Die NATO-Erweiterung und die politische Krise in Europa

Am 1. April 2004 erlebte das nordatlantische Militärbündnis NATO mit der Aufnahme von sieben zentral- und osteuropäischen Ländern die größte Erweiterung in seiner 55jährigen Geschichte. Die neuen Mitglieder der Militärallianz unter amerikanischer Führung sind allesamt ehemalige Staaten des Warschauer Paktes oder ehemalige Republiken der Sowjetunion: Bulgarien, Estland, Litauen, Lettland, Rumänien, Slowenien und die Slowakei.

Damit erweiterte die NATO zum zweiten Mal in der jüngeren Zeit ihre Mitgliedschaft in der zentral- und osteuropäischen Region. Polen, die Tschechische Republik und Ungarn waren dem Bündnis 1999 beigetreten.

Auch wenn die Aufnahme in die Allianz von den üblichen Gratulationen, offiziellen Feierlichkeiten und Phrasen über die Ausweitung von Demokratie und Freiheit begleitet wurde, war doch nicht zu übersehen, dass sich die neuen Länder einer intern gespaltenen Organisation anschlossen. Trotz allem Gerede von NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer, dass die NATO die Ära des geteilten Europas beende, sind die sieben neuen Mitglieder dem Bündnis zu einem Zeitpunkt beigetreten, in dem die Gegensätze zwischen den wichtigsten Mitgliedern größer sind denn je. Die Neuzugänge kamen nicht als unabhängige Nationen in die Militärallianz, sondern als Verstärkung Amerikas in einer Auseinandersetzung zwischen Großmächten.

Noch bevor die Tinte unter dem Aufnahmevertrag getrocknet war, zerfiel das Bündnis wieder in die gegensätzlichen Lager, die sich über das vergangene Jahrzehnt hinweg herausgebildet haben. In den Tagen nach dem 1. April führten der französische Präsident Jacques Chirac und der deutsche Kanzler Gerhard Schröder jeweils bilaterale Gespräche mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, dessen Regierung sich schon seit geraumer Zeit über die Osterweiterung der NATO besorgt zeigt. Auch die NATO-Mitglieder Deutschland und Frankreich hatten die Erweiterung, von der sich die Vereinigten Staaten am meisten versprechen, mit Argwohn betrachtet. Mit Ausnahme Sloweniens verfolgen alle anderen sechs Neumitglieder eine fest an Amerika orientierte außenpolitische Linie.

Moskau, Berlin und Paris taten zwar öffentlich ihre Unterstützung für die NATO-Erweiterung kund, doch allein die Tatsache, dass sich die drei an einander ausrichteten, zeigt schon das Ausmaß der Distanz zwischen den USA und diesen Ländern, das auch bereits vor dem Irakkrieg sichtbar geworden war. Dies bedeutet nicht, dass Deutschland, Frankreich und Russland in der Lage wären, eine Alternative zur Washingtoner Agenda zu formulieren. Die jetzigen Treffen erinnerten an die Beratungen im September 2003, bevor den Vereinigten Staaten mit einer UN-Resolution die Kontrolle über den Irak übertragen wurde, als sich die Vertreter Russlands, Deutschlands und Frankreichs trafen, um sich auf eine Kapitulation vor den amerikanischen Forderungen zu einigen.

Ein geteiltes Eurasien

Die Erweiterung der NATO auf die ehemaligen Gebiete des Warschauer Paktes und der Sowjetunion war ein zentraler Aspekt der imperialistischen Politik Amerikas nach der Auflösung der UdSSR im Jahre 1991. Von da an standen dem amerikanischen und dem westeuropäischen Imperialismus große Teile der Welt offen, die zuvor für sie unerreichbar gewesen waren.

Das europäische Kapital trat in der Region als wichtiger Investor auf, während die Vereinigten Staaten ihren Einfluss vorrangig über die Förderung militärischer Verbindungen geltend machten. Die militärische Dominanz Amerikas in der Region stellt nicht nur ein Gegengewicht zur Europäischen Union dar, sondern auch ein Mittel, um die amerikanischen Wirtschaftsinteressen auf dem gesamten eurasischen Kontinent zu sichern.

Durch ihr Netz von Militärbasen, bilateralen Abkommen und die NATO-Strukturen kann das US-Militär jetzt Männer und Material in einem beinahe durchgehenden Korridor über den Kontinent verschicken. Dieser umfasst dabei alle wichtigen Zentren der Öl- und Gasförderung und die Haupttransportrouten und -verladestationen, von der baltischen Küste bis zum Kaspischen Becken.

Amerikanisches Militärpersonal soll von einigen der großen US-Basen in Deutschland nach Osten, auf ehemalige Basen des Warschauer Paktes in Polen, Ungarn, Bulgarien und Rumänien verlegt werden. Truppenverlagerungen auf eine geplante neue amerikanische Basis in Albanien sind ebenfalls in Vorbereitung. Unter der Schirmherrschaft der NATO haben die Vereinigten Staaten ihre Streitkräfte auch in wichtigen strategischen Gebieten platziert, nicht zuletzt im ehemaligen Jugoslawien, wo Tausende amerikanischer Soldaten im Einsatz sind.

Die russische Regierung hat ihre starken Vorbehalte gegen die jüngste NATO-Erweiterung zum Ausdruck gebracht. Sie missbilligt dabei vor allem die Aufnahme der baltischen Staaten und fürchtet, dass die NATO demnächst auch die Ukraine, Aserbaidschan und Georgien integrieren könnte, die seit langem Verbindungen zu Amerika und seinem Militärbündnis unterhalten. Die NATO-Erweiterung im Baltikum hat bereits zu einer weiteren Verschlechterung der offiziellen Beziehungen zwischen Russland und den drei Ostseeanrainern Estland, Lettland und Litauen geführt. Im April verwies Lettland einen russischen Diplomaten des Landes, weil er angeblich "militärische Infrastruktur der NATO auszuspionieren versuchte". Damit wurde bereits zum sechsten Mal in diesem Jahr ein russischer Diplomat aus den baltischen Ländern ausgewiesen - zwei waren im März aus Estland, drei im Februar aus Litauen herausgeworfen worden.

Putin verurteilte die letzte NATO-Erweiterung zwar nicht offiziell, seine Regierung gab jedoch eine Reihe von Stellungnahmen ab, die auf wachsende Spannungen zwischen Moskau und der NATO schließen ließen. Der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow sagte, aufgrund des Vordringens der NATO an die russischen Grenzen sei eine veränderte Verteidigungspolitik Russlands notwendig geworden. "Die Allianz hat ihre Möglichkeiten erweitert, das russische Territorium zu kontrollieren und zu überwachen. Wir können nicht wegsehen, wenn die Luft- und Militärbasen der NATO viel näher an Städte und Verteidigungskomplexe im europäischen Teil Russlands heranrücken", erklärte Iwanow.

Bei diesen Bedenken geht es insbesondere um den Zugang zur russischen Enklave Kaliningrad, die jetzt von den NATO-Mitgliedern Polen und Litauen umschlossen ist. Kaliningrad war einst eine Sondermilitärzone, in der Zehntausende russischer Armee- und Marineangehöriger stationiert waren, und ist heute noch die Basis der in die Jahre gekommenen russischen Ostseeflotte. Die russische Militär- und Zivilverwaltung ist besorgt, dass die Erweiterung effektiv eine der wichtigsten Militäreinrichtungen vom Land abgeschnitten hat; gleichzeitig sind durch die Aufnahme der baltischen Staaten NATO-Kampfflugzeuge nun in der Lage, innerhalb von fünf Minuten St. Petersburg zu erreichen.

Die Art und Weise, wie die NATO benutzt wird, um amerikanische Interesse in der Region zu fördern, kann beispielhaft am neuen gemeinsamen Luftverteidigungssystem für die baltischen Staaten BALTNET beobachtet werden. BALTNET, das in Litauen angesiedelt ist, steht unter der Aufsicht des US-Militärs und des amerikanischen Rüstungskonzerns Lockheed Martin, wird aber von der NATO als Ganzer unterhalten und militärisch unterstützt. Seit den frühen neunziger Jahren waren die Vereinigten Staaten die führende Macht bei der langfristigen Modernisierung des Militärs der baltischen Länder.

Die Vereinigten Staaten haben einen großen Teil der Kosten übernommen, die anfielen, um die neuen NATO-Länder auf den von der Allianz verlangten militärischen Stand zu bringen - dies gilt besonders für die baltischen Staaten. Neben BALTNET wurden drei weitere gemeinsame estnisch-lettisch-litauische Militärprojekte ins Leben gerufen und unter die Aufsicht des Pentagons gestellt: BALTBAT (ein gemeinsames Infanteriebataillon), BALTRON (ein gemeinsames Marinegeschwader) und BALTDEFCOL (die baltische Militärakademie).

Die Eliten in Russland und Kontinentaleuropa fürchten zu recht, dass mit der NATO-Erweiterung ihr direkt Einfluss beschnitten werden soll.

Die neuen Mitglieder der Allianz sind Teil des "neuen Europas", das der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld unmittelbar vor der Invasion im Irak beschwor und mit dem er all die Länder meinte, deren Regierungen ohne zu wanken den angeblichen "Krieg gegen den Terrorismus" der Bush-Regierung und das Vorgehen gegen Afghanistan und den Irak unterstützten. Die meisten der neuen NATO-Mitglieder stellten eigene Einheiten für die Invasion und Besatzung im Irak zur Verfügung. Nur Slowenien, das am engsten an den europäischen Mächten orientiert ist, verweigerte die direkte Teilnahme. Die amerikanischen Streitkräfte benutzten See- und Luftbasen in Rumänien und Bulgarien als wichtige Drehscheiben im Krieg gegen den Irak.

Unabhängigkeit wird nicht toleriert. Obwohl sie sich der "Koalition der Willigen" unterwürfig anschlossen, wurden mehrere Länder von der Bush-Regierung harsch zurechtgewiesen, weil sie sich der Forderung der EU angeschlossen hatten, dass die Vereinigten Staaten die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs für ihre Militärangehörigen anerkennen müssten. Die Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und den neuen NATO-Mitgliedern zeigte sich exemplarisch in der Aussage eines hochrangigen lettischen Diplomaten, der der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im Dezember 2003 mitteilte, Washington drohe mit der Zurückhaltung von 2,7 Millionen Dollar, die zur Finanzierung der lettischen Truppen im Irak vorgesehen und versprochen waren, weil der baltische Staat gefordert hatte, dass die Vereinigten Staaten die Autorität des Internationalen Gerichtshofs anerkennen sollten.

Was die europäischen Mächten betrifft, so behandeln sie ihre Nachbarn im Osten nicht unbedingt respektvoller. Im vergangenen Jahr wies der französische Präsident Jacques Chirac die EU-Mitgliedskandidaten Rumänien und Bulgarien scharf zurecht, weil sie sich in der Irakfrage auf die amerikanische Seite gestellt hatten. Sie hätten, so Chirac, eine gute Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten.

Für Frankreich und Deutschland bedeutet die Aufnahme so vieler proamerikanischer Länder in die NATO, dass ihre Position in der Allianz weiter geschwächt wird. Paris und Berlin sind sich der Tatsache bewusst, dass die Vereinigten Staaten ihren Einfluss auf die neuen Mitglieder nutzen werden, um ihr Gewicht innerhalb der NATO zu erhöhen und jede Kritik an der US-Außenpolitik zum Verstummen zu bringen. Amerikanische Strategen können davon ausgehen, dass jeder Versuch Frankreichs und Deutschlands, eine unabhängigere europäische Streitmacht aufzubauen - insbesondere eine, die möglicherweise eine Zusammenarbeit mit Russland in Betracht zieht -, bei den Marionetten Washingtons in Osteuropa heftige und feindselige Reaktionen auslöst.

Der atlantische Graben

Über den größten Teil der Nachkriegsperiode hinweg versuchten die europäischen Mächte ihre relative Schwäche gegenüber den Vereinigten Staaten zu überwinden, indem sie einen europäischen Binnenmarkt, eine gemeinsame Währung und einen Handelsblock schufen. Dieser Prozess wurde von Amerika weitgehend unterstützt, da man sich auf der anderen Seite des Atlantiks ein stabiles Westeuropa als Bollwerk gegen die Sowjetunion wünschte.

Trotz gewisser Streitereien waren die europäischen Mächte und Amerika während des Kalten Krieges durch ihre gemeinsame Feindschaft gegenüber der UdSSR in der Lage, ihre gegensätzlichen Interessen miteinander zu vereinbaren. Das nordatlantische Militärbündnis NATO - eine starke, bindende, unter Führung der Vereinigten Staaten stehende und imperialistische Länder vereinigende Militärorganisation - war ein wesentlicher Ausdruck dieser Entwicklung.

Doch obwohl die NATO als antisowjetische Allianz gegründet wurde, war sie nie so rege, wie seit der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991. In den darauf folgenden Jahren beteiligte sich die NATO aktiv an einer Reihe von militärischen Operationen, und mit ihrer Präsenz in Afghanistan ist sie inzwischen auch in Gebieten im Einsatz, die früher ganz klar nicht zu ihrem Aktionsradius zählten.

Die Auflösung der UdSSR führte zu einem Machtvakuum in der Region, die zuvor unter der Kontrolle der Kremlbürokratie gestanden hatte, und hieraus ergaben sich neue Aussichten für den Weltkapitalismus. Den großen westlichen Unternehmen und Banken wurde eine Goldgrube aufgetan, und gemeinsam mit den ehemaligen stalinistischen Eliten und kriminellen Elementen haben sie die Gebiete im vergangenen Jahrzehnt ausgeplündert. Gleichzeitig schuf die Liquidierung der Sowjetunion auch die Bedingungen für das Wiederaufleben innerimperialistischer Konflikte, die Nachkriegsinstitutionen wie die NATO einzudämmen versucht hatten.

In den neunziger Jahren vertrat die NATO die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen ihrer wichtigsten Mitglieder in den Regionen, die dem Imperialismus zuvor verschlossen gewesen waren - ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Bombardierung Serbiens im Jahre 1999. Aber die Positionen der NATO-Mächte drifteten in erster Linie aufgrund des wachsenden Unilateralismus und der Kriegstreiberei der Vereinigten Staaten zunehmend auseinander, wobei sich Washington auf der einen Seite und die schwächeren Mächte Frankreich und Deutschland auf der anderen Seite befinden.

Von zentraler Bedeutung ist in diesem Machtkampf die Kontrolle über die enormen Öl- und Gasreserven, die sich im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralasien befinden. Im Jahre 1997 hatte Zbigniew Brzezinski, der ehemalige Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, einen Artikel mit dem Titel "Eine Geostrategie für Asien" veröffentlicht, in dem er eines der wichtigsten Ziele der amerikanischen Außenpolitik in der derzeitigen Periode darlegte.

"Amerikas Herausbildung zur einzigen globalen Supermacht", schrieb Brzezinski, "verlangt nun nach einer einheitlichen und umfassenden Strategie für Eurasien". Diese Aufgabe beinhalte die Ausweitung einer "wohlwollenden amerikanischen Hegemonie" über die schwächeren europäischen Mächte, die die Dominanz der Vereinigten Staaten über den Kontinent stützen würden und im Gegenzug eine untergeordnete Rolle spielen dürften.

Die NATO würde beibehalten, so Brzezinski, und als bereits existierende Struktur des "politischen Einflusses und der militärischen Macht Amerikas auf dem eurasischen Festland" dienen. Sie müsse ausgeweitet werden und die ehemaligen stalinistischen Staaten umschließen, um somit die Stellung der Vereinigten Staaten zu stärken.

Brzezinski schlug ebenfalls vor, die NATO einzusetzen, um eine Ostexpansion der europäischen Mächte durch eine gleichzeitige Erweiterung der Allianz unter Kontrolle zu halten: "Ein erweitertes Europa und eine vergrößerte NATO werden den kurzfristigen und langfristigen Interessen der amerikanischen Politik dienen. Ein größeres Europa wird die Reichweite des amerikanischen Einflusses ausdehnen, ohne dass gleichzeitig ein Europa entsteht, das politisch so geeint ist, dass es die Vereinigten Staaten herausfordern könnte."

Diese Taktik - jede Ausweitung der europäischen Einheit zu unterlaufen, die dazu führen könnte, die Errichtung amerikanischer Hegemonie über Eurasien in Frage zu stellen - erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt vor dem Beginn des Irakkriegs mit der Spaltung zwischen dem "alten Europa" und dem "neuen Europa". Hinter Washington sammelten sich die vehementesten NATO-Befürworter unter den EU-Staaten, allen voran Großbritannien, mit einer Schar von proamerikanischen NATO- und EU-Beitrittkandidaten aus Zentral- und Osteuropa, die lautstark ihre Unterstützung für den Krieg kundtaten. Die Vereinigten Staaten waren in der Lage, ihren Einfluss auf dem Kontinent zu nutzen, um die französisch-deutschen Versuche zu vereiteln, den Interessen des europäischen Kapitals im Kampf um die Kontrolle über den Mittleren Osten Nachdruck zu verleihen.

Die NATO ist mehr als sie es im Kalten Krieg je war zu einem Instrument geworden, mit dem die Vereinigten Staaten aggressiv ihre Macht über Europa ausüben. Wie haben die kontinentaleuropäischen Mächte darauf reagiert?

Frankreich und Deutschland haben in beschränktem Maße versucht, die existierenden Strukturen der wirtschaftlichen Integration Europas um eine militärische Komponente zu erweitern. Sie erhoffen sich hierdurch die Interessen des in Europa ansässigen Kapitals aggressiver in den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten vertreten zu können. Es war vorgesehen, diese Aufrüstung unabhängig von den amerikanisch dominierten NATO-Strukturen durchzuführen, doch dies hat sich bereits als ein äußerst schwieriges Unterfangen erwiesen.

Der ehemalige französische Präsident Mitterrand und der frühere deutsche Kanzler Kohl versuchten vorsichtig eine europäische Verteidigungsorganisation aufzubauen. 1991 legte der Maastrichter Vertrag der EU den Grundstein für ein gemeinsames europäisches Verteidigungssystem. Seit dieser Zeit herrscht innerhalb der EU ein Kampf über die Einigung auf ein europäisches Militärprojekt, wobei sich Großbritannien wiederholt dafür eingesetzt hat, eine Abwendung von der NATO zu verhindern.

Nach dem Krieg gegen Serbien beklagten viele europäische Kommentatoren, dass die EU immer noch auf amerikanische Streitkräfte angewiesen sei, um Probleme in ihrem eigenen "Hinterhof" zu klären. Im Jahre 2000 schlugen die europäischen Verteidigungsminister die Einrichtung einer 60.000 Mann starken europäischen Schnellen Eingreiftruppe vor. Die EU-Mächte haben sich allerdings bis heute nicht auf die Rolle einigen können, die diese Truppe in Bezug zur NATO einnehmen soll.

Dieser Kampf wurde zuletzt über den Entwurf für eine Verfassung der Europäischen Union ausgespielt, mit der die existierenden wirtschaftlichen Strukturen der EU gefestigt sowie eine neue militärische Kommandostruktur und ein Sicherheitsapparat geschaffen werden sollen. Auf Grundlage dieses Dokuments sollen neue Institutionen der EU eingerichtet werden, die in der Lage sind außenpolitische Entscheidungen zu treffen, ein neuer europäischer Außenminister soll eingesetzt werden und ebenso vorgesehen ist eine "gemeinsame Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann".

Wieder einmal setzt Washington seine Alliierten in der Region ein, hier vor allem Großbritannien, um das europäische Militärprojekt frühzeitig zu verhindern. Teile der herrschenden Klasse Amerikas und Großbritanniens hoffen, Schritte sabotieren zu können, die eine europäische Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten fördern, und haben daher den britischen Premierminister Tony Blair gezwungen, ein Referendum über die EU-Verfassung durchzuführen. Selbst wenn die europäische Verfassung von allen EU-Mitgliedsstaaten ratifiziert würde, werden die proamerikanischen Länder - allen voran Großbritannien, Kopf des "neuen Europas" - dafür sorgen, dass jede europäische Militärtruppe schwach bleibt, die der NATO Konkurrenz zu machen droht.

Wenn eine unabhängige europäische Militärmacht eingerichtet werden sollte, wird sie vermutlich von einem "Kern" von EU-Ländern getragen und hauptsächlich aus französischen und deutschen Streitkräften bestehen, ohne Beteiligung der engsten Verbündeten Washingtons. In jedem Fall werden die Vereinigten Staaten versuchen, ihre Rolle als wichtigste Macht in Europa und die der NATO als größter Militärstruktur des Kontinents sicherzustellen.

Anhaltende Abhängigkeit von Amerika

Daher liegt die EU-Militärpolitik mehr oder weniger in Scherben. Da die ambitionierten Pläne Frankreichs und Deutschlands, eine von der NATO unabhängige Militärstruktur zu etablieren, nicht von der Stelle kommen, haben sie sich dazu entschlossen, gemeinsam mit Großbritannien bis zum Jahre 2007 ein halbes Dutzend 1.500 Mann starke europäische "Kampfgruppen" einzurichten, die in Gegenden zum Einsatz kommen sollen, die außerhalb der Interessenzonen Amerikas und der NATO liegen, so z.B. in Afrika.

Neben Amerikas überwältigender militärischer Überlegenheit, mit der die Rivalen eingeschüchtert und umworben werden, gibt es zwei weitere wichtige Gründe, warum die europäischen Mächte nicht in der Lage sind, sich vom Rockzipfel der NATO zu lösen.

Erstens schaut das in Europa ansässige Kapital auf den amerikanischen Imperialismus in der Erwartung, dass er alle Gebiete der Welt aufbrechen und zur rücksichtslosen Ausplünderung freigeben wird. Dies zeigte sich in den neunziger Jahren im ehemaligen Jugoslawien, als sich die Europäer mit den Vereinigten Staaten zusammentaten, um das Land auseinander zu brechen, und schließlich Serbien in die Kapitulation bombardierten. Als George W. Bush den Beginn eines "Kriegs gegen den Terrorismus" verkündete - ein Euphemismus für neokoloniales Abenteurertum auf dem ganzen Planeten -, sprang jedes Land in Europa begeistert auf den Zug auf, weil sie alle begriffen, dass die Anschläge vom 11. September eine Gelegenheit geschaffen hatten, um im Schatten des amerikanischen Ansturms ihre eigenen Interessen aggressiv zu verfolgen.

Auch wenn die britische Bourgeoisie enger an den amerikanischen Militarismus gebunden ist, sind ihre deutschen und französischen Gegenspieler doch nicht abgeneigt herauszufinden, was beim Beutezug des amerikanischen Neokolonialismus für sie abfallen könnte. Im Oktober 2003, nur wenige Monate nachdem Chirac und Schröder die US-Invasion im Irak kritisiert hatten, unterzeichneten die beiden Länder eine UN-Resolution, mit der den Vereinigten Staaten als Besatzungsmacht die Kontrolle über den Irak übertragen wurde. Die Bourgeoisie in Frankreich und Deutschland ist weiterhin gespalten über die Aussicht, kurzfristig gewisse Vorteile aus der Besatzung des Irak zu ziehen, und die Einsicht, dass die Vereinigten Staaten ihre Hegemonie in direktem Gegensatz zu den europäischen Interessen ausbauen.

Der zweite Grund, warum sich die europäische Bourgeoisie weiterhin dem US-Imperialismus andient, liegt darin, dass sie sich selbst zu Hause mit einer höchst instabilen sozialen Situation konfrontiert sieht. Die antisoziale Politik der EU und ihrer Mitgliedstaaten, die gegen die Arbeiterklasse gerichtet ist, hat in Verbindung mit den massiven Antikriegsstimmungen in der Bevölkerung eine Situation geschaffen, in der sich die europäische Elite gefährlich ausgeliefert fühlt. Nach dem Auftreten der weltweiten Antikriegsbewegung zu Beginn des Jahres 2003 wurden sich die europäischen Regierungen schlagartig bewusst, dass jede Konfrontation mit Amerika eine weitere Massenbewegung der Arbeiterklasse in Gang setzen und ihr eigenes Überleben gefährden könnte.

Zudem wäre ein Scheitern der US-Besatzung im Irak aufgrund einer rebellischen Bevölkerung auch eine Niederlage des Weltimperialismus und ein herber Rückschlag für die europäischen Ambitionen, schwächere Länder ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Im September 2003 gab Kanzler Schröder in einer Rede vor der UN-Generalversammlung der US-Besatzung im Irak seinen Segen und betonte, dass eine deutsche Unterstützung bei der Besatzung in Washingtons Interesse läge. "Neue Bedrohungen, die von keinem Staat in der Welt bezwungen werden können, verlangen mehr denn je nach internationaler Zusammenarbeit", sagte er, bevor er humanitäre, technische und ökonomische Hilfe und Unterstützung bei der Ausbildung von irakischen Polizisten und Offizieren anbot.

Präsident Chirac war ebenfalls über die Aussicht einer drohenden Rebellion der Bevölkerung gegen die Vereinigten Staaten im Irak besorgt. Auch er bot den Besatzern Hilfe an und erklärte, Frankreich wolle "sehr, dass die Amerikaner Erfolg haben".

Diese Haltung setzte sich in der UN-Debatte um die Einsetzung einer irakischen Übergangsregierung fort. Paris und Berlin boten den Vereinigten Staaten ihren Rat an, wie der Übergabe von "Souveränität" an das handverlesene Marionettenregime ein Hauch von Glaubwürdigkeit verliehen werden könnte. Nichtsdestotrotz werden die europäischen Mächte auch weiter nach Gelegenheiten Ausschau halten, um wann und wo immer möglich ihre eigenen Einflusssphären abzustecken. Unweigerlich werden hieraus Konflikte untereinander und mit ihrem großen Rivalen jenseits des Atlantiks entstehen.

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