Die amerikanische Praxis, Terrorverdächtige im Ausland zu entführen und sie in Drittländern zu verstecken, wo sie ohne Anklage gefangen gehalten und routinemäßig gefoltert werden, geriet vor kurzem schlagartig ins Rampenlicht der internationalen Diplomatie. In Mailand wurde gegen 13 CIA-Agenten Haftbefehl erlassen, die beschuldigt werden, einen ägyptischen Geistlichen in Mailand auf offener Straße entführt und in ein ägyptisches Gefängnis deportiert zu haben.
Die Haftbefehle wurden von mehreren Staatsanwälten und der Polizei von Mailand beantragt und am 22. Juni von einem Richter unterschrieben. Es geht um den Fall des 42-jährigen Hassan Mustafa Osama Nasr, auch als Abu Omar bekannt, der in Italien politisches Asyl genoss und eine Moschee in Mailand leitete, bis er am 17. Februar 2003 gekidnappt wurde und verschwand.
Die italienischen Behörden erklärten, sie wüssten nicht, wo sich die Personen aufhielten, gegen die Haftbefehl erlassen wurde, doch wenn sie gefunden, vor Gericht gestellt und verurteilt würden, müssten sie mit einer Strafe von über zehn Jahren Gefängnis rechnen. Weder die CIA noch die US-Botschaft in Rom ließen irgendwelche Kommentare verlauten. Ein Sprecher des US-Außenministeriums erklärte lapidar, über den Fall sei ihm nichts bekannt.
Nasr, ein militanter Islamist, der regelmäßig öffentlich Vorwürfe gegen die USA erhoben hatte, wurde damals schon von den italienischen Behörden überwacht, die ihn verdächtigten, in Europa und Nahost den Aufbau einer Rekrutierungszelle für Al-Qaida-Terroristen vorzubereiten. Die italienischen Untersuchungsbeamten hatten die CIA-Agentur in Italien über ihre Erkenntnisse auf dem Laufenden gehalten und waren sehr entrüstet, weil die Entführung, wie sie sagten, ohne ihr Wissen durchgeführt wurde und die Ermittlungen durchkreuzte, die sie selbst gegen den Geistlichen führten.
Die in der Presse zitierten Dokumente der Ermittlungsbehörde besagen, dass die 13 CIA-Agenten Nasr am helllichten Tage ergriffen, als er auf dem Weg von seiner Wohnung zur Moschee war, ihm eine chemische Substanz in die Augen sprühten und ihn in einen Minibus zerrten. Sie fuhren ihn zum Luftwaffenstützpunkt Aviano, einer militärischen Anlage, die mehrere Autostunden von Mailand entfernt liegt und von italienischen und amerikanischen Streitkräften gemeinsam genutzt wird. Unterwegs telefonierten sie vom Handy aus mit dem US-Kommandeur des Stützpunkts und berichteten ihm über den erfolgreichen Verlauf der Aktion. Von Aviano aus wurde der Mann auf die US-Basis Ramstein in Deutschland und von dort nach Ägypten geflogen.
2004 wurde Nasr für kurze Zeit aus dem Gefängnis entlassen. Bei dieser Gelegenheit konnte er mit seiner Familie und mit Freunden telefonieren, denen er berichtete, er sei mit Elektroschocks gefoltert worden und habe auf einem Ohr das Gehör verloren. Seitdem ist er wieder verschwunden und möglicherweise wieder in Ägypten inhaftiert.
Die strafrechtliche Verfolgung der betreffenden CIA-Agenten ist das erste Strafverfahren gegen amerikanische Beamte durch Behörden im Ausland im Zusammenhang mit dem so genannten "Krieg gegen den Terror". Das ist umso bedeutsamer, als es in Italien stattfindet, das unter der rechten Regierung von Ministerpräsident Silvio Berlusconi beim Krieg gegen den Irak zu den entschiedensten Verbündeten der Bush-Regierung gehört.
Mittlerweile werden in der Öffentlichkeit Forderungen nach einer Untersuchung darüber laut, ob Rom in die Entführung von Nasr verwickelt gewesen sein könnte. Einige Parteigänger Berlusconis haben die Mailänder Staatsanwaltschaft verdächtigt, ihre Strafverfolgung könnte politisch motiviert sein. Aber Armando Spataro, Oberstaatsanwalt in Mailand, der die Untersuchung des Nasr-Falls leitet, gilt selbst als Vertreter des rechten Flügels im italienischen politischen Spektrum. Spataro hatte in den siebziger und achtziger Jahren die Verfolgung der terroristischen Roten Brigaden geleitet.
In einem kürzlichen Interview ließ Spataro seine Ablehnung der US-Praxis außerjuristischer Entführung und der Verbringung Terrorverdächtiger in Drittländer, auch als "Überstellung" (Rendition) bezeichnet, erkennen. Er sagte, der "Kampf gegen den Terror" müsse "gemäß dem internationalen Recht und unter Beachtung der Rechte Beschuldigter" geführt werden.
Wenn Italien auch das erste Land ist, in dem die Behörden Haftbefehl gegen US-Bürger im Zusammenhang mit "Überstellungen" erlassen haben, so gibt es auch in Schweden, Deutschland und Kanada wegen der Entführung von Bürgern oder Bewohnern dieser Länder Ermittlungsverfahren und parlamentarische Untersuchungen. Die US-Regierung lehnt jede Zusammenarbeit in diesen Verfahren ab.
Es wird allgemein angenommen, dass die USA seit dem 11. September mindestens hundert Menschen entführt und "überstellt" haben. Vor drei Monaten wurde Präsident Bush bei einer Pressekonferenz am 16. März zu dieser Praxis befragt und verteidigte sie ausdrücklich.
Staatsanwälte in Italien und anderen europäischen Ländern sind nicht nur über die Praxis des "Überstellens" immer mehr verärgert, sondern auch über die Weigerung der USA, ihnen den Zugang zu Zeugen und wichtigen Geheimdienstinformationen zu gewähren, die für ihre eigenen Untersuchungen und die Verfolgung Terrorverdächtiger in ihren Ländern wichtig sind. Die New York Times zitierte am Sonntag einen "hohen italienischen Antiterrorspezialisten" mit den Worten: "Das amerikanische System bringt uns nichts. Es ist eine Einbahnstraße. Wir geben ihnen alles, was wir haben, aber umgekehrt erhalten wir keinerlei nützliche Informationen, die uns bei Strafverfahren gegen solche Leute helfen."
In Deutschland waren, wie die Times schrieb, "die Terrorismusbekämpfungsbeamten ganz schön wütend, als ein Strafprozess gegen Mounir el-Montassadeq, ein der Beihilfe zu den Flugzeugentführungen vom 11. September Verdächtigter, in sich zusammenbrach, und er freigelassen wurde. Sie beschuldigten die amerikanischen Behörden ganz offen, die entscheidenden Beweismittel nicht zur Verfügung gestellt zu haben."
Die Times schrieb weiter: "Ebenso weigerte sich die Bush-Regierung, den spanischen Behörden die Vernehmung von Ramzi bin al-Shibh zu gestatten, einem wichtigen Al-Qaida-Verdächtigen, um ihre Anklage gegen zwei Männer zu stützen, die in Madrid wegen der Beihilfe zur Planung der Anschläge von 2001 vor Gericht standen."
Die Spannungen zwischen den amerikanischen und italienischen Antiterrorbehörden, der Polizei und der Staatsanwaltschaft sind mindestens teilweise auf die Bereitschaft der Mailänder Untersuchungsrichter zurückzuführen, die Presse mit zahlreichen Einzelheiten ihrer Untersuchung gegen die CIA-Agenten zu versorgen. In mehreren Interviews sagten italienische Beamte, sie glaubten, es seien im Ganzen 19 CIA-Agenten in die Entführung und Überstellung von Nasr verwickelt, obwohl bis jetzt erst gegen 13 Agenten Anklage erhoben wurde. Während der Aufenthaltsort der meisten Agenten unbekannt ist, und sie im allgemeinen während ihrer Arbeit in Mailand auch Tarnnamen benutzen, ist einer der Angeklagten nach italienischen Quellen jedoch als der Mann identifiziert worden, der zur Zeit der Entführung die CIA-Gruppe im US-Konsulat in Mailand leitete.
Die Los Angeles Times berichtete am Samstag, offenbar habe der damalige CIA-Chef in Mailand, ein 51-jähriger, auf Honduras geborener Amerikaner, "Abu Omar [Nasr] nach Ägypten begleitet oder ist ihm dorthin gefolgt; auch hat er an einigen Verhören teilgenommen, wie ein führender italienischer Justizbeamter am Samstag berichtete".
Die Los Angeles Times fuhr fort: "Dies lässt die Möglichkeit offen, dass der amerikanische Agent über die angebliche Folter Bescheid wusste, wie der italienische Beamte sagte. Die Reisen des Mannes konnten anhand der Benutzung seines Mobiltelefons verfolgt werden, da er während der zwei Wochen nach Abu Omars Verschwinden aus Ägypten telefonierte, sagte der Beamte. Er war derjenige, der alles über Abu Omar wusste’, sagte der Beamte über den ehemaligen Chef der Agentur. Und so war er wohl beim Verhör sehr nützlich’."
Die italienische Polizei durchsuchte ein Haus bei Turin, das diesem ex-CIA-Chef gehörte, und konfiszierte einen Computer, mehrere CDs und Unterlagen.
In den Gerichtsakten erklären die Mailänder Staatsanwälte, dass die Untersuchungsergebnisse "uns erlauben, die Entführung mit Sicherheit der CIA zuzuordnen". Die Washington Post berichtete am Samstag, ihre eigene Untersuchung über die in den italienischen Haftbefehlen Genannten wiesen auf eine Verbindung zur CIA hin. In dem Artikel heißt es: "Zwei der Individuen hatten als Adresse ein Postfach bei dem selben Postamt in Dunn Loring, Virginia, angegeben. Es wird von einem Mann benutzt, der als Verantwortlicher des Premier Executive Transport Service zeichnet, einer Firma, der zwei Flugzeuge gehören, die von der CIA für Überstellungen benutzt werden."
Italienische Beamte erläuterten Einzelheiten von sowohl schriftlichen als auch elektronischen Spuren der CIA-Agenten, die sie der Entführung beschuldigen. Darunter sind Mobiltelefonlisten, Hotelbuchungen, Mietwagenquittungen, Nachweise elektronischer Autobahnmauten und andere Dokumente.
Sie brachten auch ans Licht, dass die Agenten in den teuersten Hotels von Mailand und anderen Städte logiert hatten und dass sie für ihren luxuriösen Lebenswandel sowohl vor als auch nach der Entführung des ägyptischen Predigers unglaubliche Rechnungen hatten auflaufen lassen. So berichtete die Los Angeles Times, dass sich laut Anklage allein die Hotelrechnungen der Gruppe auf eine Summe von 150.000 Dollars beliefen.
Italienische Staatsanwälte sagten am 25. Juni, sie wollten auch Oberst Joseph Romano, einen Aviano-Kommandanten, vernehmen, der Italien seither verlassen hat, und sie zögen in Betracht, auch ihn verhaften zu lassen. Oberstaatsanwalt Spataro erklärte, er würde gern die Auslieferung der Verdächtigten beantragen, und die Haftbefehle seien an die europäischen Polizeidienststellen hinausgegangen, was bedeutet, dass die Genannten in ganz Europa festgenommen werden können.
Man geht davon aus, dass der Richter, der die Haftbefehle unterzeichnet hat, am Montag Pflichtverteidiger für jeden Angeklagten bestellen wird. Sobald dies geschehen ist, wird die 230-Seiten starke Begründung für die Haftbefehle veröffentlicht werden, die einen vollständigen Untersuchungsbericht und die Namen der Beschuldigten beinhaltet.
Ob die beschuldigten CIA-Agenten vor Gericht gestellt werden oder nicht, die Anklage gegen sie hat die ungesetzliche Rolle, die die Vereinigten Staaten weltweit spielen, ins Rampenlicht gerückt. Doch wirft die Praxis der US-Regierung, die Untersuchung und Verfolgung von Terrorverdächtigen in andern Ländern zu vereiteln, noch ganz andere Fragen auf.
Wovor haben die Bush-Regierung und der amerikanische Geheimdienst Angst? Gehen sie nach dem alten Sprichwort vor, dass Tote - und "Verschwundene" - keine Geschichten erzählen? Sabotieren sie gewisse Prozesse ganz bewusst, damit nicht Verbindungen zwischen dem amerikanischen Staat und terroristischen Gruppen oder Einzeltätern, wie zum Beispiel den Attentätern vom 11. September 2001, ans Licht der Öffentlichkeit kommen?