Der Beitritt von zehn Mittel- und Osteuropäischen Staaten zur EU am ersten Mai wird die soziale Krise in diesen Ländern und auch in der jetzigen EU weiter verschärfen. Dabei trifft es gerade in Osteuropa die Bevölkerung, die bereits einen enormen Anstieg von Armut und Arbeitslosigkeit, Lohnsenkungen und sozialen Kahlschlag ertragen musste, um die Beitrittskriterien zu erfüllen.
Die Einführung marktwirtschaftlicher Verhältnisse, die Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe und radikale Sparmaßnahmen im sozialen Bereich haben überall zu verheerenden Verhältnissen geführt.
Die Löhne in den Beitrittsländern sind derzeit fünf bis acht Mal niedriger als in der EU. Das durchschnittliche Bruttoinlandprodukt pro Einwohner der jetzigen EU-Staaten (24.250 Euro) ist wesentlich höher als beispielsweise in Ungarn (7.080 Euro) oder Lettland (3.740 Euro).
Die Arbeitslosigkeit, Hauptursache von Armut, stieg in den letzten 15 Jahren in den Beitrittsländern rasant an. In Tschechien kletterte sie beispielsweise von 0,7 Prozent im Jahr 1990 auf 6,5 Prozent im Jahr 1998 und liegt jetzt bei knapp 11 Prozent. Im Durchschnitt liegt sie doppelt so hoch wie in der EU.
Dabei sagen diese Zahlen noch nicht allzu viel aus, da es starke regionale Unterschiede gibt. In der 60 Kilometer von Wien entfernten slowakischen Hauptstadt Bratislava beispielsweise liegt die Arbeitslosigkeit bei etwa 4 Prozent. 200 Kilometer weiter östlich, in den ländlichen Gebieten dagegen bei teilweise bis zu 60 Prozent. Der Landesdurchschnitt liegt bei 16,6 Prozent. Ein ähnliches Gefälle gibt es in Ungarn. Die Arbeitslosenquote ist in Budapest minimal, während sie in anderen Regionen 40-50 Prozent beträgt. Besonders die Arbeitslosigkeit der unter 25-Jährigen nimmt ständig zu. In einigen Regionen hat diese 45 bis 50 Prozent erreicht.
Der beispiellose soziale Niedergang lässt sich in allen Bereichen nachvollziehen. Die Sterberate von Kindern und Jugendlichen stieg in Polen und Ungarn um über 5 Prozent gegenüber Ende der 80er Jahre. 50 Prozent der ungarischen Bevölkerung lebt zum jetzigen Zeitpunkt erwiesenermaßen schlechter als vor zehn Jahren.
Gleichzeitig gilt Osteuropa mittlerweile als ein Paradies für westeuropäische Unternehmen. Um ausländisches Kapital anzuziehen, wurden in den vergangenen Jahren die Steuern für Unternehmen drastisch reduziert. In Tschechien gilt eine Senkung des Steuersatzes um 7 Prozent auf 24 Prozent als beschlossen. Die Slowakei hat, wie Polen zuvor, in diesem Jahr einen einheitlichen Steuersatz von 19 Prozent eingeführt. Er gilt für den einfachen Arbeiter, für den Multimillionär und für Unternehmen. Im letzten Jahr wurden hohe Privateinkommen noch mit bis zu 38 Prozent besteuert. Auch in Ungarn liegt der Steuersatz unter 20 Prozent und zudem lockt das Land Unternehmen mit jahrelanger Steuerfreiheit.
Die baltischen Staaten haben für Investitionswillige noch bessere Bedingungen geschaffen. In Lettland, dem ärmsten Beitrittsland, wurden mehrere Sonderzonen eingerichtet, in denen Steuererleichterungen von über 80 Prozent angeboten werden. Estland hat Unternehmensgewinne vollständig von Steuern befreit.
Wegen den niedrigen Steuern und einem riesigen Lohngefälle verlagern immer mehr Konzerne ihre Produktion nach Osteuropa. Die Slowakei, so wird prognostiziert, wird in wenigen Jahren gemessen an der Bevölkerungszahl zum größten Automobilhersteller der Welt werden. Auch der Dienstleistungs- und IT-Bereich wird verlegt. Das Logistikunternehmen DHL beispielsweise plant ein Projekt in Tschechien mit einem Volumen von 500 Mio. Euro. Im Gegenzug sollen Standorte in Großbritannien abgebaut werden. Die Anzahl von Call-Centern soll in Tschechien in den nächsten Jahren um 70 Prozent steigen.
Die wirtschaftsfreundlichen Bedingungen von heute wurden in den 90er Jahren zumeist von den ehemaligen stalinistischen Bürokraten, die sich zu den eifrigsten Verfechtern des Kapitalismus mauserten, geschaffen.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Politik der sozial-liberalen Regierung in Ungarn Mitte der 90er Jahre. Das so genannte "Bokros-Paket", benannt nach dem damaligen Finanzminister, sorgte durch drastische Kürzungen bei Renten, Gesundheit und Bildung und einer radikalen Abwertung der Währung für einen Reallohnverlust von zehn Prozent. Parallel dazu wurde im Rekordtempo die staatliche Industrie privatisiert und ein Heer von Arbeitslosen geschaffen.
Ein ehemaliger Produktionsdirektor des Phillips-Konzern erinnerte sich gegenüber einem Industriellenmagazin zufrieden an diese Jahre zurück. "Wir wollten das zuerst gar nicht glauben", schwärmte er, "wir haben gerechnet und gerechnet. Plötzlich waren wir wieder mit asiatischen Standorten konkurrenzfähig."
Phillips verlegte in den 90er Jahren die Produktion immer mehr nach Ungarn, wo die Löhne etwa fünf Mal niedriger sind als in westeuropäischen Ländern. Seit 2001 lässt der Konzern noch weiter östlich, in der Ukraine, zu noch geringeren Kosten produzieren.
Dasselbe taten viele Unternehmen in Westeuropa, wie z.B. Siemens, das vor kurzem die Verlagerung von 5.000 bis 10.000 Stellen in osteuropäische Billiglohnländer ankündigte.
Um internationales Kapital anzuziehen hat bereits ein regelrechter Wettkampf um die niedrigsten Steuern begonnen, in den sich nun auch westeuropäische Länder eingeschaltet haben. Österreich, das ohnehin schon seit Jahren die niedrigsten Steuern auf Vermögen in der EU erhebt, hat für 2005 eine Steuerreform beschlossen, bei der die Körperschaftssteuer von 34 auf 25 Prozent sinkt und bei der noch weitere Erleichterungen für Investoren zum Tragen kommen.
In diesem Zusammenhang warnen Steuerexperten bereits davor, dass die Ausfälle, die durch diese Reform entstehen, nicht mehr durch den radikalen Sparkurs ausgeglichen werden können, den Wien in den letzten Jahren der Bevölkerung zugemutet hat. Es werden große Löcher im Staatshaushalt entstehen.
Diese Situation ist in den Beitrittsländern zum Teil bereits erreicht. Dort bergen nach Ansicht von Ökonomen vor allem die Defizite im Haushalt und im Außenhandel das Potenzial für Wirtschaftskrisen. Im vergangenen Jahr erreichte beispielsweise das Haushaltdefizit Estlands fast 15 Prozent. Das ist fünf Mal soviel wie 2001 in Argentinien, bevor dort die Finanzkrise ausbrach. In Ungarn kam in diesem Jahr der Forint wegen des ansteigenden Staatsdefizits bereits unter Druck. Das Außenhandeldefizit erreichte dort bereits 58 Prozent. In Lettland liegt es bei 64 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Entgegen allen Äußerungen aus Brüssel wird sich mit dem Beitritt im Mai die Situation für die osteuropäischen Arbeiter nicht bessern. Sämtliche Statistiken sehen das Gefälle zwischen Ost und West auf mindestens zehn Jahre hinaus bestehen. Auch die "Reformen" sind mit den Beitritt noch nicht beendet. Die sozialistische Regierung Tschechiens erklärte letzte Woche, es seien weitere Einschnitte bei Gesundheit und Rente notwendig. Bei dem jetzigen Stand dieser Sozialsysteme kommt das vermutlich einer weit gehenden Privatisierung gleich.
Eher werden die Bedingungen in Westeuropa den Beitrittsländern angepasst. Noch umfassendere Angriffe auf Löhne und Sozialstandards werden gefordert, um "konkurrenzfähig" zu bleiben. Anfang des Jahres schlug das Münchner ifo-Institut bereits eine Absenkung der Löhne in Ostdeutschland vor, da nach der Erweiterung die Fördergelder aus Brüssel weniger werden und eine Steigerung der Arbeitslosenzahl droht.
Wie der Spiegel jüngst berichtete, legte jetzt eine Regierungskommission - bestehend aus einer Reihe von Wirtschaftsvertretern unter der Führung des ehemaligen Treuhandberaters Klaus von Dohnanyi - ein Konzept vor, dass die Errichtung von Sonderwirtschaftszonen in Ostdeutschland vorsieht. Diese sollen Deutschland "Chancengleichheit" gegenüber Ländern wie Polen, Ungarn und anderen bringen, in denen diese bereits existieren. Zentrale Punkte sind Steuerbefreiungen für Unternehmen, die Deregulierung des Arbeits- und Umweltrechts und die Konzentration der Förderung auf "Wirtschaftskerne" - was bedeutet, dass außerhalb dieser Zonen nicht mehr gefördert wird.
Von den etablierten Parteien in Osteuropa tritt keine für die Belange der breiten Bevölkerung ein. Meist hat diese nur die Wahl zwischen rücksichtslos wirtschaftsliberalen und rückwärtsgewandten nationalistischen Kräften, welche die berechtigte Empörung in reaktionäre Kanäle lenken.
Daraus ist eine politisch recht instabile Lage entstanden. In Ungarn wurde jede Regierung seit 1991 in der nächsten Wahl wieder abgewählt. In Polen spaltete sich kürzlich die Regierungspartei und liegt in Umfragen bei nicht einmal 10 Prozent. In Lettland ist derzeit bereits die zwölfte Regierung seit 1991 im Amt. Und in Litauen wurde Regierungschef Paksas wegen seiner Kontakte zur Mafia soeben des Amtes enthoben.
Die fortschreitende soziale Krise in den Beitrittsländern beinhaltet ein großes Konfliktpotenzial in sich, wie sich in den Unruhen in der Slowakei im Februar zeigte. Im Zuge der europaweiten Demonstrationen gegen Sozialabbau am 3. April kam es auch in osteuropäischen Städten zu Protesten.
Eine fortschrittliche Einigung Europas ist nur in Form Vereinigter Sozialistischer Staaten möglich. Die EU führt die Erweiterung im Interesse der europäischen Finanzelite durch, die in den Beitrittsländern ein Reservoir billiger Arbeitskräfte und neue Absatzmärkte sieht. Gleichzeitig wird versucht in Westeuropa ein ähnliches Niveau bei Löhnen und Sozialstandards zu erreichen.
Mit dem Erweiterungsprozess vertiefen sich nicht nur die sozialen Gegensätze. Auch die Konflikte zwischen den europäischen Mächten und zwischen Europa und den USA werden sich verschärfen. Die von der amerikanischen Regierung vollzogene Aufteilung in ein "altes" und ein "neues" Europa, die mit der Zustimmung zum Irakkrieg verbunden war, und die Konflikte über die Schaffung einer gemeinsamen EU-Verfassung zeigen das deutlich.