesundheitsreform so vorgeschrieben - um 0,9 Prozent. Davon profitieren Unternehmen und Arbeiter je zur Hälfte. Doch gleichzeitig muss ein Sonderbeitrag zur Krankenversicherung von ebenfalls 0,9 Prozent geleistet werden. Diesen schultern die Versicherten aber alleine. Damit begann der Abschied von der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung.
"Ein neuer Nachhaltigkeitsfaktor sorgt jetzt für gerechte Beiträge aller Generationen", heißt übersetzt, dass die Bruttorenten jährlich bis 2030 auf bis zu 40 Prozent des letzten Bruttodurchschnittsverdienstes sinken werden. Die private Altersvorsorge und damit die Versicherungswirtschaft werden gleichzeitig gefördert.
Das ausdrückliche Ziel dieser Sozialkürzungen ist die "Senkung der Lohnnebenkosten" für die Unternehmen, also eine Umverteilung der Einkommen von unten nach oben. "Wir wollen eine erfolgreiche Wirtschaft und tun viel für ihre Wettbewerbsfähigkeit", erklärt das SPD-Programm. "Das soll auch so bleiben." Denn: "Die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist vorrangig die Aufgabe der Unternehmen im Lande. Wir sorgen dafür, dass sie wettbewerbsfähig sind, was Steuern und Abgaben angeht. Wir haben mit unserer Gesetzgebung die Lohnnebenkosten (Renten- und Krankenversicherung) gesenkt." Und - so kann man hinzufügen - die Unternehmenssteuern in noch nie gewesener Höhe gesenkt.
Die Behauptung, "wenn die Wirtschaft wächst, steigen Einkommen und Beschäftigung" ist längst widerlegt. In den letzten Jahren haben die großen Unternehmen ein über das andere Jahr Rekordgewinne eingefahren (nicht zuletzt durch die Gesetzgebung der Bundesregierung) und gleichzeitig Arbeitsplätze abgebaut, Löhne gekürzt, Arbeitszeiten verlängert und die Arbeitsbedingungen verschlechtert. Es sei nur an den Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann (Jahreseinkommen 11 Millionen Euro) erinnert, der Anfang des Jahres bei der Vorstellung eines Rekordgewinns von über 4 Milliarden Euro gleichzeitig den Abbau von weiteren 6.000 Arbeitsplätzen angekündigte.
Bürgerversicherung und Steuern für die Besserverdienenden
Vor allem zwei Neuerungen aus dem Wahlmanifest werden von Seiten der Sozialdemokraten immer als Beweis ihrer sozialen Politik angeführt, die Forderung nach Einführung einer Bürgerversicherung sowie die Erhöhung der Einkommenssteuer für Reiche. Beide Forderungen sind ausgesprochene Mogelpackungen.
Ebenso wie die Grünen fordert die SPD eine "Bürgerversicherung" nicht in allen Sozialversicherungszweigen, sondern nur im Gesundheitswesen. Jeder - auch "Gutverdiendende, Beamte, Selbständige und Politiker" - soll in die solidarische Krankenversicherung einbezogen werden. Kapitalerträge werden zur Finanzierung herangezogen, Mieten und Pachten bleiben dafür beitragsfrei. Da gesetzliche und private Krankenversicherungen "nebeneinander Bestand" haben sollen, dient diese Art der sozialdemokratischen "Bürgerversicherung" vor allem dazu, mehr Wettbewerb zwischen gesetzlichen und privaten Krankenkassen zu schaffen und damit die Privatisierung des Gesundheitswesens voranzutreiben.
Was von der dreiprozentigen Einkommensteuererhöhung für Reiche ab einem Jahreseinkommen von 250.000 (Ledige) bzw. 500.000 Euro (Verheiratete) zu halten ist, sei jedem selbst überlassen. Fakt ist, dass der Spitzensteuersatz für diese Einkommen von 53 Prozent unter der Regierung von Helmut Kohl (CDU) auf derzeit 42 Prozent gesunken ist. Nun soll der Steuersatz für diese Reichen auf 45 Prozent angehoben werden. Selbst unter Annahme die Vermögenden würden nicht die vielfältigen Steuerschlupflöcher nutzen, um sich dieser Maßnahme zu entziehen, ändert diese so genannte Millionärssteuer nicht das Geringste an der Umverteilung zu Gunsten der Reichen, die unter Rot-Grün stattgefunden hat.
Sicherheitspolitik
Unter dem Begriff Sicherheit versteht die SPD den Abbau demokratischer Rechte und die Aufrüstung des Staates gegen die Bevölkerung. Nach den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA wurden allein mit den beiden Anti-Terror-Gesetzespaketen rund hundert Gesetze novelliert, die die Ausweitung und Verschärfung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden zum Inhalt haben.
Inzwischen wurde die aus der Erfahrung mit der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) der Nazis stammende Trennung von Polizei und Geheimdiensten durch das neue Informations- und Analysezentrum in Berlin aufgehoben. Das "Zuwanderungsgesetz" dient vor allem der Verhinderung von Zuwanderung, was im Manifest lobend anerkannt wird, und Innenminister Otto Schily (SPD) fordert u. a. Sammellager für Asylbewerber in Afrika und Schutzhaft für "Verdächtige".
Im Wahlmanifest der SPD kommt diese Glorifizierung des "Starken Staats" vollauf zur Geltung. Nach einem ersten einleitenden Absatz, in dem es heißt, die SPD wolle "Sicherheit für alle - nicht nur für die, die sich einen privaten Sicherheitsdienst leisten können", beginnt der Maßnahmenkatalog: "Hierfür werden wir bis zum Jahr 2010 die jugendspezifische Kriminalität (wie Rohheitsdelikte, rechtsradikale Gewalt, Graffitidelikte, Drogen- und Alkoholmissbrauch) durch gesetzliche Maßnahmen im Bereich der Prävention, Strafverfolgung und Justiz bekämpfen." Die SPD setze auf "ein Jugendstrafrecht, das kriminelle Karrieren früh unterbricht". Offensichtlich sieht die SPD vor allem die Jugend als das größte Sicherheitsrisiko an.
Nach nebulös formulierten Ankündigungen, die im Grunde alle eine Ausweitung der Befugnisse von Polizei und Sicherheitsbehörden bedeuten ("Verbesserung der technischen Ausstattung", "Stärkung der Steuerungskompetenz des Bundes bei der Terrorismusbekämpfung", "Verbesserung des Datenaustauschs in Europa"), erklärt die SPD, dass innere Sicherheit nicht an der Grenze ende und setzt sich für eine Stärkung der internationalen Sicherheitskoordination ein: "möglichst präventiv, wo nötig repressiv".
Zur Sicherheitspolitik gehört für die SPD auch eine Beibehaltung ihrer militaristischen Politik. Die Bundeswehr soll weiter umgebaut werden, um international einsatzfähig zu sein. Wo immer in der Welt die "Sicherung des Friedens und Schutz der Menschen" notwendig sei, wird mit den Partnern in der EU und der NATO die Bundeswehr eingesetzt.
Mit anderen Worten: Die SPD nimmt in ihrem Wahlmanifest nichts von ihrer bisherigen Politik des Abbaus sozialer und demokratischer Rechte, der Kriegsbeteiligungen usw. zurück. Ganz im Gegenteil. Hinter dem Wortschwall über "soziale Gerechtigkeit" und "Humanisierung der Gesellschaft" reagiert die SPD auf den wachsenden Widerstand in der Bevölkerung mit einem deutlichen politischen Rechtsruck.
Diese politische Bilanz ist auch deshalb wichtig, weil sie die Behauptung von Oskar Lafontaine und der Linkspartei widerlegt, es sei möglich die SPD nach links zu drängen. Das Gegenteil ist der Fall. Die SPD reagiert auf den Druck von unten mit einer ständigen Verschärfung ihrer Angriffe auf soziale und demokratische Rechte.