Ende August hatte der Volkswagen-Konzern von seinen 103.000 Beschäftigten in Westdeutschland jährliche Einsparungen von einer Milliarde Euro bei Löhnen und Gehältern gefordert. Knapp zwei Monate später lieferten IG Metall und Betriebsrat das gewünschte Ergebnis ab. Nach den üblichen starken Worten und symbolischen Protestdemonstrationen unterzeichneten sie einen Tarifabschluss, der die Forderung des Konzerns bis zum letzten Cent erfüllt. Die Personalkosten sinken ab 2006 um eine Milliarde Euro.
Erreicht wird dies durch drastische Lohneinbußen und eine Spaltung der Belegschaft. "Ungleicher Lohn für gleiche Arbeit" heißt das neue Motto der Gewerkschaft, das immer häufiger Schule macht. Neu eingestellte Arbeiter werden bedeutend weniger verdienen als ihre Kollegen, die jetzt schon bei VW unter Vertrag stehen.
Klaus Volkert, Vorsitzender des Gesamt- und Konzernbetriebsrats der Volkswagen AG und Mitglied der Verhandlungskommission, bezeichnete den Abschluss als "tragbares Ergebnis, mit dem beide Seiten leben können". "Wichtig ist, dass wir die Arbeitsplätze in der Volkswagen AG gesichert haben und damit nicht nur den Beschäftigten und ihren Familien, sondern auch den Regionen der Standorte und dem Industriestandort Deutschland eine Perspektive für die Zukunft erhalten haben," verkündete er.
Doch die "Beschäftigungsgarantie bis zum Jahre 2011", welche die Gewerkschaft erreicht haben will, erweist sich bei näherem Hinsehen als reiner Bluff. Der sogenannte "Zukunftsvertrag", den Volkswagen und IG Metall am 3. November nach 27-stündiger Verhandlung abschlossen, enthält nämlich eine "Revisionsklausel". Danach führen VW und Gewerkschaft "bei wesentlichen Änderungen der Grundannahmen oder der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen", also bei sinkendem Absatz und/oder fallenden Gewinnen, ein "Überprüfungsgespräch". Bringt dieses "Gespräch" kein Ergebnis, kann der Konzern den Vertrag auch innerhalb von drei Monaten kündigen. Frühere Beschäftigungszusagen des VW-Vorstands hatten noch eine Kündigungsfrist von einem Jahr gehabt. Was eine siebenjährige Arbeitsplatzgarantie wert ist, die innerhalb von drei Monaten gekündigt werden kann, ist leicht auszurechnen.
Die Kapitulation der Gewerkschaft war so vollkommen, dass die Einzelheiten unter Verschluss gehalten wurden, bis das Ergebnis von der Großen Tarifkommission abgesegnet war. IG-Metall-Bezirksleiter und Verhandlungsführer Hartmut Meine hatte mit Josef-Fidelis Senn, der für VW den Deal ausarbeitete, abgemacht, dass die Details des Vertrags erst anschließend veröffentlicht werden, wenn der Vertrag also endgültig ist. Eine Situation, in der aufgebrachte Arbeiter vor dem Sitzungsgebäude der Tarifkommission die Ablehnung fordern, sollte unbedingt vermieden werden.
Ohne den Druck der Straße billigte die Tarifkommission den Vertrag zwei Tage später recht eindeutig mit 93 zu 15 Stimmen. Einzig die Vertreter der Auszubildenden in der Kommission lehnten ihn geschlossen ab. Der Grund dürfte klar sein: sie haben die größten Kürzungen zu verkraften.
IG-Metall-Bezirksleiter Meine versuchte nach Bekanntwerden der Einzelheiten Befürchtungen zu zerstreuen. Auf einer Pressekonferenz in Hannover erklärte er, VW werde die Revisionsklausel nur in Anspruch nehmen, "wenn der Himmel einstürzt". Er sei sich "sehr sicher", dass das Unternehmen den geschlossenen Vertrag einhalten werde.
Betrachtet man die Lage der deutschen und internationalen Autoindustrie, so wird der "Einsturz des Himmels" nicht bis zum Jahre 2011 auf sich warten lassen. Eine endlose Spirale der Kürzungen ist längst eingeleitet worden. Vor VW hat bereits DaimlerChrysler seiner Belegschaft Lohnkürzungen und Mehrarbeit verordnet. Opel ist dabei, dasselbe zu tun, und andere werden folgen. Da ist es nur eine Frage Zeit, wann sich IG Metall und VW-Vorstand zu einer weiteren Runde des Lohnabbaus zusammensetzen.
Im Mittelpunkt des VW-Deals steht eine kräftige Reallohnsenkung. Langfristig sollen die Löhne auf das Niveau des Flächentarifs fallen, was einer Minderung um 20 Prozent entspricht. Dies wird durch ein ganzes Bündel von Maßnamen erreicht, das nicht zuletzt den Zweck erfüllt, die Belegschaft zu spalten, um die Angriffe leichter durchsetzen zu können.
Die Löhne der westdeutschen VW-Beschäftigten werden, wie von VW verlangt, für die nächsten 28 Monate, bis zum 31. Januar 2007, eingefroren. Selbst eine bereits vor zwei Jahren vereinbarte "Strukturkomponente" - eine Tariferhöhung von 1,4 Prozent für Arbeiter, die ihre Löhne den Angestelltengehältern angleicht - wird einkassiert. Angesichts massiv steigender Belastungen durch die Gesundheitsreform und deutlicher Inflationstendenzen bedeutet dies eine empfindliche Reallohnsenkung. Die IG Metall hatte ursprünglich eine Lohnerhöhung von 4 Prozent gefordert
Im März nächsten Jahres erhalten die Beschäftigten zusätzlich eine einmalige Pauschale von 1000 Euro. Laut IG Metall entspricht dies einer durchschnittlichen Lohnerhöhung von 1,35 Prozent. In Wirklichkeit versteckt sich dahinter aber eine Lohnsenkung. Die 1000 Euro ersetzen den bisherigen Jahresbonus, der in den vergangenen Jahren 1100 bis 1500 Euro betragen hatte und im nächsten Jahr wegfällt. Erst für 2006 wird wieder ein Erfolgsbonus gezahlt, dessen Höhe aber teilweise vom Geschäftsergebnis abhängig ist. Der Tariflohn, Ausgangspunkt für die Tarifrunde 2007, erhöht sich dagegen überhaupt nicht.
Die Entscheidung, auch die Grundbezüge des Vorstands bis Anfang 2007 nicht anzuheben, ist - ebenso wie bei DaimlerChrysler - ein billiger Versuch, eine Interessensgemeinschaft von Management und Belegschaft vorzugaukeln.
Der nur achtköpfige VW-Vorstand bezog im vergangenen Jahr ein Einkommen von 13,8 Millionen Euro. 2002 waren es mit 16,1 Millionen Euro sogar noch 17 Prozent mehr. Das entsprach einem durchschnittlichen Monatgehalt von 168.000 Euro. Der Grund für den Rückgang im letzten Jahr war das ungünstigere Geschäftsergebnis, von dem die Bonuszahlungen abhängig sind, die einen Teil der Vorsandseinkommen bilden. Sollte der neue Tarifvertrag das Geschäftsergebnis auf Kosten der Belegschaft wieder verbessern, hat dies ein automatisches Ansteigen der Managergehälter zur Folge.
Unterschiedliche Löhne
Noch folgenreicher als das Einfrieren der bestehenden Gehälter sind die niedrigeren Tarife für neu eingestellte VW-Arbeiter, die die IG Metall vereinbart hat. Diese werden als Hebel für künftige Lohnsenkungen dienen.
Schon bisher arbeiteten bei VW auf ein und demselben Werksgelände Männer und Frauen mit unterschiedlichen Löhnen. Vor drei Jahren hatten VW-Management und Gewerkschaft im Rahmen des Projekts "5000 mal 5000" festgelegt, dass 3.500 zuvor arbeitslose Autowerker mitten auf dem Wolfsburger Werksgelände den Familien-Van Touran produzieren, und zwar für Löhne, die 20 Prozent unter dem Haustarif liegen, der in der Golf-Produktion direkt nebenan bezahlt wird.
Die wsws kommentierte damals, am 6. September 2001: "Das Bedeutende und Richtungsweisende’ an dem VW-Vertragswerk besteht darin, dass es sehr gezielt die Massenarbeitslosigkeit wie eine Art Brechstange einsetzt, um Billiglöhne und eine deutliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durchzusetzen.... Mit dem jüngsten VW-Tarif hat diese Entwicklung eine neue Dimension erreicht. Die Gewerkschaft übernimmt nun die Aufgabe, einen tariflich geregelten Niedriglohnsektor aufzubauen."
Diese Entwicklung wurde nun fortgesetzt. In Zukunft werden Kollegen nicht nur in benachbarten Werkshallen, sondern auch an derselben Werkbank unterschiedlich bezahlt. Die IG Metall hat laut VW-Angaben einer 17-prozentigen Absenkung der Löhne für alle Neueinstellungen zugestimmt. Ein detaillierter Tarifplan für die Neueinstellungen soll noch bis zum 31. März nächsten Jahres entwickelt werden. In der Vereinbarung sind aber schon vorab zentrale Eckpunkte benannt.
Bislang verdient ein VW-Facharbeiter monatlich rund 2600 Euro plus Zulagen. Er muss dafür aufgrund der 1993 eingeführten Vier-Tage-Woche 28,8 Stunden wöchentlich arbeiten. Für die alte VW-Belegschaft gilt dies auch weiterhin, während neu Eingestellte ab Januar einen etwas geringeren Ecklohn von 2562 Euro erhalten, dafür aber wesentlich länger, nämlich 35 Stunden arbeiten müssen. Die Touran-Bauer erhalten einen Ecklohn von 2556 Euro bei bis zu 42 Wochen-Stunden.
Die Auszubildenden gehören ebenfalls zu den großen Verlierern. Die Vergütung der Ausbildungsjahrgänge ab 2005 orientiert sich an den neuen Facharbeiterlöhnen. Von bisher 940 Euro im ersten Lehrjahr sinken sie auf 730 Euro. Auch unter den Lehrlingen hat die IG Metall eine perfide Spaltung zugelassen. Es werden nicht mehr alle, sondern nur noch 85 Prozent eines Jahrgangs von VW übernommen. Die restlichen 15 Prozent erhalten ein Angebot bei der Auto Vision GmbH, der VW-eigenen Zeitarbeitsfirma. Selbstverständlich gilt hier nicht der VW-Haustarif.
Neben den Lohnsenkungen hat die IG Metall auch andere Punkte eines "Sieben-Punkte-Plans" akzeptiert, den Arbeitsdirektor Peter Hartz im Sommer vorgelegt hatte. So ist das Arbeitszeitkonto von derzeit 200 Plus- bzw. Minusstunden verdoppelt worden und kann in Einzelfällen sogar über 400 Stunden betragen. Das vergrößert den Spielraum des Konzerns, die Arbeiter je nach Auftragslage zu beschäftigen, ohne dass ihm dadurch zusätzliche Kosten entstehen. Zuschläge für Mehrarbeit werden nur noch in Ausnahmefällen und erst ab der 41. Wochenstunde gezahlt.
Die Gewerkschaft räumt dem Konzern auch die Möglichkeit ein, ältere - und entsprechend teure - Arbeiter aus dem Betrieb zu drängen, um billigere jüngere Arbeiter einstellen zu können. "Beide Parteien sind darüber einig, dass sich das Beschäftigungsvolumen durch zwischen den Betriebsparteien vereinbarte Personalrestrukturierungsmaßnahmen (Altersaufhebungsverträge, Altersteilzeit und Aufhebungsverträge) sowie durch die Anzahl der übernommenen Ausgebildeten verändert," heißt es in der Vereinbarung. Die "demographischen Herausforderungen" (laut IGM liegt das Durchschnittsalter bei VW Kassel derzeit bei über 40 Jahren) machten es notwendig, "den Beschäftigten die Möglichkeit eines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsleben einzuräumen. [...] Das Unternehmen ermöglicht weiterhin insgesamt rund 4200 Beschäftigten (vor allem Jahrgänge 1949 und 1950) die Inanspruchnahme von Altersteilzeit."
Älteren Arbeiter können beispielsweise 66 Stunden pro Jahr auf ein Lebensarbeitszeitkonto ansparen und das Arbeitszeitguthaben später zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Betrieb nutzen. Dabei müssen nicht unbedingt 66 Stunden pro Jahr mehr gearbeitet werden. Die Arbeiter können auch einen Teil ihres Lohns in "Zeitwertguthaben" umwandeln.
Während die Verhandlungsführer der Gewerkschaft bei Löhnen und Arbeitsbedingungen weitgehend den Forderungen des Konzerns nachkamen, zeigten sie in Bezug auf ihre eigenen Interessen und ihre zukünftige Rolle im Konzern mehr Rückgrat. Als Bestandteil der Vereinbarung wurde festgeschrieben, dass der Betriebsrat beim so genannten Co-Investment - einem Wettbewerbsverfahren zwischen den Werken - eine maßgebliche Rolle spielt.
Unter Punkt 4.4 wird festgelegt, dass das Verfahren "mit dem Gesamtbetriebsrat zu regeln" ist. In diesem Zusammenhang sollen jährliche "Symposien zur Standort- und Beschäftigungssicherung" durchgeführt, "alle Entscheidungen mit Priorität darauf geprüft werden, ob sie an den Standorten der Volkswagen AG wettbewerbsfähig dargestellt werden können" und die "Beteiligung des Betriebsrates an der Umsetzung der Zielsetzungen" gewährleistet werden.
IG Metall und Betriebsrat werden also in Zukunft den Standortwettbewerb zwischen den einzelnen Werken noch stärker als bisher mitgestalten. Sie betrachten sich nicht als Vertreter der Beschäftigten, sondern als Co-Manager. Ihre Aufgabe besteht darin, Einsparungen und Lohnabbau durchzusetzen, ohne dass es dabei zu Unruhe und Konfrontationen kommt. Dabei ist ihnen bewusst, dass dies mit zunehmendem Appetit der Aktienbesitzer und Konzernetagen nicht leichter wird.
Nicht zuletzt die große Beteiligung der VW-Arbeiter an den Warnstreiks und insbesondere der spontane Streik bei Opel führten zu der relativ raschen Einigung zwischen Gewerkschaft und Konzernleitung bei VW. Mehr als 50.000 Beschäftigte haben noch am 2. November, einen Tag vor dem Abschluss, mit Warnstreiks ihren Forderungen Nachdruck verliehen. Massive Warnstreiks und Streiks bergen - aus Sicht der Gewerkschaft - immer die Gefahr, dass aufgrund der wachsenden Zuversicht und des Selbstbewusstseins auf Seiten der Belegschaft "Begehrlichkeiten" geweckt werden, die nicht befriedigt werden sollen.
"Es gibt kein Gesetz, das besagt: Einkommen gehen immer nur nach oben", erklärte IG-Metall-Vize Berthold Huber jüngst in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau. "Eine Gewerkschaft, die behauptet, das könne sie zusagen, ist unseriös. Löhne sind dem Auf und Ab des Arbeitsmarkts, der Konjunktur und der betrieblichen Entwicklung unterworfen."
Die Signale der Vereinbarung bei VW sind von Politik und Wirtschaft sehr wohl gehört worden. Kaum ein Politiker - allen voran Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Finanzminister Hans Eichel (beide SPD) - und Wirtschaftsvertreter, der den Abschluss nicht lobte und im gleichen Atemzug Nullrunden auch in anderen Branchen forderte. Der Abschluss bei VW ist nach den Vereinbarungen bei Siemens, DaimlerChrysler und Karstadt ein weiterer Meilenstein bei der Erosion von Löhnen und Arbeitsbedingungen.