Am 29. Mai entscheiden die Wahlberechtigten in Frankreich über Annahme oder Ablehnung der Europäischen Verfassung. Die Redaktion der World Socialist Web Site tritt entschieden für eine Ablehnung ein. Wir rufen dazu auf, am 29. Mai mit Nein zu stimmen.
Der fünfhundertseitige, 448 Artikel und 36 Zusatzprotokolle umfassende "Vertrag über eine Verfassung für Europa" wurde am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Rom feierlich unterzeichnet und muss nun in allen 25 Mitgliedsstaaten ratifiziert werden. In zehn geschieht dies mittels einer Volksabstimmung, in den anderen 15 entscheidet das Parlament. Bisher ist die Verfassung nur in Spanien - mit deutlicher Mehrheit aber geringer Beteiligung - vom Volk akzeptiert worden. Wird sie in Frankreich, einem Schlüsselmitglied der EU, abgewiesen, wäre das Verfassungsprojekt auf lange Sicht gescheitert. Grundlage für das Funktionieren der EU bliebe dann der Vertrag von Nizza, der aufgrund der weitgehenden Vetorechte einzelner Mitglieder ein einheitliches Vorgehen der EU auf dem Gebiet der Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik so gut wie unmöglich macht.
Die Redaktion der World Socialist Web Site lehnt die Verfassung aus grundsätzlichen und nicht aus taktischen Erwägungen ab. Wer mit Ja stimmt, votiert nicht "für Europa", wie die Befürworter der Verfassung behaupten. Er legitimiert den bürgerlichen Staat, das kapitalistische Privateigentum, den Militarismus und die imperialistische Außenpolitik. Er legitimiert ein Europa, in dem die elementaren Lebensinteressen der Bevölkerung den Profitinteressen der großen Konzerne und Banken untergeordnet sind.
Zu den tragenden Grundsätzen der Verfassung gehört der "freie und unverfälschte Wettbewerb" und eine "in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft". Damit erhält die Vorherrschaft der Kapitalinteressen über alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens Verfassungsrang.
Eine derartige Regelung ist historisch ohne Vorbild. Die großen bürgerlichen Verfassungen der Moderne - die amerikanische von 1787 oder die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 - verteidigen nicht den Kapitalismus, sondern "die natürlichen, unveräußerlichen und geheiligten Rechte des Menschen". Sie schützen die demokratischen und sozialen Rechte der Bürger, und nicht die Macht und Bewegungsfreiheit des Kapitals. Der Verfassungstext erinnert eher an die Satzung einer Europa AG, als an die Verfassung einer demokratischen Gesellschaft. Indem Markt und Wettbewerb zum Verfassungsziel erhoben werden, wird jeder soziale Kampf für verfassungsfeindlich erklärt.
Die Verfassung ist ein Hohn auf elementare, bürgerlich-demokratische Grundsätze. Rechtsstaatliche Prinzipien wie Gewaltentrennung, Verantwortlichkeit der Regierung und Volkssouveränität werden missachtet. Der Ministerrat, bestehend aus den Regierungen der Einzelstaaten, ist Legislative und Exekutive in einem. Daneben existiert mit der EU-Kommission ein zweites Exekutivorgan, das weitgehend unkontrolliert ein Eigenleben führt und über weitreichende Vollmachten und Eingriffsrechte in die Angelegnehieten der EU-Bürger verfügt. Das Europäische Parlament, die einzige gewählte EU-Institution, hat weder das Recht, die Exekutive zu wählen noch Gesetze zu verabschieden. Es verfügt lediglich über beschränkte Kontroll- und Vetomöglichkeiten und erinnert an die rückgratlosen Parlamente, die sich europäische Fürstenhäuser im 19. Jahrhundert zu halten pflegten. Verglichen mit der über zweihundertjährigen amerikanischen Verfassung liest sich die europäische von 2004 wie ein Dokument aus finsterer Vergangenheit. Die Verfassung enthält zwar einen (äußerst bescheidenen) Grundrechtekatalog, aber diese Grundrechte können nicht beim EU-Gerichtshof eingeklagt werden, existieren also lediglich auf dem Papier.
Dass dieses Dokument dem französischen Volk zur Abstimmung vorgelegt und zur Annahme empfohlen wird, ist ein Maß für die Verkommenheit der politischen Elite. Frankreich hat einige der größten demokratischen und sozialistischen Köpfe der Menschheitsgeschichte hervorgebracht - Condorcet, Danton und Robespierre, Proudhon, Louis Blanc und Jaurès. Was würden sie zu einer Verfassung sagen, die den eigennützigen Kommerz höher stellt als die Würde des Menschen? Frankreich blickt auf mehr große Revolutionen zurück als irgend ein anderes Land - 1789, 1848, 1871. Es hat den Begriff "Sozialismus" in das internationale Vokabular eingeführt. Und nun werben ein François Hollande und ein Lionel Jospin im Namen des Sozialismus für dieses elende Stück Papier. Welch ein Niedergang der Perspektiven und Ideen! Sie fallen vor der Macht des Kapitals auf die Knie und verabschieden sich von Demokratie, Sozialismus und Reformismus.
Die Bevölkerung wurde in den vergangenen Wochen einer pausenlosen Kampagne ausgesetzt, die Verfassung anzunehmen. Öffentliche und private Medien sowie Steuergelder wurden dafür eingesetzt. Die Regierung ließ Hochglanzbroschüren und Kopien der Verfassung an alle Haushalte verteilen, um für ein Ja zu werben. Nachrichtensprecher gaben jeden Anschein von Objektivität auf und warnten, das Scheitern der Verfassung wäre ein "schrecklicher Fehler". Die Parteinahme war so offensichtlich, dass die Aufsichtsbehörden Radio- und Fernsehsender offizielle rügten, weil sie dem Ja- und dem Nein-Lager nicht wie gesetzlich vorgeschrieben dieselbe Zeit einräumten.
Die Bemühungen, die Wähler zur Annahme der Verfassung zu bewegen, beschränken sich nicht auf Frankreich. Deutschland wird die Verfassung zwei Tage vor dem französischen Referendum durch eine Abstimmung im Bundesrat ratifizieren. Der Termin wurde bewusst gewählt, um der Ja-Kampagne in Frankreich einen letzten Anstoß zu geben. Bundeskanzler Schröder und der spanische Regierungschef Zapatero traten in Frankreich wiederholt öffentlich für die Verfassung ein. Deutsche Sozialdemokraten und Grüne bereisten das Land und warben für ein Ja. Bekannte Künstler und Intellektuelle, wie der Schriftsteller Günther Grass und der Philosoph Jürgen Habermas, riefen zur Unterstützung der Verfassung auf.
Trotz dieser geballten Propaganda spürt die Bevölkerung, dass sich die Verfassung gegen sie richtet. Seit Präsident Chirac am Nationalfeiertag des vergangenen Jahres das Referendum ankündigte, ist die Zustimmungsrate von zwei Dritteln auf zeitweise unter 40 Prozent gesunken. Hauptgründe sind die begründete Angst vor den wirtschaftsliberalen Auswirkungen der Verfassung und die weitverbreitete Opposition gegen die Sozialpolitik der Regierung Chirac-Raffarin. Der Ausgang der Abstimmung ist weiterhin völlig offen.
Die Argumente des Ja-Lagers
Die Befürworter der Verfassung - Präsident Jacques Chirac, die UMP, die Mehrheit der sozialistischen Partei, die UDF und die Grünen - reden ganz ungeniert einem europäischen Imperialismus das Wort. Sie unterstützen die Verfassung mit der Begründung, sie ermögliche es Frankreich und Europa, dem amerikanischen Imperialismus wirtschaftlich, politisch und militärisch entgegenzutreten.
Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac bezeichnen die Verfassung als "wichtige Etappe", um "das Gewicht Europas auf der internationalen Bühne zu behaupten". Der Sozialist Pierre Moscovici warnt, das Scheitern der Verfassung hätte die Lähmung und Spaltung Europas zu Folge und wäre ein willkommenes Geschenk für die amerikanische Regierung. Und Außenminister Michel Barnier erklärt das Referendum zur Entscheidung darüber, ob die Franzosen ein "europäisches Europa" oder ein "Europa unter amerikanischem Einfluss" wollen.
Diese anti-amerikanische Orientierung wird mit der Behauptung verknüpft, durch den Aufbau eines "starken Europa" könnten die "soziale Marktwirtschaft" und das "europäische und französische Gesellschaftsmodell" gegen den "anglo-amerikanischen Liberalismus" verteidigt werden. So erklärt UDF-Chef François Bayrou, die Annahme der Verfassung biete Schutz gegen "den amerikanischen individualistischen Liberalismus und den totalitären Ultra-ultra-Liberalismus Chinas". Und der belgische Sozialistenführer Elio Di Rupo warnt, ein Scheitern der Verfassung würde das europäische "Modell der wirtschaftlichen Prosperität, des sozialen Schutzes und der kulturellen Vielfalt in die Hände Großbritanniens geben, das seine ultraliberalen Ansichten durchsetzen könnte".
Das Bedürfnis der Arbeiterklasse nach sozialer Sicherheit wird auf diese Weise mit dem Bestreben des europäischen und des französischen Imperialismus gleichgesetzt, sein "Gewicht auf der internationalen Bühne zu behaupten", und von diesem abhängig gemacht. Mit derselben Logik - die Verteidigung des Vaterlandes bilde die Voraussetzung für den Kampf für Sozialismus - hatten die Sozialdemokraten im Ersten Weltkrieg Millionen Arbeiter auf die Schlachtfelder und in den ebenso sicheren wie sinnlosen Tod geschickt.
Ein weiteres Argument der Befürworter lautet, die Verfassung biete Schutz vor einem Rückfall in Krieg und Faschismus. Der deutsche Bundeskanzler Schröder sagte in einer Rede vor dem Bundestag, es gehe um eine wahrhaft historische Frage: die Idee eines vereinten Europas als Antwort auf die Schrecken des Faschismus.
Das Gegenteil ist der Fall. Das Verfassungsprojekt ist die Antwort der europäischen Mächte auf die wachsenden Spannungen zwischen Europa und den USA sowie anderen Mächten, wie Russland und China, die während des Irakkriegs offen zutage getreten sind. Europa soll zur Großmacht aufgebaut werden und dem unilateralen Auftreten der USA mit einer eigenen, gemeinsamen Außenpolitik und unabhängigen schlagkräftigen Streitkräften Paroli bieten können. Das Ergebnis sind zunehmende Konflikte und militärische Auseinandersetzungen im Nahen Osten, Zentralasien, Afrika und anderen Regionen, die von strategischer Bedeutung sind oder über wichtige Rohstoffe verfügen. Den Preis für diesen anwachsenden Militarismus bezahlt die Arbeiterklasse.
Gleichzeitig kann die europäische Wirtschaft mit der amerikanischen nicht konkurrieren, ohne auch in Europa "amerikanischern Verhältnisse" einzuführen. Darin besteht die wesentliche Aufgabe der Verfassung, die alle Hindernisse beseitigt, die der freien Zirkulation des Kapitals und der ungehemmten Ausbeutung der Arbeiterklasse im Wege stehen. Wird sie angenommen, beschleunigt sich der seit zwanzig Jahren anhaltende Sozialabbau weiter. Vom Standpunkt des internationalen Kapitals, sind die europäischen Löhne, Sozialleistungen und Steuern immer noch viel zu hoch.
Zumindest ein Vertreter des Ja-Lagers ist in dieser Hinsicht ehrlich. Nicolas Sarkozy, Chef der Regierungspartei UMP, spottet über die Kampagne gegen den Ultraliberalismus und begründet sein Eintreten für die Verfassung damit, dass sie dazu diene, Frankreich im neoliberalen Sinne zu reformieren. "Ich bin Europäer, weil Europa ein hervorragender Hebel ist, um in Frankreich Reformen durchzuführen", sagte er in le monde.
Die Argumente des Nein-Lagers
Die Gegner der Verfassung teilen die imperialistischen Ziele ihrer Befürworter. Auch sie wollen ein starkes Frankreich in einem starken Europa. Sie sind aber der Ansicht, dass die Verfassung dem Erreichen diese Ziels im Wege steht.
Die extreme Rechte sieht in Europa eine Bedrohung der französischen Nation. Sie bedient sich eines unverhüllten Chauvinismus. Den Mittelpunkt ihres Feldzugs gegen die Verfassung steht eine rassistisch gefärbte Kampagne gegen den EU-Beitritt der Türkei.
Die linken Verfassungsgegner - ein breites Bündnis, das vom Minderheitsflügel der Sozialistischen Partei über die Souveränisten Jean-Pierre Chevènements, die Globalisierungsgegner von Attac und die Kommunistische Partei bis zur Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) reicht - legen dagegen das Schwergewicht ihrer Kampagne auf den neoliberalen Charakter der neuen Verfassung. Aber auch sie begründen ihre Ablehnung mit dem Argument, dass die Verfassung den USA zu viel Einfluss auf Europa einräume.
So warnt Laurent Fabius, Wortführer der Verfassungsgegner innerhalb der Sozialistischen Partei, vor einem "ohnmächtigen Europa" und einem "geschwächten Frankreich", falls die Verfassung angenommen werde. Er begründet dies mit der Unterordnung der Verteidigungspolitik unter die US-dominierte Nato, dem Veto-Recht aller Mitglieder bei außenpolitischen Entscheidungen und der fehlenden Stimmenparität zwischen Frankreich und Deutschland. Das Organ der Kommunistischen Partei L’Humanité warnt sogar davor, dass die USA die europäische Aufrüstung torpedieren könnten, falls die Verfassung in Kraft tritt.
Die Vorstellung, das "französische Gesellschaftsmodell" ließe sich im Rahmen des französischen Nationalstaats gegen den "Neoliberalismus" verteidigen, ist ebenso illusorisch, wie Chiracs absurde Behauptung, dies sei im Rahmen der europäischen Verfassung möglich. Die Globalisierung von Produktion und Finanzmärkten hat allen Formen sozialreformistischer Politik den Boden entzogen, ob im französischen oder im europäischen Rahmen. Gegenüber dem Druck der globalen Märkte erweist sich der Nationalstaat als ohnmächtig.
Dies beweist die Rechtsentwicklung ausnahmslos aller sozialreformistischer Parteien und Gewerkschaften, auch jener, die noch der sozialen Gerechtigkeit das Wort reden. Wo sie Regierungsverantwortung tragen - wie die SPD in Deutschland oder die Sozialistische Partei unter Jospin in Frankreich - führen sie die gleichen Angriffe auf soziale Rechte und demokratische Errungenschaften durch, wie konservative und liberale Regierungen.
Die Gewerkschaften haben längst aufgehört, die Errungenschaften ihrer Mitglieder zu verteidigen, und sabotieren systematisch den Widerstand gegen Entlassungen, Lohn- und Sozialabbau. Organisieren sie Proteste, dienen diese in der Regel dazu, Dampf abzulassen und dafür zu sorgen, dass der Widerstand nicht außer Kontrolle gerät. In Frankreich führt die CFDT in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund eine Kampagne für das Ja zur Verfassung. Auch Bernard Thibault, der Generalsekretär der CGT, hat sich für die Verfassung ausgesprochen, im Gegensatz zur Mehrheit der eigenen Organisation.
Eine unabhängige Perspektive
Die Arbeiterklasse kann keines der streitenden Lager unterstützen, sonst wird sie zur Manövriermasse in den Händen der einen oder anderen Fraktion der Bourgeoisie. Sie benötigt eine eigene, unabhängige Perspektive. Sie muss der reaktionären Verfassung eine entscheidende Abfuhr erteilen.
Aber das bedeutet nicht, dass sie das bürgerliche Nein-Lager unterstützen soll, das nicht weniger reaktionäre Ziele verfolgt. Dessen Pläne - das Weiterbestehen der EU auf der Grundlage von Nizza, die Herausbildung eines deutsch-französisch dominierten Kerneuropa oder das Auseinanderdriften der EU in rivalisierende Nationalstaaten - bergen ebenso große Gefahren in sich, wie die Annahme der Verfassung: Wachsenden Nationalismus, Abschottung der Grenzen, ökonomischen Niedergang und das Risiko eines erneuten europäischen Krieges.
Die elementarsten Rechte und Errungenschaften der Arbeiterklasse können heute nur noch im Rahmen eines sozialistischen Programms verteidigt werden, das die kapitalistischen
Eigentumsverhältnisse in Frage stellt. Ein sozialistisches Programm wiederum kann nur im internationalen Maßstab verwirklicht werde. Es erfordert den Zusammenschluss der Arbeiterklasse über alle nationalen, ethnischen und kulturellen Grenzen hinweg. Die einzige Alternative zur Europäischen Unon und ihrer Verfassung, die es der Arbeiterklasse ermöglicht, ihre Interessen zur Geltung zu bringen, sind die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.
Nur auf dieser Grundlage können die Spaltung des Kontinents in rivalisierende Nationalstaaten überwunden und seine gewaltigen Reichtümer und Produktivkräfte im Interesse der gesamten Gesellschaft genutzt und weiterentwickelt werden. Ein vereinigtes sozialistisches Europa würde die Arbeiterklasse in die Lage versetzen, sich dem US-Imperialismus entgegenzustellen. Es würde die amerikanische Arbeiterklasse ermutigen, es mit den Kriegstreibern im Weißen Haus aufzunehmen. Und es würde zu einer enormen Inspiration für unterdrückte Völker auf der ganzen Welt, sich dem Imperialismus entgegenzustellen und mit den Unterdrückern im eigenen Land aufzuräumen.
Die Verwirklichung dieser Perspektive erfordert, dass sich die Arbeiterklasse von allen Parteien löst, die sie an die bürgerliche Ordnung ketten, und sich unabhängig in einer sozialistischen Weltpartei organisiert. Genau das versuchen die Organisationen der sogenannten "extremen Linken" zu verhindern.
Die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) ist ein integraler Bestandteil des bürgerlichen Nein-Lagers. Sie dient ihm als linkes Feigenblatt. Ihre Sprecher treten regelmäßig mit Vertretern der Sozialistischen und Kommunistischen Partei, Attac und den Souveränisten auf gemeinsamen Versammlungen gegen die Verfassung auf. Dass sie die Nein-Kampagne im Verein mit abgebrühten Nationalisten führen, zeigt unmissverständlich ihre Feindschaft gegen die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse. Sie verzichten zwar selbst auf die nationalistische Rhetorik der Stalinisten und Sozialdemokraten und beschwören ein "Europa der Arbeiter". Aber das dient nicht dazu, die Sozialchauvinisten zu entlarven, sondern ihre Standpunkte zu beschönigen. Die LCR verzichtet auf jede Polemik gegen sie und ist bemüht, den unversöhnlichen Gegensatz zwischen der Politik der bürgerlichen Verfassungsgegner und einem sozialistischen Programm im Interesse der Arbeiterklasse zu verwischen.
Ungeachtet ihres Namens ist die Politik der LCR weder kommunistisch noch revolutionär. Sie tritt für ein "soziales und demokratisches Europa" ein und nicht für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa. Sie kämpft gegen den "Neoliberalismus", und nicht gegen den Kapitalismus. Das ist keine Frage der Terminologie, sondern eine Frage der Perspektive. Die LCR prangert die schlimmsten Exzesse des kapitalistischen Profitsystems an, aber nicht das Profitsystem als solches. Sie erweckt die Illusion, dass sich der Kapitalismus im Interesse der Arbeiterklasse reformieren lässt, und versucht, den durch jahrelange Regierungstätigkeit diskreditierten Sozialisten und Stalinisten wieder Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Sie würde auch nicht davor zurückschrecken, Ministerposten in einer bürgerlichen Regierung zu übernehmen. Ihre Schwesterorganisation in Brasilien hat dies bereits getan.
Während sich die LCR aktiv dafür einsetzt, die verbreitete Opposition gegen die Regierung und die Europäische Union ins Fahrwasser der bürgerlichen Parteien zu lenken, tut Lutte Ouvrière dasselbe in passiver Weise. Sie empfiehlt den Arbeitern, sich aus der Politik herauszuhalten, sich auf Proteste und Streiks zu konzentrieren und die politische Initiative andern zu überlassen. "Während und nach den Demonstrationen vom 10. März wurde gesagt, man müsse deren Erfolg in einen Erfolg des Nein’ im Referendum verwandeln", schrieb Arlette Laguiller im Editorial vom 18. März. "Wer so etwas sagt, verrät die Interessen der Arbeiter. Die steigende Unzufriedenheit darf nicht in Richtung der Wahlurnen geleitet werden. (...) In den Betrieben und auf der Straße sind wir stark."
Das Internationale Komitee der Vierten Internationale wurde 1953 gegründet, um die Perspektiven der Vierten Internationale, der von Leo Trotzki gegründeten sozialistischen Weltpartei, gegen die politischen Revisionen von Michel Pablo und Ernest Mandel zu verteidigen, auf die die heutige LCR zurückgeht. Sein internationales Organ, die World Socialist Web Site, verfolgt das Ziel, die Entwicklung einer internationalen sozialistischen Massenpartei theoretisch und politisch vorzubereiten. Es analysiert täglich die wichtigsten internationalen Ereignisse und gibt eine Orientierung und Perspektive.
Wer in Frankreich ernsthaft für eine internationale sozialistische Perspektive kämpfen will, ist eingeladen, die World Socialist Web Site regelmäßig zu verfolgen, sie zu unterstützen und sich am Aufbau des Internationalen Komitees zu beteiligen.