AMIENS - Die Versammlung, die am Donnerstag Abend unter dem Motto "Nein zu Verfassung - Für ein anderes, soziales und demokratisches Europa" in Amiens stattfand, unterschied sich in bemerkenswerter Weise von dem Treffen der Sozialistischen Partei für ein Ja, das wir am Vorabend in Paris erlebt hatten.
Die Atmosphäre war offen, gelöst und optimistisch, und nicht verkrampft und gehässig wie bei den Sozialisten. Die Veranstalter spürten offenbar, dass sie von einer Welle der Opposition innerhalb der Bevölkerung getragen werden. Einige Sprecher trugen eine durchdachte Kritik an der Verfassung vor, die sich wohltuend von den Totschlagargumenten der Befürworter abhob. Aber damit erschöpften sich die positiven Aspekte der Versammlung auch schon.
Wer eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen des Referendums erwartet hatte, dessen Scheitern für die bürgerliche Presse am Donnerstag so gut wie feststand; wer sich eine Antwort auf die komplexen und schwierigen Probleme erhofft hatte, vor denen die Arbeiterklasse in Frankreich und Europa steht, hätte sich den Besuch der Versammlung auch ersparen können.
Die Veranstalter stellten den absehbaren Triumph des Nein-Lagers als gradlinigen Weg zu einem sozialeren und besseren Europa dar. Er werde eine europaweite Dynamik in Gang setzen und die neoliberalen Kräfte in wachsendem Maße in die Defensive drängen. Alles blieb darauf beschränkt, die herrschenden Kreise stärker unter Druck zu setzen, ohne ihre Herrschaft selbst in Frage zu stellen - eine illusionäre Perspektive, wie die anhaltende Rechtsentwicklung sämtlicher bürgerlicher Parteien in Europa, einschließlich der Sozialdemokratie und der Grünen, zeigt.
Als größte Errungenschaft der Kampagne wurde deren "Einheitsdynamik" gepriesen. Das bezog sich auf das breite Bündnis für ein Nein, das die Versammlung in Amiens ausrichtete. Es reicht von einem Flügel der Sozialistischen Partei und der Grünen über die Kommunistische Partei und Attac bis zur Ligue Communiste Révolutionnaire. Man hätte gut und gern vergessen können, dass die Mehrzahl der auf dem Podium versammelten Parteien - die Sozialisten, die Kommunisten und die Grünen - einen großen Teil der vergangenen 25 Jahren in der Regierung verbracht und die in die Verfassung eingegangenen Regelungen mitgetragen haben.
Die Beiträge
Rund 400 Teilnehmer waren zu der Versammlung in Amiens gekommen - Mitglieder und Unterstützer der beteiligten Organisationen, Gewerkschafter und sonstige Interessierte. Vertreten waren sämtliche Altersgruppen. Das Podium war mit der Fahne der LCR auf der Linken und der Fahne der KPF auf der Rechten geschmückt. Dazwischen hingen die "Non"-Plakate der verschiedenen Organisationen.
Francine Bavay von den Grünen eröffnete die Rednerliste. Sie kritisierte den undemokratischen und unsozialen Charakter der Verfassung. Der darin enthaltene Grundrechtekatalog sei minimal und falle weit hinter die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 zurück. Soziale Rechte, wie das Recht auf Arbeit und Ausbildung, seien nicht enthalten.
Sie wandte sich "gegen ein Sozialdumping zwischen den Völkern" und sagte: "Wir wollen keine Konkurrenz zwischen den Arbeitern, sondern gleiche Rechte und gleiche soziale Standards in ganz Europa." Zur Umweltpolitik meinte sie, es sei bezeichnend, dass der Begriff "Bank" im Verfassungstext sechshundert Mal, der Begriff "Klima" dagegen nur ein einziges Mal vorkomme.
Gérard Filoche von der Sozialistischen Partei sagte, es bestehe ein enger Zusammenhang zwischen den sozialen Kämpfen gegen die Regierung und der Ablehnung der Verfassung. Er wies darauf hin, dass es auch in anderen Ländern erheblichen Widerstand gebe. In Athen habe das Parlament die Verfassung ratifiziert, während vor dem Parlament 10.000 für ein Referendum demonstriert hätten. In Deutschland habe Bundeskanzler Schröder die Quittung für seine rechte Politik bekommen: "Das geschieht, wenn man sich links nennt und keine linke Politik macht."
Filoche trat dafür ein, die Verfassung neu zu verhandeln. Als Gewerkschafter wisse er: "Wenn man etwas will, muss man Nein sagen". Die Ablehnung der Verfassung durch die französische Bevölkerung sei "kein Ausdruck der Krise, sondern der Reife Europas". Ausführlich schilderte er dann die Auswirkungen der in der Verfassung verankerten Liberalisierung der Wirtschaft auf verschiedene Bereiche des Arbeitslebens. Er beendete seinen Vortrag mit der Forderung nach einem einheitlichen europäischen Mindestlohn und der Abschaffung der sogenannten Bolkestein-Direktive.
Pierre Khalfa von Attac begann seinen Beitrag mit einem Lob auf die "Einheitsdynamik", welche die Nein-Kampagne entfaltet habe. Dies sei ein "fundamentaler Erfolg", der selbst dann bestehen bleibe, wenn die Verfassung am Sonntag wider Erwarten doch noch angenommen werde.
Bei der Abstimmung gehe es um die Frage "Für oder gegen den Neoliberalismus", fuhr Khalfa fort. Der Verfassungstext sei vom Neoliberalismus durchdrungen. Wie vor ihm schon Filoche trat er für eine Reform der Verfassung ein. Durch die Ablehnung sollten Neuverhandlungen erzwungen werden, um dann einen Kompromiss zu finden. So werde ein Nein in Frankreich die Zukunft für die Völker Europas ebnen.
Hatten sich die bisherigen Redner um einen argumentativen Tonfall bemüht, so schrie François Sabado von der LCR ins Mikrofon, bis die Lautsprecheranlage zu kippen drohte. Sein Gebrüll sollte die kritische Denkkapazität des Publikums ersticken und über die bescheidene, bürgerlich-reformistische Perspektive seiner Vorredner hinwegtäuschen.
Selbst wenn das Ja am Sonntag noch obsiegen sollte, begann Sabado seinen Beitrag, habe das Nein auf der Ebene der Argumente längst gewonnen. Anfangs habe sich die Auseinandersetzung noch um die Aufnahme der Türkei gedreht, rechte Themen hätten die Debatte beherrscht. Jetzt stünden die sozialen Fragen im Mittelpunkt. "Das linke Nein ist sozial und internationalistisch," rief er. "Es wird von der sozialen Dynamik getragen."
Dann begann er in glühenden Farben die Folgen einer Ablehnung der Verfassung zu schildern. Sie wäre der Beginn einer "linken Antwort" und stärke die "Entwicklung zur Einheit" (gemeint ist die Zusammenarbeit der verschiedenen Organisationen). "Wenn das Nein gewinnt, kann man die Geschichte neu schreiben." Die Folgen wären nicht "Chaos und Krise", sondern ein Schlag gegen die liberale Politik und ein Schritt zu einem sozialen Europa. Ein Nein in Frankreich werde ansteckend wirken.
"Die Politik dieser Kampagne muss weiterbestehen", forderte Sabado und war sorgfältig bemüht, keine Formulierungen zu verwenden, an denen seine Partner hätten Anstoß nehmen können. "Eine andere Politik ist möglich", rief er, sie müsse "antikapitalistisch" sein und einen "Bruch mit dem kapitalistischen Liberalismus" anstreben.
Der nächste Redner, Yves Salesse von der Stiftung Copernic, einer Art linkem Think-Tank, widmete sich wieder der Kritik der Verfassung. Er betonte, dass sich das Nein nicht gegen Europa, sondern gegen eine "zutiefst undemokratische" Verfassung richte. Wer behaupte, man müsse mit Ja stimmen, weil eine bessere Verfassung nicht möglich sei, verfalle in Resignation. Die Verfassung müsse den Willen des Volkes ausdrücken. Er erinnerte an Mirabeau, der 1789 dem Gesandten des Königs, der die neugegründete Nationalversammlung auflösen wollte, geantwortet hatte: "Wir sind hier durch den Willen des Volkes."
Letzter Sprecher war Francis Wurtz, Europaabgeordneter der Kommunistischen Partei. Wurtz begann mit der Beschwörung der Einheit der Linken, sprang von einem Thema zum nächsten und verlor sich schließlich in einem endlosen Dschungel europäischer Bestimmungen und Paragraphen - bis ihn der Versammlungsleiter dezent um Abbruch seiner Rede aufforderte.
Die Versammlung endete mit dem gemeinsamen Absingen der Internationale.
Oberflächlicher Optimismus
Die meisten Redner waren sichtlich bemüht, den Erfolg der Nein-Kampagne für den Aufbau einer gemeinsamen Front oder Organisation zu nutzen, die das politische Vakuum füllen kann, welches die Sozialistische Partei hinterlässt. Diese hat sich durch ihr Eintreten für die Verfassung schwer diskreditiert. Eine solche Formation, bestehend aus Reformisten, Stalinisten und der LCR, hätte die Aufgabe, die politische Entwicklung der Arbeiterklasse zurückzuhalten, sie auf ein reformistisches Protestprogramm zu beschränken und die Herausbildung einer unabhängigen, sozialistischen Bewegung zu unterbinden.
Die aktivste Rolle spielt dabei die LCR. Sabados Argument, die Ablehnung der Verfassung werde eine "soziale Dynamik" einleiten, die nach und nach zu einem "sozialen Europa" führe, entwaffnet die Arbeiterklasse politisch. In Wirklichkeit wird das Scheitern der Verfassung - so korrekt und notwendig die Ablehnung dieses rechten Dokuments ist - die politischen Probleme nicht lösen, vor denen sie steht. Die herrschenden Kreise haben bereits deutlich gemacht, dass sie sich mit einer Niederlage nicht passiv abfinden wollen. Sie bereuen inzwischen, die Entscheidung den Wählern überlassen zu haben, und bereiten sich auf autoritärere Formen der Herrschaft vor.
Symptomatisch für das Denken der herrschenden Kreise ist ein Editorial der Tageszeitung Le Monde vom Freitag, das die Gegner der Verfassung aufs Übelste angreift. Die Nein-Wähler, schreibt der Chef des Blattes, Jean-Marie Colombani, hingen einer "doppelten Illusion" an: Sie glaubten, man könne die Mächtigen abstrafen und Europa verändern. Die Abstrafung des Präsidenten könne zwar, wie jeder Wutschrei, eine gewisse Erleichterung schaffen, "aber sie regelt nichts. Sicher nicht unmittelbar das Hauptproblem der Wirtschaft und der französischen Gesellschaft: die Massenarbeitslosigkeit." Sie riskiere zudem, den nächsten Regierungswechsel zu verzögern, "da die Linke tief und dauerhaft gespalten aus dieser Kampagne herauskommt".
Mit anderen Worten, die Arbeiterklasse schluckt entweder die undemokratische Verfassung, oder sie wird es auf lange Zeit mit einer rechten, verhassten Regierung zu tun haben.
Gestützt auf Jürgen Habermas, der im Nouvel Observateur alle Nein-Stimmen als "rechts und fremdenfeindlich" denunziert hatte, wirft Colombani den Verfassungsgegnern chauvinistische Motive vor: "Die Ideologie, die das Nein trägt - und die von den Umfragen gemessen wird: gegen die Verfassung sind vorwiegend jene, die mehrheitlich glauben, man tue mehr für die anderen Europäer als für die Franzosen - ist viel mehr souveränistisch als links."
Die Implikationen dieser Verleumdung sind unmissverständlich: Man darf nicht zulassen, dass eine chauvinistisch verseuchte Bevölkerung die Lösung der "Probleme der Wirtschaft" verhindert und "Frankreich schwächt", und sollte auf ihre demokratischen Rechte weniger Rücksicht nehmen.
Der oberflächliche Enthusiasmus, den die LCR und ihre Partner im Nein-Bündnis verbreiten, entwaffnet die Arbeiterklasse gegenüber diesen drohenden politischen Gefahren. Bezeichnenderweise erwähnen sie auch Le Pen, seine nationalen Front und die anderen rechtsextremen Organisationen kaum. Es sind erst drei Jahre her, da hatten sie Chiracs Wahl zum Präsidenten noch mit der Begründung unterstützt, nur so könne Le Pen, der Zweitplatzierte im ersten Wahlgang, in Schach gehalten werden. Der oberflächliche Optimismus, mit dem sie jetzt die extreme Rechte ignorieren, ist nur die Kehrseite der Panik, mit der sie sich 2002 in die Arme Chiracs geflüchtet hatten.
Beide Reaktionen wenden sich gegen die grundlegende Aufgabe, vor der die Arbeiterklasse in Frankreich und Europa steht: Den Aufbau einer neuen, unabhängigen Partei, die es ihr ermöglicht, gestützt auf ein internationales, sozialistisches Programm als selbständige Kraft ins politische Geschehen einzugreifen.